War’s das mit der Normalisierung? Was bei Corona jetzt passieren muss

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 508

Armin Thurnher
am 30.08.2021

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Klare Worte von Epidemiologen Robert Zangerle im ersten Teil eines Zweiteilers zu dem, was man ruhig „Impfkrise“ nennen kann. Schuld daran ist die Politik, die nur ihren augenblicklichen Profit im Auge hat und kein gesellschaftliches Gespräch zusammenbringt. Österreich ist damit nicht allein, zögert aber dennoch mit dem, was jetzt passieren muss. A. T.

»„Die Krise redimensioniert sich. Sie wandelt sich von einer akuten gesamtgesellschaftlichen Herausforderung zu einem individuellen medizinischen Problem“, sagte der Regierungschef bei einem Videogespräch mit der Kleinen Zeitung und den anderen Bundesländerzeitungen. Der Zweck dieses politischen Spins ist die Abwälzung sämtlicher Verantwortung. Gefüttert wird er mit Verzerrungen, z.B. „Fünfeinhalb Millionen sind geimpft, darunter neunzig Prozent der über Achtzigjährigen, also der am meisten gefährdeten. Bald werden auch fast alle über 65 immunisiert sein.“ So stand es in dieser Kolumne am 12. Juli. Sieben Wochen später ist die Zahl fast erreicht, aber von den über 65-Jährigen sind am 29. August erst 83,1% geimpft. Inzwischen ist sogar der optimistische Gesundheitsminister Wolfgang Mückstein mit dem Impffortschritt „nicht zufrieden“ und antwortet auf die Frage, ob es im Herbst einen Lockdown geben könnte: „Wir versuchen alles zu tun, damit es keine Lockdowns und Schulschließungen mehr geben muss. Wenn wir die Durchimpfungsrate weiter erhöhen und anlassbezogen in einzelnen Bereichen nachschärfen, bin ich optimistisch, dass wir das auch schaffen können.“ Kennt Minister Mückstein überhaupt den „Impffortschritt in den letzten 30 Tagen“? In dieser Zeitspanne wurden Erstimpfungen im Ausmaß zwischen einem mageren einzigen Prozent im Bezirk Schwaz und 3,5% im Wiener Bezirk Simmering durchgeführt. In der folgenden Tabelle finden Sie die 79 politischen Bezirke, 14 Statutarstädte und 23 Wiener Gemeindebezirke (= 1 Statutarstadt) geordnet nach ihren Impfraten (Teilimmunisierung). Der Unterschied zwischen der höchsten Impfrate im Bezirk Mistelbach mit 71,3% und der geringsten Impfrate in Braunau am Inn mit 49,5% ist beträchtlich. Österreichweit ist die Impfrate angesichts der Virusvariante Delta besorgniserregend niedrig. Zur Erinnerung: die Virusvariante Delta wurde Ende Juni in Österreich dominant, und man wusste aus Großbritannien, was auf uns zukommt. Deshalb meine Ablehnung der „Lockerungen“ ab 1. Juli.

Glasklar ist jetzt aber auch, dass wir in den nächsten 2-3 Monaten weit an einer Impfrate vorbeitrudeln, die eine Verbreitung von Krankheit durch Covid „erträglich“ halten würde. Ganz offensichtlich gibt es bereits jetzt im Aufbau der „4. Welle“ einen Zusammenhang zwischen tiefen Impfraten und hohen Inzidenzen. Besonders eindrucksvoll kann man das an den 23 Wiener Bezirken zeigen. Die niedrigste 7-Tagesinzidenz zeigen die Bezirke Josefstadt mit 45,1 Fällen pro 100 000 in sieben Tagen (Impfrate 66,2%) und Hietzing mit einer 7-Tagesinzidenz von 55,7 (Impfrate 67%), die höchste 7-Tagesinzidenz findet sich im Bezirk Rudolfsheim-Fünfhaus mit 216,7, nur knapp darunter Simmering (200,9) und Favoriten (191,4), die Impfraten für diese Bezirke lagen bei 54,4%, 54,3% und 52,1%.

