Vom Alphabet zu Luthers Hass. Kurze Geschichte der Medien in zweimal zehn Minuten, Teil I

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 475

Armin Thurnher
am 22.07.2021

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Wir müssen über den ORF reden. Wozu braucht es noch öffentlich-rechtliche Medien? Also beginnen wir einmal grundsätzlich damit, über Medien zu reden. Diese kurze Geschichte der Medien schrieb ich vor ein paar Jahren einmal für eine Falter-AK-Beilage. Sie komprimiert in knapp zweimal zehn Minuten Lesezeit, was sich in 2500 Jahren Menschheitsgeschichte als Substrat der Demokratie herausbildete, was stets gefährdet war und heute gefährdet ist wie nie zuvor: Öffentlichkeit. Für Verknappungen und Vereinfachungen bitte ich  um Verständnis: sie sind der Kürze geschuldet.

Jede Geschichte muss irgendwo anfangen. Wir setzen diesen Beginn einmal recht willkürlich mit dem Auftauchen des Alphabets im griechischen Kulturkreis um 600 vor Christi Geburt an. Seine 24 Zeichen stellen eine Abstraktionsleistung ersten Ranges da. Gerade weil die Buchstaben im Vergleich zu Zeichen anderer Systeme – man denke an die bildhaften Hieroglyphen – so abstrakt bleiben, konnten sie kombiniert umso komplexere Sachverhalte abbilden. Die aus Symbolen zusammengesetzte Schrift entlastete vor allem das Gedächtnis.

Die orale Kultur, die ihre Epen und Oden, aber auch ihre Gesetze auswendig wusste, konnte sich von diesen Gedächtnisleistungen verabschieden. Offenbar wurden dadurch neue Möglichkeiten frei. Der kanadische Philologe Eric A. Havelock, dem Kreis Harold Innis und Marshall MacLuhan zugehörig, drückte es so aus: „Die geistigen Energien, die durch die Gedächtnisökonomie freigesetzt wurden, waren wahrscheinlich beträchtlich und trugen zu einer immensen Expansion des Wissens bei.“

Die griechische Demokratie mit ihren Dramen und Gesetzen, ihrer Geschichtsschreibung und Philosophie wäre ohne das Alphabet nicht denkbar. Sokrates wandte zwar gegen die Modernisten seiner Zeit ein, die Schrift führe zum Übel. In Platons Dialog Phaidros sagt er: „Diese Erfindung wird der Lernenden Seelen vielmehr Vergessenheit einflößen aus Vernachlässigung des Gedächtnisses, weil sie im Vertrauen auf die Schrift sich nur von außen vermittels fremder Zeichen, nicht aber innerlich sich selbst und unmittelbar erinnern werden. Nicht also für das Gedächtnis, sondern nur für die Erinnerung hast du ein Mittel erfunden, und von der Weisheit bringst du deinen Lehrlingen nur den Schein bei, nicht die Sache selbst.“

In diesem etwa 420 vor Christi Geburt geschriebenen Dialog (das Datum ist unsicher) begegnet uns zum ersten Mal ein klassischer Topos. Jedes neue Medium wurde von klugen Menschen zu allen Zeiten mit ähnlicher Skepsis begrüßt. Die verderbliche Wirkung der Zeitungen, die hypnotische des Films, die demagogische des Radios, die zerstreuende des Fernsehens, die heilsmäßig begrüßte und zugleich als Überwachungs- und Manipulationsmedium verteufelte Welt der Social Media – entweder werden neue Medien dämonisiert oder in den Himmel gehoben. Eine nüchterne Einschätzung ist erst im Rückblick möglich. Aber auch die fällt schwer, denn ob es die literarisierte Kultur war, welche die griechische Polis, den demokratischen Stadtstaat ermöglichte, oder umgekehrt die Polis erst den Boden für die Schriftkultur schuf, scheint noch immer nicht entschieden. Die Schrift im alten Griechenland wurde auf Ton- und Wachstafeln geritzt, vor allem aber auf Papyrusrollen oder in kleinen Büchern festgehalten, Codices genannt. Das blieb so bis zur Erfindung des Buchdrucks.

