Geköpfte Könige, beklautes Publikum. Kurze Geschichte der Medien in zweimal zehn Minuten, Teil II

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 476

Armin Thurnher
am 23.07.2021

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Heute Teil II und Schluss der kurzen, überaus komprimierten Mediengeschichte. Sie soll in Erinnerung rufen, warum wir überhaupt über Medien streiten, und warum öffentlich-rechtliche Medien wie der ORF so wichtig für den Bestand von Demokratien sind. Teil I beschrieb die Entwicklung vom antiken Athen bis zum Beginn der Aufklärung. Hier setzt Teil II fort.

Dem absoluten Staat stellte sich die Gesellschaft gegenüber. In Briefen, im Hin und Her zwischen Gedrucktem und Geschriebenem, in Salons, bei Tafelrunden (berühmt war Immanuel Kants tägliche Tischgesellschaft in Königsberg), in Lesegesellschaften und Bibliotheken bildete sich eine literarische Öffentlichkeit heraus; in Frankreich entstand in den Salons der Enzyklopädisten revolutionäre Sprengkraft. Zugleich war die Enzyklopädie ein Wirtschaftsunternehmen, das auch nicht gestoppt wurde, als dem Regime die subversive Kraft klar wurde, die in der Veröffentlichung von neuester Wissenschaft bestand.

Das richtete sich gegen die Autorität von Kirche und damit Staat. Aber was sollte man machen, es steckten zu viele Investitionen in der Enzyklopädie! Die Aufklärer riskierten zum Teil ihr Leben, wollten sie ihre Werke drucken; das war zum Teil nur im Ausland möglich (Pierre Bayle), zum Teil musste mit Gefängnis gerechnet werden (Denis Diderot) oder mit Exil, zeitweiliger Flucht und Verfolgung (Jean-Jacques Rousseau). Vieles braute sich so im Privaten zusammen, ehe es – zumindest in Frankreich und in Amerika – revolutionär ausbrach. Das Prinzip Publizität setzte sich gegen das feudale Prinzip durch: Die Aufklärung war „öffentlicher Gebrauch der Vernunft“ (Kant), aber auch öffentliche Durchsetzung ihrer Macht (durch Köpfen von Königen).

Man hat das 18. Jahrhundert jenes des Briefs genannt; aus dem Geschäftsbrief wurde das oft sentimentale Privatschreiben. Das Theater und die Malerei wurden intimer, die Literatur schuf sich einen Markt, Verlage entwickelten sich, und Anfang des 19. Jahrhunderts konnte ein Autor wie Goethe von den Früchten seiner Schriftstellerei leben. Der aufgeklärte literarische Journalismus, der sich entwickelte und in Karl Philipp Moritz’ Programm „Ideal einer vollkommenen Zeitung“ seinen Ausdruck fand, kam in der neuen Zeit schnell wieder an sein Ende.

Wieder traten technische und gesellschaftliche Neuerungen zusammen auf. Und wie schon zu Beginn der Neuzeit kam auch ein Wachstumsschub der Bevölkerung dazu (sie verdoppelte sich im Europa des 19. Jahrhunderts). Vor allem die Städte wuchsen. Die Erfindung der Dampfmaschine führte geradewegs in diese neue Massengesellschaft. Zeitungen konnten nun in weit höheren Auflagen gedruckt werden. Das System Journalismus entwickelte sich weiter, analog zur Fabrik entstand die Redaktion als arbeitsteiliger Organismus. Die Zeitung wurde zum Geschäft.

In seinem Roman „Verlorene Illusionen“ hat Honoré de Balzac die Entwicklung präzise beschrieben. Der junge Lucien de Rubemprè wird in die Tatsachen des Geschäfts eingeführt. „Du denkst also so, wie du geschrieben hast?“ fragte Hector Lucien. „Ja.“ „Ach, mein Lieber,“ sagte Blondet, „ich hielt dich für stärker! (…) Die Kritik muss die Werke von ihren sämtlichen Seiten betrachten. Kurz, wir sind große Berichterstatter.“ „Sie legen also Wert auf das, was Sie schreiben?“ fragte ihn Vernou mit spöttischer Miene. „Aber wir treiben mit unsern Sätzen Handel und leben von diesem Geschäft. Wenn Sie ein großes, schönes Werk schreiben, ein Buch, dann können Sie Ihre Gedanken und Ihre Seele hineinlegen, sich damit verbunden fühlen und es verteidigen, aber Artikel werden heute gelesen und sind morgen vergessen; das Zeug ist in meinen Augen nicht mehr wert, als dass man es bezahlt. Wenn Sie auf solche Dummheiten Wert legen, dann bekreuzen Sie sich wohl und rufen den Heiligen Geist an, bevor Sie einen Prospekt schreiben!“ Alle schienen erstaunt, bei Lucien Skrupel zu finden, und es gelang ihnen schließlich, seine unschuldige Kindertoga in Stücke zu reißen und ihm das Mannesgewand des Journalisten anzuziehen.