Eine gute Gelegenheit, den Begriff „Korrelation“ zu erwähnen und auf eine (Simplizität)-Falle aufmerksam zu machen, in die man nicht hineinstolpern sollte. In den Wiener Bezirken korreliert die Impfrate, wie man oben sieht, ganz hervorragend mit der 7-Tagesinzidenz. Trotzdem ist eine niedrige Impfrate nicht alleine ursächlich (monokausal) für die hohe 7-Tagesinzidenz, vielmehr sind beide Größen, also Impfrate wie auch 7-Tagesinzidenz, Folgen der selben Faktoren. Komplexe sozioökonomische, kulturelle und andere Faktoren definieren unsere Health Literacy und bilden somit die Grundlage, von der aus eine niedrige oder höhere Impfrate zustande kommt, was mit dem Risiko einer Ansteckung assoziiert ist. Also was jetzt? Führt eine niedere Impfrate nun zu einer höheren Zahl von Ansteckungen, oder nicht? Um das besser zu verstehen, ein Kunstgriff: korreliert man Impfraten mit der Lebenserwartung bei der Geburt im Jahr 2020, kann man diese komplexen Faktoren ebenfalls veranschaulichen.

Tatsächlich korreliert die Impfrate mit der Lebenserwartung in den Wiener Bezirken, wie sie von der Statistik Austria berechnet wird. Der Ausreißer nach oben ist Wien Innere Stadt. Es wird aber niemand ernsten Sinnes behaupten, dass eine Impfrate von 55% gegenüber 65% zu so einer wesentlichen Verkürzung der Lebenserwartung führt. Korrelation ist eben nicht Kausalität! Obwohl es, und das steht ausser Zweifel, einige das Leben kosten wird, sich nicht impfen zu lassen. Nun scheint sich die Grundlage für die Impfkampagnen zu rächen. Sie waren bis zum Überdruss politisiert. Immer die nächsten Wahlen im Augenwinkel, kümmerte man sich vorrangig um die „Impfwilligen“. Das ist nicht Public Health. Das Ansprechen von Menschen in unterschiedlichen Lebenswelten gehört zum kleinen Einmaleins sämtlicher Impfkampagnen, egal wo. Tonangebend waren bei uns aber immer technokratisch orientierte Krisenmanager und Marketingfachleute, offensichtlich mit großem Ohr für die Politik. Charakteristisch dafür war auch, wie Initiativen von Ärzten, gemeindenah öffentliche Lösungen (im Sinne von kleinen Impfstrassen) zu verwirklichen, eher torpediert, jedenfalls kaum jemals unterstützt wurden. Solche Beispiele gab es nicht nur in Tirol oder Niederösterreich . Ein schwerwiegender Fehler unserer Politik, die dann unter Druck kam, ihre „Monster“-zentren aus Kostengründen schließen zu müssen. Das passierte überall, in Vorarlberg und Niederösterreich nahezu vollständig und geradezu handstreichartig. Eine Durchflutung der Gesellschaft mit Diskussion über die Impfung fand nicht statt, mehr als ein öffentliches Hinaushängen von Standpunkten gab es nicht. Mein Schwafeln von einer Graswurzelbewegung für die Impfung war zwar gut gemeint, aber eben nicht treffsicher. Zusätzlich muss man einräumen, dass beinhart technokratisches Vorgehen auch wirksam sein kann, am besten illustriert am Beispiel Frankreichs, demLand der Impfmuffel . Dort wurden Mitte Juli wichtige Entscheidungen getroffen (z.B. Impfpflicht für Gesundheitspersonal), sodass in Folge Frankreich sich auf die Überholspur begab. Am 12. Juli hielt Präsident Emmanuel Macron eine viel beachtete Rede, in der er eine Impfpflicht für alle Menschen ankündigte, die in Krankenhäusern arbeiten oder die in Altenheimen oder zu Hause Menschen pflegen,. Und dass ab 1. August der „Pass sanitaire“, in dem der Impfstatus erfasst wird, auch in Restaurants, Einkaufszentren und in Langstreckenzügen vorgezeigt werden muss. Knapp eine Million Franzosen vereinbarten in der darauffolgenden Nacht einen Impftermin  .

