Über Corona und die Wahrheit

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 481

Armin Thurnher
am 29.07.2021

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Kürzlich, also vor ein paar Monaten, hielt ich einen Vortrag zum schlicht klingenden Thema „Woher wissen wir, was stimmt?“ Das Montagsforum in Dornbirn hatte mir das Thema gestellt, und die Pandemie hatte dafür gesorgt, dass der Vortrag immer wieder verschoben werden musste, mehr als ein Jahr lang. Als ich ihn endlich halten konnte, fand er unter Bedingungen der Pandemie statt, das heißt, es durften nur die Hälfte der Plätze besetzt sein, und die Anwesenden hatten Masken zu tragen. Zum eignen Schutz und zum Schutz der anderen.

Das schuf für mich als Vortragenden eine neue Situation. Ich erkannte, wie sehr ich gewohnt war, mich an den Mienen des Publikums zu orientieren. Signalisierten sie Widerspruch, Zustimmung, Langeweile? Danach musste man sich als Redner orientieren, notfalls das Konzept etwas anpassen, etwas Aufmunterndes einstreuen, mimisch dargestellte Skepsis durch ein nachgeschobenes Argument zerstreuen undsoweiter.

Die Masken verbargen die Mimik. Ehe die Irritation überhand nehmen konnte, hatte ich eine Bezugsperson gefunden, deren Augenspiel ich zu lesen vermochte, und nach verhältnismäßig kurzer Zeit schaffte ich es, mich daran zu orientieren. Wir können uns adaptieren. Maske tragen ist keine Folter und Kindern durchaus zumutbar, denen ja auch das Tragen von Unterhosen relativ früh zugemutet wird.

Wie schön ist es dennoch, ohne Maske miteinander zu reden! Kürzlich durfte ich mich bei einer Einladung mit sechs Frauen und drei Männern einen Abend lang auf einer Terrasse so unterhalten; es ging um Wissenschaft und dann bald auch Wahrheit. Woher wissen wir, was stimmt? Was ist Wahrheit?

Wieder einmal holte ich die Definition hervor, die ich bei meinen Dornbirner Vortrag präsentiert hatte, denn ich kenne keine bessere (in einem parodistischen Dialog habe ich es hier schon einmal versucht). Der amerikanische pragmatische Philosoph Charles Peirce definiert Wahrheit als: „Die Meinung, der letztendlich alle, die in der Forschung einbezogen sind zustimmen, ist was wir die Wahrheit nennen, und das Objekt, das von dieser Meinung repräsentiert wird, ist das Wirkliche.“ (Peirce)

Das gilt auch für alles Naturwissenschaftliche, abgesehen von mathematischen und logischen Formeln. „Tatsachen sind der Gegenstand von Meinungen, und Meinungen können sehr verschiedenen Interessen und Leidenschaften entstammen, weit voneinander abweichen und doch alle noch legitim sein, solange sie die Integrität der Tatbestände, auf die sie sich beziehen, respektieren,“ sagt Hannah Arendt, die in ihrem berühmten Aufsatz „Über Wahrheit und Lüge in der Politik“ zwischen Vernunftwahrheit und Tatsachenwahrheit unterscheidet.

Pierce aktualisiert diese Position der klassischen Aufklärung. Wenn wir wissenschaftliche Ergebnisse in den öffentlichen Meinungsstreit hineinziehen, müssen wir uns schon vorher darüber informieren, was der tatsächliche Stand der Wissenschaft ist, und ob, wenn nicht alle, so doch eine qualifizierte Mehrheit der Wissenschaftler etwas für wahr hält. Das hängt vom Stand der Forschung ab, und wenn wir uns an die Anfangszeiten von Covid-19 erinnern, bestand anfangs Unklarheit über die Art, in der das Virus verbreitet wird, ehe man über Aerosole Bescheid wusste.

„Man“, das war in diesem Fall die qualifizierte Gemeinschaft der in diesen Gebieten informierten Wissenschaftler. Und nicht die auf Twitter geäußerten Ansichten persönlich Betroffener oder die im Fernsehen zwecks Erhöhung der Reichweite in Talkshows gezerrten diversen Scharlatane, die kühl lächelnd behaupteten, die Pandemie gebe es nicht.

Wahr ist das, worauf wir uns mit guten Gründen verständigen, es als wahr anzunehmen. „Wir“  müssen uns dabei auf die Wissenschaft verlassen. Deren Findungen wollen und können wir dann glauben – immer im Bewusstsein um die Unabgeschlossenheit dieses Prozesses und darum, dass er sich niemals abschließen lässt. Was uns keinesfalls zu einem Wahrheitsrelativismus führen darf: es gilt, was wissenschaftlich gilt, nicht was zum Beispiel die Macht verfügt.

Auguste Rodin: Der Denker Foto: Musée Rodin

Weil die Feststellung der Vernunftwahrheit abgesehen von den genannten Ausnahmen nicht abgeschlossen oder ewig gültig ist, können Vernunftwahrheiten mit dem Anschein versehen werden, als wären sie auch bloß eine Meinung. Der giftige Charme von Twitter besteht darin, dass dort ständig welche versuchen, andere in diese Falle zu locken (wenn der giftige Charme nicht gar ein Prinzip des Algorithmus bildet, dem dort alle unterliegen). Menschen, die – ausgehend von persönlichen Erfahrungen – etwas polemisch Detailansichten formulieren, werden im Handumdrehen zu „Corona-Leugnern“; kurz nach meinem Eintritt bei Twitter war ich schon zum „Holocaust-Leugner“ ernannt, weil ich es gewagt hatte Noam Chomsky zu zitieren.

Bedenken wir die Einflüsse, die Macht und Geld auf Wissenschaft haben, können wir ermessen, wie wichtig es ist, den Raum des Gebrauchs der Vernunft möglichst frei zu halten. Damit die ideale Hörerschaft des wissenschaftlich gebildeten Publikums ihre Urteile bilden kann, die wir dann als den Stand der Wahrheit akzeptieren.

Und damit auch das zum Schluss gesagt ist, weil ich in diesen Tagen gar nicht anders kann, als darauf hinzuweisen: Zumindest in der Theorie und dem Auftrag nach wäre der öffentlich-rechtliche Rundfunk so ein interessenfreier Raum.

In dieser Kolumne genieße ich das Privileg, den Stand wissenschaftlicher Forschung von einem Epidemiologen präsentiert zu bekommen, von Robert Zangerle. Ich enthalte mich nicht meiner Meinung, ich setze damit eine Geste, die bedeuten soll: im Streit der wissenschaftlichen Fakten halte man sich an jene, die qualifiziert sind, die Bedeutung dieser Fakten und den Wissensstand bei ihrer Ermittlung zu beurteilen.

Ich bin – um den Preis, öffentliche Aufmerksamkeit einzubüßen – deshalb nicht bereit, mich in einen sich an seinen Aufregungen berauschenden Meinungsstreit über Corona hineinziehen zu lassen, obwohl ich natürlich jederzeit politische Einschätzungen treffen werde, wie öffentlich mit Corona umgegangen wird und wie nicht.


Distance, hands, masks, be considerate!

Ihr Armin Thurnher

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