Dieses „Mannesgewand des Journalismus“, das Lügen für einen schlechten Zweck, zogen ihm fortan nur mehr randständige Kritiker aus. Vollends wurde die Zeitung zur Ware, als Mitte des Jahrhunderts das Inseratengeschäft, bisher Staatsprivileg, freigegeben wurde.

Dazu kamen technische Erfindungen wie Telegraf und Telefon. Kurz: Die Zeitung differenzierte sich aus und mauserte sich zum Massenunterhaltungsprogramm (mit illustrierten Familienzeitschriften wie Die Gartenlaube und mit Bilderbögen) einerseits und zum Informationsprogramm für die gebildete Oberschicht. Dass Zeitungstycoons ihre Macht dazu benutzten, die Auflage und ihr Privatvermögen mit allen Mitteln zu steigern, ist bekannt. In den USA trieb der Verleger William Randolph Hearst das Land in den Spanisch- Amerikanischen Krieg, in Österreich spielte Moritz Benedikt bei der Neuen Freien Presse eine ähnliche Rolle, in unseren Tagen war es Rupert Murdoch mit seiner Sun im Falkland-Krieg. Dass das möglich war, zeigt aber die integrative Kraft von Zeitungsmedien in einer nun weitgehend alphabetisierten Massengesellschaft.

Ihre Funktion von Publizität, also die erweiterte Bühne der Demokratie zu sein, erwies sich jetzt auch in vielen Zeitschriften und Zeitungen politischer Parteien. Zugleich traten neue technische Medien auf, die nun als reine Bild- und Tonmedien fungierten und ohne das Alphabet aus- Fortsetzung nächste Seite kamen: Fotografie, Schallplatte, Film, Radio und bald auch das Fernsehen. 1837 machte Louis Daguerre die erste Aufnahme auf eine Jodsilberplatte; bereits 1888 gab es den Zelluloidfilm, die Kodak-Kamera und Großkopierwerke. Das Telefon, 1861 von Philipp Reis erfunden, anschließend in den USA von Graham Bell perfektioniert, diente ursprünglich nicht dem Gespräch, sondern eher als Fortsetzung und Ausdehnung des Telegrafen. Erst im 20. Jahrhundert verbreitete es sich massenhaft als Medium von Privatgesprächen.

Auch die Schallplatte, 1877 von Thomas Alva Edison erfunden, wurde zuerst als Diktiergerät gesehen, ehe sie sich als Musikkonserve durchsetzte. Nur dem Film gelang es, sich von Anfang an in jener Form zu etablieren, die wir heute noch kennen. 1895 eröffneten die Brüder Lumière in Paris das erste öffentliche Kino. Mediengeschichtlich betrachtet kann man die Massengesellschaft des 20. Jahrhunderts unter zwei Aspekten betrachten. Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs dominierte die politisch-propagandistische Nutzung, ja der Missbrauch von Massenmedien, danach triumphierte das ökonomische Paradigma, die Medien kommerzialisierten sich und unterwarfen alles dem Diktat der Werbung, woraus folgte, dass für alles das Gesetz der „theatralischen Inszenierung“ (Thomas Meyer) galt und gilt.

Immer wieder setzte es Debatten über die Selbstregulierungsfähigkeit von Medien. 1947 gestand eine von Time-Life-Herausgeber Henry Luce privat finanzierte hochkarätig besetzte Kommission, die Hutchins- Commission, in den USA den Medien diese Fähigkeit zu, bestand aber auf deren sozialer Verantwortung. Manche Gesellschaften erhielten eine Spezialbehandlung, damit sich die Medien wieder ihrer demokratischen Aufgabe entsannen und fortan die Verführung der Massen unterlassen würden. Deutschland wurde deshalb von den Alliierten einer Reeducation unterzogen.