Als mildernde Umstände für Österreich könnte man anführen, dass dies gar nicht spezifisch für Österreich ist, sondern sogar der Vorreiter Israel zum Sorgenkind wurde. Dort gibt es etwa eine Million Menschen, die bisher keine Impfung haben wollten. Es sind vor allem ultraorthodoxe Juden und arabische Israelis, die zusammen etwas mehr als ein Drittel der Bevölkerung ausmachen. Aber genau diese Gruppen treffen sich häufig zu Massenveranstaltungen. In der Schweiz, in Österreich vermutlich nicht viel anders, sprach man erst hinter vorgehaltener Hand, aber inzwischen ganz offiziell, via Bundesamt für Gesundheit , über den zuletzt hohen Anteil an Reiserückkehrern unter den Hospitalisierten, nämlich 40%, von denen wiederum 80% aus Südosteuropa. Österreichs Daten zu Krankenhausaufnahmen von Covid Patienten sind mehr oder weniger „unvollständig“, die Bundesländer wollen sich nicht in ihre Karten schauen lassen und ziehen das seit März 2020 einfach durch. Also reden wir von der Schweiz: Die Schweiz, eigentlich kein Land der Impfmuffel, entpuppt sich dennoch gegenüber der Covid Impfung als solches. Zuletzt verzeichnet die Schweiz wieder einen leichten Anstieg an Impfungen, jedoch einen gegenüber dem massiven Anstieg an Fällen und Krankenhausaufnahmen völlig unzureichenden. Wieso macht das die Schweiz so schlecht? Auf den Intensivstationen dort findet man im Augenblick (noch?) nicht vorwiegend grün-alternative oder stockkonservative Maßnahmengegner oder gar Corona-Leugner, sondern zum großen Teil Personen mit Migrationshintergrund. Leute, die neben Arbeit und Nebenjobs weder Zeit noch Energie aufbrachten, sich mit dem Impfprozedere zu befassen. Oder die die Impfung auf nach den Ferien im Herkunftsland verschoben. Andere haben schlicht nicht gemerkt, dass sie sich hätten impfen lassen sollen. Manche wollten sich nicht impfen lassen. In gewissen Fragen sind sie eine Parallelgesellschaft geblieben – in der Corona-Frage noch mehr. Österreich: In der Kalenderwoche 33, sie endete am 22. August, waren unter den 8077 Covid Fällen 41,8% die mit einem Aufenthalt im Ausland assoziiert waren, also auch Kontaktpersonen. Darunter hatten 66,5% einen Bezug zum Westbalkan. Ganz anders war dies im Juli, da dominierten EU-Länder, zuerst Spanien, später Kroatien. Wenn eine Pandemie zum dominierenden Thema wird, dann wird das auch politisch ausgeschlachtet. So machen denn auch Parteien immer wieder auf sich aufmerksam. Manche besonders unangenehm. Niemand hat die Freiheit, ohne Maske und ohne Impfung am beengten Arbeitsplatz oder im Klassenzimmer andere zu gefährden. Die Gefährdung anderer durch „Propagierung“ von Impf- oder Maskenverweigerung zum Programm einer Partei zu machen, ist widerlich. Mich erinnert das an die Radweltmeisterschaft 2018 in Innsbruck, wo Fans den damaligen Innenminister aufforderten, doch die Höttinger Höll nicht mit dem Ross, sondern mit dem Drahtesel zu „reiten“ .

Die extrem steile (28%) Höttinger Höll hat in der Radsportszene Kultstatus. Ein neuerlicher Aufruf „Ride to Höll“ scheint angebracht und brächte den Parteichef vielleicht auf andere Ideen, als auf Vitamine und Bitterstoffe in der Abwehr von Covid zu vertrauen. Trotzdem scheinen nicht wenige Mitglieder dieser Partei gegen Covid geimpft zu sein. Einer sagte ganz offen einer sehr bekannten Journalistin: „Den Shitstorm tue ich mir nicht an“. Dass der vormalige Parteichef sagte, er und seine Familie seien geimpft, hat ihm in der Partei nicht sonderlich gut getan. Diese Double Standards sind nicht ungewöhnlich, bei Covid gibt es prominente Beispiele: Fox News, ein US-amerikanischer Nachrichtensender fordert den Impfstatus aller seiner Mitarbeiter, Masken werden teils verordnet. Genauso wie regelmäßige Tests. In ihre Nachrichten hingegen macht Fox News verheerende Stimmung gegen die Covid-Impfung und das Tragen von Masken. Die Anhänger der Republikaner scheinen diese Double Standards nicht zu durchschauen. Es ist absolut unverständlich, wieso dem „politischen Arm“ der Impfskeptiker und Maßnahmenkritiker von Seiten der Regierung und des Bundespräsidenten so viel Milde, gar Verständnis, entgegen gebracht wird. Keine Milde gegenüber Brunnenvergiftern, die dürfen gerne ein wenig Druck spüren! Ebenso unverständlich bleibt auch, wieso es so still blieb um eine Anwendung der Paragraphen 178 oder 179 des Strafgesetzbuchs gegenüber Verantwortlichen von besonders die Gefahr einer Übertragung heraufbeschwörender Demonstrationen. Diese Paragraphen verfolgen ein abstraktes potentielles Gefährdungsdelikt, wo zur Verurteilung keine Ansteckung und keine konkrete Gefährdung notwendig sind, die typische Gefahr genügt. Zurück zur Epidemiologie: Grundregel der Öffnungen seit 19. Mai ist ein Sicherheitskonzept, das von Menschen fordert, von ihnen solle ein geringes epidemiologisches Risiko ausgehen: „geimpft, getestet, genesen“ (3-G-Regel). Da die Delta-Variante des Coronavirus jedoch besonders ansteckend ist, hätte es bereits früher eine Veränderung der GGG-Regeln gebraucht. Die Anerkennung der vollständigen Impfung als „geimpft“ wäre von Anfang anzustreben gewesen, nicht erst ab 15. August. Ebenso wären die strengeren Regeln, wie sie bei Eintrittstests in Wien gelten, unmittelbar in ganz Österreich umzusetzen. Konkret ist in Wien ein Antigen-Schnelltest, der in einer Teststraße oder in einer Apotheke durchgeführt wird, ab September nur mehr 24 statt bisher 48 Stunden verwendbar. Bei PCR-Tests wird die Frist von 72 auf 48 Stunden reduziert – in Wien, nicht in ganz Österreich! Plötzlich brandete eine Diskussion um eine 1-G-Regel auf, die vorwiegend unter dem Motto stand, dass man nur mit Impfung in die Disco kann.

