Afghanistan als westliches Versagen und amerikanischer Neubeginn
Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 496
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Es gibt Augenblicke, da vergehen einem die Witze.
Der Blitzzusammenbruch Afghanistan lässt das moralische Hütchenspiel unserer Regierung als das aussehen, was es ist: bauernschlaues Falschspiel. Aber was ist das, verglichen mit der epochalen Bankrotterklärung des Westens, der sogenannten Wertegemeinschaft, der wir alle angehören, mehr oder weniger.
Natürlich ist es lächerlich, weit vom Schuss herumzuspekulieren, aber es ist auch unmöglich, sich diesem Drama zu entziehen. Wie viele andere verwirrt von der Lage und weit davon entfernt, vertrauenswürdige Informationen zu besitzen, hält man sich an Experten, die einem vom Fernsehen aufgetischt werden (der ORF hatte nicht die schlechtesten).
Deutschland am Hindukusch verteidigen, so hatten sich die Deutschen das nicht vorgestellt. Norbert Röttgen der außenpolitische Sprecher der CDU, bekannt für moralische Entschlossenheit seiner Statements, sprach traurig von einem Versagen der jetzigen amerikanischen Regierung und des Westens. Nie hätte man sich so schnell zurückziehen dürfen. Friedrich Orter, jahrzehntelang der Mann des ORF in diesen Weltgegenden, sprach gar von einem Komplott, einer gezielten Täuschung der Weltöffentlichkeit durch die USA. Die CIA könne nicht derart vom raschen Zusammenbruch des Regimes überrascht worden sein. Seine Mutmaßung schaffte es nicht weiter in die Nachrichten. Ganz unplausibel ist sie nicht.
Zwar versuchten die Amerikaner anfangs noch, mit ein paar B52-Einsatzen die Taliban aufzuhalten, trafen aber dabei wie stets auch zivile Ziele und hielten niemanden auf. Ohne Luftunterstützung löste sich die afghanische Armee in Luft auf.
Als sich die Nachrichtenlage überstürzte und danach, war in unseren Medien noch fortgesetzt Innenminister Nehammers zentrale Aussage zu Afghanistan zu lesen: „So lange abschieben, wie es geht“. Der Kanzler hat anderes zu tun, als die Katastrophe zu kommentieren, und der Außenminister fordert die Taliban zu Verhandlungen auf (sie verhandeln schon die ganze Zeit). Und man arbeite an einer Afghanistankonferenz, die Hilfe vor Ort organisieren soll. Was fällt Kabul auch ausgerechnet zu Ferragosto.
Die Taliban tun zwar gemäßigt, zugleich aber wird von Rachemorden und Selbstjustiz berichtet. Die ersten Taten der Taliban waren, die Gefängnisse zu öffnen. Personal, das mit Besatzern in irgendeiner Weise zusammenarbeitete, wird ohne Verfahren einfach umgebracht. Diese Leute hatten weder Gelegenheit noch Zeit, zu entkommen. Wäre der Westen bereit, jene Hunderttausende aufzunehmen, die nicht mit dem kommenden Emirat zusammenarbeiten wollen? Was hat sich am Konzept der Taliban wirklich geändert? Wenig, wie man hört, außer dass sie offenbar den Amerikanern die Aussichtslosigkeit ihrer Position klarmachen konnten.
So sehen wir hilflos die Schicksale der Frauen und Mädchen, aller als Dienstleister der Besatzungsmächte Arbeitenden, die nicht rechtzeitig fliehen konnten. Die große Flucht (wenn sie überhaupt möglich), ist das große Morden, der große Verrat und das große Versagen des Westens: die Wüste der Unmenschlichkeit wächst. Wir aber leisten Hilfe vor Ort: Demokratie light hilft Emirat light.
Wie war das mit den westlichen Werten? Dachte man nicht, Joe Biden hätte gerade – nach dem Trump’schen egoistischen Nationalismus – das Eintreten für diese Werte wieder zum Inhalt seiner Außenpolitik gemacht?