Mittelalterliche Kopisten im Kloster Foto: Uni Leipzig

Kopiert wurde per Hand in Kopierwerkstätten. Briefe und Aufzeichnungen veränderten die antike Gesellschaft. In Griechenland und erst recht in Rom entwickelte sich ein differenziertes Postwesen, mit dem sich ein ausgedehntes Imperium regieren ließ. In den Jahrhunderten nach dem Zusammenbruch des römischen Imperiums, zu Unrecht als die dunklen Jahrhunderte bezeichnet, sorgten vor allem die Kirche, aber auch der Adel für Schriftkultur; Klöster vervielfältigten Handschriften und bewahrten sie auf, im Allgemeinen fiel die Feudalgesellschaft wieder auf die Menschmedien der oralen, voralphabetischen Zeit zurück: auf Sänger und Boten, Märchenerzähler und Schauspieler.

Die Gebildeten hatten immer ihre Bücher, aber erst die Erfindung des Blockdrucks Ende des 14. Jahrhunderts brachte Bücher vermehrt auf den Markt. 1398 datiert man die Erfindung des Holzschnitts in Europa. In Italien und Süddeutschland gab es damals bereits Papiermühlen. Die Erfindung Johannes Gutenbergs um 1450 war genial, aber der Buchdruck mittels beweglicher Lettern tauchte nicht im luftleeren Raum auf. Er entstand in einer bereits buchorientierten Gesellschaft und er entsprach auch einem gesellschaftlichen Bedürfnis. Der Frühkapitalismus und sich neu konstituierende größere Verwaltungseinheiten hatten nämlich ein Bedürfnis nach Formularen. Man sagt, Gutenbergs Motivation sei jedenfalls eine kommerzielle gewesen, er wollte einen Markt bedienen.

Wie sehr sich die gesellschaftliche Lage im 15. Jahrhundert veränderte, zeigt auch die Gründung der Post 1490 durch von Thurn und Taxis. Der Markt für Bücher wurde bis dato und auch noch eine Weile danach von Kopistenwerkstätten beliefert, die für Universitäten und das gebildete Publikum in Städten Bücher auf Lager produzierten; auch die Buchbinderei war bereits ein entwickeltes Handwerk. Aber das Geniale an Gutenbergs Erfindung war eine Technik, die ganz andere Auflagen, Druckgeschwindigkeit und eine Präzision des Schriftbildes ermöglichte. Alle reden von der Gutenberg-Bibel, und sie war auch das Signaturwerk des genialen Mainzer Patriziers und Erfinders. Aber genauso druckte man mit seiner Erfindung Profitables wie Ablassbriefe; damit die Seele aus dem Fegefeuer springe und das Geld im Kasten klinge, waren Auflagen von 2000 Stück und mehr durchaus hilfreich. Die Ablassbriefe wiederum erregten wenig später den Zorn eines lutherischen Mönchleins namens Martin Luther.

Der verstand es mit seinem Hass und seiner Wut (wenn das die Netz-Hass-Besorgten wüssten!), das neue Medium Druck zu nützen. Die Reformatoren waren die Meister der polemischen Flugschrift, mit der sie den Papst und die römische Kirche verunglimpften und verhöhnten, dass es nur eine Art hatte. Die berühmte Karikatur des „Papstesels“ zeigte den Papst als Ungeheuer mit Eselskopf, dem Rumpf einer nackten Frau, schuppigen Armen und Beinen, Ochsenhuf und Adlerklauen als Füßen, einer bärtigen Teufelsmaske über dem Hinterteil und einem in einen Drachenkopf ausgehenden Schweif; in der Legende wird das Sündige und Satanische dieser Figur erklärt. Auch ein Mönchskalb war auf einem Flugblatt zu haben. Es war giftigste Propaganda, Luther war dem Papst sein Troll.

Das war modern und wirkte. Die katholische Kirche hingegen bediente sich des Drucks hauptsächlich zu Verbreitung von Bibeln und Ablasszetteln, sonst setzte sie auf alte Medien. Kaiser Karl V., in dessen Reich die Sonne nicht unterging, reiste mit einigen Gobelins, gewebten Teppichen, welche die Pracht seines Reiches zeigten. Er stellte sie aus, wo er sein Lager aufschlug. Das war die alte Medienwelt, die gegen die neue des demagogisch operierenden Reformators nicht bestehen konnte. Zwar zwang Karl V., Luther auf dem Reichstag von Worms aufzutreten. Das Mönchlein musste disputieren, aber es unterwarf sich nicht und ließ Flugschriften rundum verteilen. Nach dem Tribunal wurde die Reichsacht über ihn verhängt.