Diese Diskussion verläuft aus epidemiologischer Sicht unglücklich. Eine 1-G-Regel hat aus epidemiologischer, immunologischer und virologischer Sicht keinen Sinn, wenn sie nicht auf irrelevante Aspekte eines Unterschieds zwischen Geimpften und Genesenen eingeht. Das ist eine akademische Diskussion, die nicht hilft. Die immunologischen Antworten durch Infektion oder Impfung unterscheiden sich und es ist müßig, von besser oder schlechter zu sprechen, solange das Virus sich verändert. Es ginge immer um eine 2-G-Regel, wobei das Genesen, außer in seltenen Einzelfällen, nicht von einer Antikörperbestimmung abhängig sein sollte. Das Problem bei der 3G Regel liegt woanders, und das ist bei der Virusvariante Delta besonders kritisch: Ein Superspreading kann unter einer Ansammlung von Nicht-Immunen viel leichter auftreten. Menschen, die nicht geimpft sind, sind bei Großveranstaltungen, in beengten und „gut gefüllten“ Räumen besonders gefährdet, selbst wenn alle sie Umgebenden ein negatives Testergebnis vorweisen können (aber weder geimpft noch genesen sind – also formal der 3-G-Regel Genüge tun). Verfassungsrechtsexperte Heinz Maier hält eine 1- oder 2-G-Regel für rechtlich möglich und auch geboten, um die Geimpften von Beschränkungen zu befreien. Auch eine Impfpflicht sei verfassungsrechtlich zulässig, wenn es notwendig sei, um eine größere Gefahr für die Gesundheit von Menschen abzuwenden. Auch die Virologin Dorothee von Laer von der Medizinischen Universität Innsbruck plädiert für eine Impfpflicht für „gewisse Bereiche“. So sollten Pädagoginnen und Pädagogen geimpft sein, auch für Gesundheitspersonal sei die verpflichtende Impfung „selbstverständlich“. Dem schließt sich die Seuchenkolumne gerne an, wie auch der früher hier bereits zitierten alternativen und sinnvolleren Bezeichnung der „Impfpflicht“ als „Berufsausübungserfordernis“ (©Christiane Druml). Derzeit darf nicht nur ungeimpftes, sondern sogar auch ungetestetes Gesundheitspersonal vulnerable und immungeschwächte Patienten betreuen. Das ist nicht in Ordnung. Zum Abschluss, ein kleine Wiederholung zur 3. Impfung
  • Wer eine Infektion gehabt hat, soll sich einmal impfen lassen, das genügt vorerst, in wenigen Monaten wissen wir mehr. Und nicht auf Antikörper starren!

  • Eine erweiterte Grundimmunisierung (3. Impfung) für (klar definierte) Immungeschwächte sollte umgehend erfolgen. Egal ob viel oder wenig Antikörper nachgewiesen werden. Eine Messung ist für die 3. Impfung nicht erforderlich. Das passiert derzeit in einem alles andere als wünschenswerten Ausmaß (löbliche Ausnahme, vermutlich an den meisten Orten: Dialyse)

  • Eine „Booster“-Impfung für alle Personen, deren Immunität „vermutlich“ abgenommen hat bzw. in Studien nicht optimal abgeschnitten hat. Im Prinzip sind das die Risikogruppen in Priorität 1 (Bewohnerinnen und Bewohner von Alten-, Pflege- und Seniorenwohnheimen, Personen im Alter von ≥ 80 Jahren) ebenfalls umgehend.

  • Wenn Österreich das erledigt hat, reden wir weiter.« R. Z.


Distance, hands, masks, be considerate! Ihr Armin Thurnher @arminthurnher thurnher@falter.at

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