Im Magazin Foreign Affairs, der fundiertesten Publikation demokratenfreundlicher Außenpolitikkritik, erschien gerade eine spannende Geschichte über Osama Bin Laden. Es ist eine Geschichte wechselseitiger Fehleinschätzungen. Bin Laden erwartet sich von seinem 9/11 Terroranschlag, er würde ähnliche Proteste in den USA auslösen wie der Vietnamkrieg. Aber die Amerikaner glaubten an ihre Medien und an den Krieg gegen den Terror, außerdem war die allgemeine Wehrpflicht abgeschafft worden; die Furcht eingezogen und an der Front sterben zu können war ein wesentlicher Motor der Vietnam-Proteste gewesen. Vom „arabischen Frühling“ erwartete sich Osama einen Aufstieg des Islamismus.
Die politische Führung der USA unter Obama wiederum überschätzte die Wirkung der Hinrichtung bin Ladens und hatte kaum mitbekommen, dass al-Qaida im Irak längst die Führungsrolle an ISIS verloren hatte.
Das Interessanteste an diesem Bericht ist die Begründung des Rückzugs der Biden-Regierung aus Afghanistan. Es handle sich um eine Politikänderung der USA. Man habe eingesehen, warum die Bevölkerung in Afghanistan die Taliban als das relativ geringere Übel einschätzt.
Warum widersetzt sich die Bevölkerung nicht diesen radikalen Islamisten, die ihnen die Segnungen – ausnahmsweise nicht ironisch gemeint – westlicher Zivilisation wieder wegnehmen werden? Weil ihnen die Taliban offenbar als das kleinere Übel erscheinen, verglichen mit einem korrupten, vom Westen unterstützten Regime, dessen Militär keinen Widerstand leistete und dessen politische Führung Hilfe vor Ort in die eigenen Taschen steckt und statt westliche Werte zu verteidigen, sich ehebaldigst mit der Beute aus dem Staub machte.
Das afghanische Paradox ist ein Beispiel dafür, dass die Mehrzahl der Menschen sich offenbar von Islamisten mehr verspricht als von einem westgestützten, korrupten Regime. „Washington und seine Verbündeten haben erkannt (oder sollten zumindest erkannt haben), dass ein unbefristeter Krieg gegen den Terrorismus sinnlos ist und dass eine erfolgreiche Anti-Terror-Politik jene legitimen politischen Missstände ansprechen muss, die al-Qaida vorgibt zu ändern – zum Beispiel die Unterstützung der USA von Diktaturen im Nahen Osten.“
Der Krieg gegen den Terrorismus hat die Welt verändert, Millionen und Abermillionen in die Flucht getrieben, dem Nationalismus und der Xenophobie Auftrieb gegeben, er hat Kalifate und Emirate entstehen lassen, und den Terrorismus nicht besiegt, sondern ihm ein mögliches neues Zentrum eröffnet. Oder ist es das Versprechen der Taliban, keiner Terrorgruppe eine Basis zu ermöglichen, die den Widerstand der USA brach?
Eines der Ergebnisse dieses Kriegs ist gewiss, was Petra Ramsauer im ORF als „Enttäuschung über den Westen“ bezeichnete. Die schönste moralische Entschlossenheit nützt wenig, wenn ihr die reale Politik Hohn spricht. Den Preis zahlen nun die Frauen und Mädchen Afghanistans und alle, die mit den Besatzern kooperierten. Selbstjustiz und dann Scharia werden regieren, ob in milderer oder schärferer Form.
Handelte Biden nur mit Blick auf die amerikanische Innenpolitik (die Mehrheit in den USA begrüßt das Kriegsende)? Mag sein, dass seine Politik für einen neuen moralischen Realismus steht. Jedenfalls steht sie für das Ende des US-Weltpolizisten, aber auch für eine neue geopolitische Einschätzung, die das Gewicht auf eine pazifische Einhegung Chinas legt. Dieser Realismus beginnt mit einem Kollaps. Die große Flucht kommt wieder. Europa wird auf die eine oder andere Weise den Nehammer machen. Wir waren schließlich auch am Hindukusch. Mit 16 Soldaten. Bei der Mission „Resolute Support“.
Distance, hands, masks, be considerate!
Ihr Armin Thurnher