Aber die neue Gesellschaft und die neuen Medien waren unaufhaltsam. Der Frühkapitalismus hatte den Handel zwischen den Städten und zwischen den Kontinenten beflügelt. Handelshäuser wie jenes der Fugger in Augsburg bedienten sich eines Netzes von Korrespondenten, die ihnen aus fernen Ländern wichtige und scheinbare unwichtige Nachrichten zukommen ließen.

Diese Korrespondenzen wurden systematisiert, es gab Vorschriften, wie sie abzufassen waren, die Frequenz intensivierte sich, und obwohl sie – Konkurrenzvorteil – nicht zur Veröffentlichung bestimmt waren, entwickelte sich aus ihnen die Zeitung, das Journal. Im Französischen heißt Journal nichts anderes als Buch des Tages. Das Wort stammt aus der Kaufmannssprache. Es waren auch die großen Marktplätze, wo die ersten Zeitungen erschienen, die Straßburger Relation (1605) und der Wolfenbütteler Aviso (1609). Es wurde viel gelesen in der Neuzeit; Luther sagte, im Lesen finde man sein Heil, und drückte damit nur den Zeitgeist aus. Nicht zu unterschätzen waren die Briefe, die Gelehrte und Dichter untereinander austauschten, oft mit dem Gedanken, sie später zu veröffentlichen. Die Gelehrtenrepublik der Renaissance wurde durch Bücher möglich und durch Briefe zusammengehalten.

Diesen modernen Medien einer kleinen Elite – die Mehrzahl der Gesellschaft war nicht alphabetisiert –, Buch, Flugblatt, Kalender und Brief, standen die Medien der traditionellen Mächte gegenüber. Das Theater der Gegenreformation wollte nicht überzeugen, sondern überwältigen; dem gleichen Zweck dienten Prachtbauten und Höfe, Kirchen und Paläste mit ihren Massenritualen von Bittstellern und Verlautbarungen. Und schließlich regelte die Zensur, was veröffentlicht werden durfte und was nicht; demgegenüber kann man die Sprengkraft der lutherischen Schriftkultur ermessen. Repräsentative Öffentlichkeit auf der einen und teils argumentierende, teils subversive Öffentlichkeit auf der anderen – ein Gegensatz begann sich hier auszudrücken.

Im beginnenden 18. Jahrhundert war es England, wo sich der berühmte vom Philosophen Jürgen Habermas so genannte „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ Bahn brach. Gemeint ist die Ablösung der repräsentativen Öffentlichkeit (der Monarch zeigt sich vor dem Volk, entscheidet aber im Geheimen) durch die räsonierende, kritische Öffentlichkeit eines argumentierenden Publikums. Dieses Räsonieren war eine mittelbare Folge der englischen Religionskriege, in denen das Königtum geschwächt und die Zensur gelockert wurde. „Es giebt schwerlich eine Nation, bei der sich der Verstand so allgemein und bis auf die niedrigsten Volksklassen erstreckte, als dies bei der englischen der Fall ist. Ursache davon sind die Zeitungen …“, notierte Immanuel Kant. In der Öffentlichkeit der moralischen Wochenschriften (der Spectator war eine der ersten, er erscheint als witziges konservatives Wochenmedium noch immer) reflektierte sich das aufsteigende Bürgertum selbst, es beschrieb seine Kaffeehausrunden und dort geführte Gespräche, die dann wieder im Kaffeehaus gelesen wurden.

Die Welle der moralischen Wochenschriften schwappte über auf den Kontinent, wo sie in Form und auch im Titel nachgeahmt wurden (aus dem Tatler wurden etwa Die vernünfftigen Tadlerinnen). Zeitungen waren damals ziemlich ungeordnete Anhäufungen von Meldungen. Gleich erschienen auch sogenannte Annoncenblätter, auch Intelligenzblätter. Nur sie durften Anzeigen bringen, den anderen Zeitungen war das verboten. Ihre Existenz verdanken sie Jürgen Habermas zufolge dem gesteigerten Kommunikationsbedürfnis der Behörden, die Befehle und Verordnungen veröffentlichten, dazu kamen Vermischtes und Stellenangebote. Die politische Zeitung ergab sich daraus dann fast von selbst.

Teil II folgt morgen


Distance, hands, masks, be considerate!

Ihr Armin Thurnher

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