Über „Eigenverantwortung“, das neue Lieblingswort des Sebastian Kurz

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 470

Armin Thurnher
am 16.07.2021

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Es gibt Wörter, die gehen mir extrem auf die Nerven. Nullwörter, die sich aufplustern. Wichtigtuerwörter, die besonders bedeutungsvoll daherkommen wollen, obwohl sie nichts bedeuten als eben ihre Aufplusterung. Das Wort „extrem“ gehört dazu. Ich verwende, wie Sie sehen, manche dieser Nervwörter selbst und mag mich nicht dafür.

Schlimmer ist „proaktiv“, damit werden Sie mich nie erwischen. Oder „fit für“, wozu an dauernd jemand (wir) gemacht wird, gerade eben von der EU-Kommission für eine tolle Energiezukunft.

Zu den schlimmsten Wichtigtuerwörtern aber gehört „Eigenverantwortung“. Die Eigenverantwortung zählt zum Stammvokabular des Bundeskanzkers Kurz. Was will er uns damit sagen? Möchte er uns den Unterschied zwischen Verantwortung und Eigenverantwortung bitte erklären? Nein, will er nicht. Also versuchen wir es selbst.

Offenbar will uns dieses Kurz-Wort sagen, wir müssen selbst die Verantwortung für unsere Gesundheit übernehmen, denn er tue es nicht mehr. Hatte er bisher die Verantwortung für unsere Gesundheit, und entlässt er uns nun unverhofft in die Mündigkeit von Private Public Health?

Natürlich nicht. Er hätte nur die Verantwortung dafür gehabt, staatliche Maßnahmen in der Pandemie zu organisieren und zu koordinieren und in der Öffentlichkeit eine verantwortungsvolle, ja musterhafte Rolle zu spielen.

Hat er das getan? Jedenfalls nicht zufriedenstellend. Er hat nach autoritären Anfängen der Pandemiebekämpfung, als ihm glückliche Umstände beistanden, die Impfstoffbeschaffung versemmelt, er hat sich im Zuge dieser Affäre als menschlich unverantwortlich gezeigt, als er die Krankheit des Gesundheitsministers Anschober ausnützte, um in dessen Abwesenheit die Verantwortung am Ende einem Spitzenbeamten zuzuschieben, und er hat als Role Model im Kleinwalsertal versagt.

War das Fremdverantwortung? Nein, es war verantwortungsfremd. Kurz wies stets jene Verantwortung von sich, die er nun unter dem Wichtigtueretikett „Eigenverantwortung“ uns umhängen will. Erinnern wir uns daran, wie er auch den vergangenen Herbst vergeigte, wie er den ewigen Lockdown laff und zu spät durchsetzte, wie er im Sommer die Verantwortung für die allgemeine Gesundheit hinter seine türkisen Partei-, nein Clicqueninteressen zurückstellte, und, um seinen Parteifreund Blümel aka „Blümchen“ (Thomas Schmid) zu begünstigen, im Wahlkampf Animositäten gegen Wien schürte, statt epidemiologische Verantwortung zu übernehmen. Wie er, um als Impfmessias und Pandemieheld dazustehen, das Licht am Ende de Tunnels beschwor, als es gerade zu dunkeln begann.

Das war nicht eigene Verantwortung. Das hieß, das eigene Interesse über das allgemeine zu stellen. Will uns der Kanzler mit seinem Angeberwort „Eigenverantwortung“ sagen, wir sollten es seinem Egoismus gleich tun?

„Gesellschaftliche Verantwortung“, wenn wir das als Gegenwort zur „Eigenverantwortung“ annehmen, galt in der Pandemie vor allem der Seilbahn- und der Hoteliersgesellschaft. Wirtschaftshilfen wurden in der ausgelagerten Gesellschaft Cofag abgewickelt, sodass man von Transparenz nicht reden kann.

