Kurz, der Weltenlenker: nach dem Virenmessias erscheint der Digitalerlöser.

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 471

Armin Thurnher
am 17.07.2021

Abonnieren Sie Armin Thurnhers Seuchenkolumne:

Kurzschrift war ein Freifach im Gymnasium, ich belegte es pflichtschuldig und lernte ein bisschen etwas für die Mitschrift im Unterricht. Bis ich an die Uni kam, hatte ich es vergessen, da Kurzschrift, wie ich sie lernte, nur auf Deutsch funktionierte und ich zwischendurch ein Jahr in den USA verbracht hatte.

Kurzsprech ist ein Entzifferungsspiel, bei dem eine interessierte Gemeinde genervter Kurzopfer erleichtert aufseufzt. Heut gibt’s aber keine Lektion in Kurzsprech, heute gibt’s eine Erinnerung, die mir kam, als ich den neuesten Kurzsprech in der aktuellen Kurzzeitung, pardon, der Krone, dem offiziellen Verlautbarungsblatt des Ballhausplatzes las. Kurz sprach dort über sein Treffen mit demokratieskeptischen Digitalmilliardären in Montana/USA und versuchte, diesen offensichtlich allein der Planung seiner zukünftigen Karrierechancen dienenden Event staatspolitisch-strategisch zu tünchen.

Der Yellowstone-Club in Montana, Schauplatz der Kurz’schen Weltenlenkung. Man muss schon sehr viel Geld haben, um so wenig Geschmack zu besitzen. Foto: Instagram

Was er sagte, kann nicht ernstgemeint sein, dachte ich. Wenn doch, gute Nacht Österreich. Kurz also sprach, er sehe „in Österreich einen Nachholbedarf bei der Digitalisierung, dem er mit einem Fünfpunkteprogramm begegnen will: darunter 1,4 Milliarden in den Breitbandausbau; Hunderte Millionen in die bisher größte Transformation im Schulwesen (,Laptop statt Lehrbuch‘); 160 Millionen in die Digitalisierung der Verwaltung; 100 Millionen in die Quantenforschung; Mehreinnahmen durch Digitalsteuer (,Die 15-Prozent-Lösung ist zu gering‘). Digitalisierung verändert das Leben. Kurz: ,Ja, es wird Jobverluste geben, aber es werden auch neue Jobs entstehen.‘“

Das ist beunruhigend. Ich warte seit zehn Jahren auf den sogenannten Breitbandausbau, er schreitet zögerlich voran, da soll sich der Kanzler nicht einmischen. Soll lieber seine segnenden Hände dem Virus entgegenstrecken. Die Initiative „Laptop statt Schulbuch“ klingt geradezu barbarisch und reiht sich nahtlos dem fürchterlichen Satz der Ministerin Schramböck an: „Die Schule produziert am Markt vorbei.“ Am Markt der Technomilliardäre, mit denen Kurz kuschelt, sicher nicht. Die Digitalsteuer zu erhöhen ist gewiss eine gute Idee für Heute, Österreich und die Kronen Zeitung, denen man dann die Mehreinnahmen zustecken kann. Zwecks Digitalisierung der Servilität. Und Quantenforschung: unbedingt, wenn schon der Rest ein Quark ist!

Mir fiel beim Anblick dieser Endmoräne dessen, was einmal bürgerliche Politik war und jetzt nur mehr digital-populistisches Abgreifergequake ist, der gute alte, zu früh verstorbene Frank Schirrmacher ein, Autor und Chef des Feuilletons der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Der war ein Bürgerlicher, der von sich sagte: „Ich habe mich immer als Bürger gesehen, durch Kunst definiert, durch Kultur, als das moderne europäische Subjekt. Und Bürgertum definiert sich immer durch das Interesse, dass mehr Bürger von unten nachwachsen. Aufstiegsmöglichkeit – das war der Sinn von Bürgertum. Insofern bin ich ein Bürger, der dagegen protestiert, dass das nicht mehr funktioniert.“

Er war vor acht Jahren beim Wiener Stadtgespräch von Falter und AK zu Gast, und ich machte mit ihm davor ein großes Gespräch über Digitalisierung, deren Chancen und Gefahren, die schlichte Technooptimisten noch immer nicht zu kapieren scheinen.

Ich setzte zur Illustration einfach eine Passage aus diesem Gespräch hierher:

»Thurnher: Die Aufregung (über Schirrmachers damals erschienenes Buch „Ego. Das Spiel des Lebens“, Anm.) kommt natürlich daher, dass Sie alles auf Algorithmus und Spieltheorie fokussieren und die als das Böse der Welt darstellen.

Schirrmacher: Ich sage ausdrücklich: Es gibt noch sehr viel mehr als Spieltheorie. Sie ist aber für mein Argument von überragender Bedeutung, weil beispielsweise Börsenalgorithmen gar nicht anders programmiert sein können als nach dem Formalismus des berühmten Nash-Gleichgewichts – eine Mathematik des Egoismus, die aus dem Kalten Krieg stammt und dort ihre Funktion hatte. Ariel Rubinstein, einer der großen Spieltheoretiker, sagt in der FAZ, es sei Wahnsinn, diese Theorie so anzuwenden, wie sie gerade angewendet wird.

Es ist nicht irgendeine ökonomische Wissenschaft, sondern die neoliberale. Und die hat sich doch mit Hilfe einer Propagandastrategie durchgesetzt.