Exemplarisch für verführerischen Missbrauch der Presse steht der deutsche Unternehmer Alfred Hugenberg, ein deklarierter Gegner der parlamentarischen Demokratie. In den 1920er-Jahren belieferte er Tausende Zeitungen mit Anzeigen, mit Artikeln und Bildern und kontrollierte am Ende ein Imperium aus Kinos und Druckwerken, das eine wesentliche Rolle bei der Machtergreifung der Nazis spielte.

Nie wieder sollte solches geschehen. Öffentlich- rechtliche Medien sollten, eingedenk des propagandistischen Radiomissbrauchs durch Joseph Goebbels, dabei eine besondere Rolle spielen; ihre Aufgabe als gleichsam neutraler demokratischer Raum wird vom Staat garantiert; übernimmt dieser aber die Kontrolle, ist die Aufgabe der Öffentlich-Rechtlichen dahin. Sie schwankten immer zwischen Instrumenten einer nationalen, rechten Erziehungsanstalt – wie die frühe BBC oder der ORF unter Gerd Bacher – und neutralen Sphären, die journalistisch und kulturell für Marktkorrektur sorgen. Andererseits greifen Regierungen, die keine Kontrolle brauchen, sie an und versuchen ihnen die Finanzierung zu entziehen (was derzeit von Polen über England bis Spanien in ganz Europa zu beobachten ist).

Die Erscheinung der digitalen Medien fällt zusammen mit dem politischen Triumph des Neoliberalismus. Nach Vorarbeiten von Margaret Thatcher und Ronald Reagan war es Bill Clinton, der den Medienmarkt in den USA liberalisierte und eine ungesehene globale Medienkonzentration auslöste. Das in den USA besonders vehement zelebrierte Zeitungssterben ist auch eine Funktion eines zusehends nicht mehr von Privateigentümern, sondern von Aktiengesellschaften dominierten Medienmarkts. Die von diesen managergesteuerten Gesellschaften geforderten Renditen verlangen Kostensenkungen, untergraben damit journalistische Standards und ruinieren journalistische Glaubwürdigkeit.

Facebook-Chef Mark Zuckerberg Foto: Wikipedia

Zugleich wurde die Werbewirtschaft zur tendenziell einzigen Finanzierungsquelle von Medien; sie bestimmt über deren Existenz und deren Erscheinungsweise. Die digitalen sozialen Medien kommen diesen Anforderungen idealtypisch entgegen. Die hinter ihnen stehenden Konzerne sind Sammler von persönlichen Daten, an die sie gelangen, indem sie die Aufmerksamkeit ihres Publikums fesseln. Journalistische Angebote wie Nachrichten und Kommentare sind nur mehr interessant, sofern sie dem Aufmerksamkeitsgeschäft dienen. Konsequenterweise sind die Mächtigen von Silicon Valley an Demokratie wenig interessiert; sie betrachten sie als hinderlich bei der Durchsetzung ihrer weltverbessernden Ideale, von Weltgesundheit, besseren Schulen bis hin zur Superintelligence, einem dem Menschen überlegenen, computergenerierten Bewusstsein.

Mark Zuckerberg betrachtet sein Facebook demgemäß auch nicht als Medium, sondern als technische Plattform. Die Idee des Forums verkehrt sich hier auf paradoxe Weise. Alle treffen sich, aber nicht mehr, um ihre öffentlichen Angelegenheit zu beraten, sondern nur als Privatleute. Sie lassen auf dieser Bühne nicht mehr alles Private, sondern alles Öffentliche hinter sich. Die Zukunft der Demokratie hängt aber davon ab, wie Öffentlichkeit unter den jeweils modernen Medienbedingungen herzustellen ist.

Die digitale Wende könnte nichts weniger bedeuten als die globale Öffentlichkeit; aber wie in jeder neuen Öffentlichkeit dominieren Kräfte, die Kontrolle, Transparenz und Wahrheit außer Kraft setzen wollen. Und vor allem das, was den alten Griechen Aristoteles zur Behauptung brachte: „In der Demokratie sind die Armen mächtiger als die Reichen“. Denn sie haben die Mehrheit. Ob dieses Ideal in der digitalen Massenmediengesellschaft erreicht wird, mag das Publikum selber überprüfen.


Distance, hands, masks, be considerate!

Ihr Armin Thurnher

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