Verantwortung bedeutet ja auch nicht Transparenz. Verantwortung bedeutet, politisch gesehen, gar nichts. Ich übernehme die Verantwortung, was heißt das schon. Nichts, nicht einmal, ich bin schuld daran. Im Gegenteil: es heißt, wenn ihr glaubt, einen Schuldigen zu brauchen, dann nennt halt mich schuldig, deswegen bin ich es noch lange nicht.

Intransparenz ist aber die Weigerung, Antwort auf kritische Fragen der Gesellschaft zu geben. Die „Antwort“ steckt in der Verantwortung. Intransparenz ist Verantwortungslosigkeit, Flucht vor der Verantwortung. Von der Agentur Cofag, die 15 Milliarden Corona-Förderungen völlig unkontrollierbar abwickelt, bis zum abgewürgten Ibiza-Untersuchungsausschuss, wo Kurz in einer Rolle als antwortverweigernder Filibuster-Clown zu brillieren meinte: ein Feuerwerk der Antwortverweigerung, ein Fanal der Unverantwortlichkeit.

So einer fordert uns nun also auf, „Eigenverantwortung” zu übernehme. Ziemlich eigen, muss man sagen. Der Mann Kurz hat ja nie auf eigene Rechnung agiert. Stets hatte er eine Partei, die ihn nährte, für ihn Verantwortung übernahm, seine Rechtsanwaltskosten bezahlte, seine Propaganda alimentierte, seine Spenden abwickelte, seinen Zugriff auf öffentliche Mittel ermöglichte. Und so einer fordert uns auf, „Eigenverantwortung“ zu übernehmen? Ein Berufsfunktionär, dessen ganze Existenz vornehmlich mit Steuergeld und weniger vornehm mit Spenden finanziert wurde, und der in führender Position unser Land rundum in Schwierigkeiten brachte: Vom ungebeten Trump-Fan-Boy bis zur ebenso unerbetenen Orbán-Loyalität – wer hat ihn danach gefragt? Und wer hat die Antwort gewünscht, dass Österreich bei der Weltmacht Nummer Eins und in der EU in Verschiss geriet? Wer übernimmt dafür Verantwortung? Von Verantwortung für die Inhumanität den Flüchtigen auf Lesbos oder diversen Ab- oder eben nicht Abgeschobenen gegenüber reden wir nicht einmal.

Gesellschaftliche Verantwortung, das erinnert an das Mutterland des Thatcherismus. Margaret Thatcher sagte: There is no such thing as society. Soll heißen, seid unsolidarisch und übernehmt Eigenverantwortung, da es eine gemeinsame Verantwortung nicht gibt!

Diesen Satz wandeln Thatchers Epigonen nun ab in den neuen Boris-Johnson-Sebastian-Kurz’schen Merksatz: There is such a thing as society, as long as we deem it useful.

Wie schon bei Flüchtlingspolitik (australische Inseln), und Brexit (wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass) dient Boris Johnson wieder Sebastian Kurz als Handlungsvorbild: Wir müssen die Zähne zusammenbeißen und uns, nachdem Gesellschaft als Kurzzeitvorwand diente, die Wirtschaft zu retten und undurchsichtig zu sanieren, von dieser Illusion verabschieden und in der Pandemie trotz erhöhtem Risiko nun auf eigene Faust operieren. Das Versagen der politischen Spitze wäre sonst zu deutlich sichtbar.

Also jagen sie uns in den Abgrund der Eigenverantwortung, und wenn die Krise dann schlimm genug ist, entdecken sie Gesellschaft für sich wieder. Die Frechheit siegt ja allerorten und in der Geschichte jederzeit. Kopfscheißen ist das neue Haarkraulen, und Eigenverantwortung ist die neue, Kurz’sche Übersetzung für das schöne altdeutsche „leckt mich!“. Diese Kanzler-Parole übernehmen wir – voller Eigenverantwortung – doch gern.


Distance, hands, masks, be considerate!

Ihr Armin Thurnher

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