Schirrmacher: Sagen wir so: Die Idee, es sei vernünftig, wenn man nur an sich selbst denkt, hatte eine wichtige Funktion, und viele ihrer Vordenker in den USA waren ja auch eher Linke. Es war die Antwort auf die Totalitarismen, die behaupteten, sie wüssten am besten, was gut für den Menschen ist. Ob Friedrich Hayek oder Kenneth Arrow, die Absichten waren nicht schlecht: besser der Mensch sagt, was wichtig ist, als das System. Im Detail hat Philip Mirowski, mein wichtigster Zeuge, gezeigt, dass es in den 50er-Jahren zu einer faszinierenden Vermischung von Ökonomie und Militär kommt, Stichwort „Kalter Krieg“. In dem Moment erkennt die Ökonomie: Wir haben hier ein Modell, mit dem können wir die ganze Welt auf den Begriff bringen. Das, so meine These, ist die Geburtsstunde dessen, was wir Neoliberalismus nennen. Das Problem war nur: In dem Augenblick, wo der Totalitarismus verschwand, mit dem Ende der Sowjetunion, wanderte dieses Denken fidel in die Zivilgesellschaft ein.

Sie sagen immer: „die Ökonomie“, aber die besteht ja aus wirtschaftlich interessierten Menschen.

Schirrmacher: Nein. Ich rede von einer Theorie, die sich zur Handlungsanweisung entwickelt. Es ist ein enormer Unterschied, ob Sie sagen, wir sind alle Egoisten, oder ob Sie ein Weltbild entwickeln, dass sagt, es sei vernünftig, egoistisch zu sein. Die Ideologie schafft genau den Menschen, den sie behauptet. Sie ist normativ. Unsere moralische Empörung ist ein Ventil, aber völlig nutzlos, solange wir nicht erkennen, dass wir nicht über Moral, sondern über Rationalität reden sollten. Was gilt als vernünftig? Und was gilt als vernünftig in einem Zeitalter der „vernünftigen“ Maschinen, die, auch das zeigt Mirowski, ihre DNA aus eben diesem ökonomischen Formalismus bezogen haben? Was einst als Antwort auf die Deindustralisierung der USA gedacht war, die berühmte, von Reagan so genannte „Ökonomie des Geistes“, ist längst Wirklichkeit, ohne dass wir wirklich erkennen, was da vorgeht: die Ökonomisierung selbst von Gedanken, ja von Absichten – Google und Amazon lassen grüßen. Altertümlich gesprochen: Der alte Traum ist wahr geworden, aus nichts etwas zu erschaffen. Jeder klassische Ökonom hätte diesen Wahnsinn eines nur noch aus Rückkoppelungen lebenden Systems bereits an Derivaten ablesen können.

Dahinter stehen Investmentbanken, Banker, im wesentlichen Goldman-Sachs.

Schirrmacher: Schreibe ich auch. Aber das ist nur ein Aspekt. Das eigentlich Faszinierende ist doch: Gleichzeitig mit dieser „Ökonomie des Geistes“ taucht die Gegenkulturbewegung aus der Anti-Vietnamkrieg-Bewegung in Kalifornien auf. In den 80er-Jahren mischen sich die beiden Sphären, daher besteht diese Ökonomie nicht nur aus Goldman-Sachs, sondern auch aus Silicon Valley.

Mit der utopischen Gegenwelt der Netzkultur, des digitalen Weltbürgertums räumen Sie ja ziemlich auf.

Schirrmacher: Ursprünglich ist die Idee aus den frühen 90er-Jahren, dass alle mit allen digital kooperieren, natürlich toll. Im kommerzialisierten Internet ist daraus ein Markt geworden, aus der kooperativen Meinungsbildung wurde ein Plebiszit des Verkaufens. Ich finde es verwunderlich, wenn Journalisten das nicht sehen: Sie selber verlieren doch gerade reihenweise ihre Jobs deswegen. Manche Artikel wären früher so nie geschrieben worden, aber nun antizipieren die Autoren die Likes und Empfehlungen und Postings. Alles Plebiszit, Plebiszit. Am Ende ist sogar das Recht Plebiszit, das haben wir in der Eurokrise gesehen. Wenn die Märkte sagen, lieber jetzt nicht wählen, dann wählen wir lieber nicht. Oder legen das den Griechen nahe. Das muss man sich einmal klarmachen! Wahlen – ja schon noch, aber das wahre Meinungsbild, was Menschen wirklich wollen, können wir dauernd abfragen. Daraus folgt, wir müssen in die Köpfe der Menschen eindringen. Google macht das ja auf vorerst ganz nette Weise, die sagen uns dauernd, was wir wollen, schon ehe wir es selber wissen, deswegen sind sie ein Riesenunternehmen geworden. Wenn das jetzt aber auch bei staatlichen Dingen passiert, wenn andere plötzlich besser wissen, was wir für uns wollen, dann verlieren wir Autonomie, Souveränität und Selbstbestimmung. Als man im 18. Jahrhundert den Blutkreislauf entdeckte, wurde das zur Metapher für politische und vor allem ökonomische Prozesse. Heute reden wir – der geniale Hayek lange vor dem Internet als Erster – von einem weltumspannenden „Nervensystem“. Dieses Nervensystem ist aber eine Ökonomie, der Reiz ist ein „Investment“, die Schnelligkeit der Reizübermittelung – Stichwort Hochfrequenzhandel und Echtzeitkommunikation – entscheidet über den Profit. Darum überall diese kurzfristigen Skandalisierungen oder, im Bereich der Ökonomie, die Blasenbildung.«

Danke fürs Lesen, Herr Bundeskanzler. Und guten Rückflug!


Distance, hands, masks, be considerate!

Ihr Armin Thurnher

Abonnieren Sie Armin Thurnhers Seuchenkolumne:

Weitere Ausgaben:
Alle Ausgaben der Seuchenkolumne finden Sie in der Übersicht.

12 Wochen FALTER um 2,50 € pro Ausgabe
Kritischer und unabhängiger Journalismus kostet Geld. Unterstützen Sie uns mit einem Abonnement!