Dürfen wir die Pandemie als gesellschaftliches Problem entsorgen?

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 466

Armin Thurnher
am 12.07.2021

Abonnieren Sie Armin Thurnhers Seuchenkolumne:

Die Impfrate steigt nicht schnell genug, die Politik jongliert mit Zahlen, und der Herbst kommt mit einem Déjà Vu auf uns zu. Epidemiologe Robert Zangerle schildert die Lage und wägt ab, welche Maßnahmen zur Steigerung der Impfrate anzuwenden wären. A.T.

»Der Rausch war kurz. Kollabierende Ansteckungszahlen und Spitzentempo beim Impfen sind leider Vergangenheit. Folgen hat das bislang nicht, Spitaleinweisungen und Tote gibt es weiterhin kaum. Doch niemand kann mit Gewissheit sagen, ob es dabei bleibt. Wir nehmen gerade Anlauf zu einer vierten Welle. Kommen auf deren Höhepunkt wieder Spitäler an ihre Grenzen? Oder sind steigende Fallzahlen kein Grund mehr zur Sorge, weil dank der Impfung die schweren Verläufe nicht mehr im gleichen Ausmaß ansteigen? Die ersten Erfahrungen aus Israel und Großbritannien, zwei Länder, die beim Impfen vor allem bei der älteren(!) Bevölkerung ein gutes Stück weiter sind als Österreich, zeigen eine deutliche, aber längst nicht vollständige, Entkoppelung von Fällen-zu-Krankenhausaufenthalten-zu-Todesfällen. Das Durchschnittsalter der positiv Getesteten liegt zurzeit bei 30 Jahre, im Sommer 2020 waren es noch um 35 Jahre. Allerdings: Diese Entwicklung kennen wir vom letzten Sommer. Auch damals steckten sich zunächst vor allem Junge an, bevor das Virus im Herbst wieder auf die Älteren übersprang (passierte kontinuierlich ab Mitte September).

„Die Krise redimensioniert sich. Sie wandelt sich von einer akuten gesamtgesellschaftlichen Herausforderung zu einem individuellen medizinischen Problem“, sagte der Regierungschef bei einem Videogespräch mit der Kleinen Zeitung und den anderen Bundesländerzeitungen . Der Zweck dieses politischen Spins ist die Abwälzung sämtlicher Verantwortung. Gefüttert wird er mit Verzerrungen, z.B. „Fünfeinhalb Millionen sind geimpft, darunter neunzig Prozent der über Achtzigjährigen, also der am meisten Gefährdeten. Bald werden auch fast alle über 65 immunisiert sein.“

Darf ich dem fragestellenden Chefredakteur Hubert Patterer mit meinem Fact Checking Department aushelfen? Geimpft sind am 10. Juli 5.005.125 Menschen, bei den über 80-Jährigen sind knapp unter 90% teilimmunisiert (nicht vollimmunisiert, wohlgemerkt!), und das inflationäre „bald“ tut weh. Das ist nix für klinische Epidemiologen, das ist etwas für Politologinnen und Politologen. Wer sich in diesen Diskurs begibt, kommt darin um, ist man geneigt zu sagen. Die Füllung dieses Füllhorns scheint unerschöpflich zu sein. Man beneidet Sisyphos ob seiner leichten Aufgabe. Nur: Alles, was wir akzeptieren, wird zur Norm.

Ob wir (fast) ohne Einschränkungen mit dem Virus leben können, müssen wir noch beweisen. Der erste Versuch im letzten Sommer ist gescheitert. Die Chancen stehen nicht schlecht, dass dieser „Erfolg“ wiederholt werden kann. Man vermittelt bewusst oder unbewusst, dass „Pandemie vorbei“ sei, und das erinnert fatal an den Mai/Juni 2020. Auch wenn die Impfung ein wirklicher Gamechanger ist, so befinden wir uns eigentlich erst am Beginn des Endes der Pandemie. Der politische Wettstreit mit laufender Fortführung der Öffnungsschritte und der im Vorhinein festgeschriebene Verzicht auf die Hygieneregeln, führt klar zu einem falschem Sicherheitsgefühl bei Nicht-Geimpften und zu wenig reflektiertem Verhalten bei Geimpften. „Data not dates“ gilt einfach nicht, offenbar auch nicht für den 22. Juli.

Der effektive Reproduktionsfaktor Reff lag am 26. Juni nach offizieller österreichischer Schätzung (AGES) bei 0,80, beim Swiss Data Science Center (SDSC) bei 0,93 und nach Berechnungen der ETH Zürich bei 0,89. Schwankungen treten insbesondere bei sich ändernder Dynamik und bei niederen Fallzahlen auf. Für den 4. Juli ist die Schwankung viel größer. Die AGES (und das Prognosekonsortium) schätzen deutlich unter 1, das SDSC hingegen deutlich über 1 (Berechnungen gingen mindestens 1 Woche zurück). Der Lockerungsschritt vom 1. Juli hat ganz offensichtlich zu verändertem Verhalten geführt, sodass die Annahme des Prognosekonsortiums aufgrund internationaler Studien zu Öffnungen und Lockerungen von einer 33-prozentigen Erhöhung der effektiven Reproduktionszahl durch die neuen Öffnungen ausgeht. Dann käme ich auf einen „vermuteten“ aktuellen Reff Wert von 1,2 und würde für Anfang August die täglichen Fallzahlen im 7-Tagesschnitt auf knapp über 200 schätzen (Verdoppelungszeit von 3 Wochen bei Reff von 1,2). Das Prognosekonsortium schätzt jeweils für eine Woche, und vom 7. -14. Juli prognostizierte es eine Steigerung um 3%, von 97 auf 100 Fälle. Das ist sehr konservativ, dem entspräche ein Reff -Wert von kaum über 1. Sicherlich ist die Einschätzung des Prognosekonsortiums sehr stimmig, dass „das Fallgeschehen zunehmend von singulären Cluster-Ereignissen getrieben wird, die nicht prognostiziert werden können. Kurzfristige, sprunghafte Veränderungen insbesondere in der Wachstumsrate der Neuinfektionen sind deshalb zunehmend wahrscheinlich“. Aber deshalb die Wachstumsrate so konservativ zu berechnen, leuchtet mir nicht ein. Wir werden sehen.

Der Impfmotor kommt langsam ins Stottern, ein europaweites Phänomen, das selbstverständlich nicht davon entbindet, viel mehr zu tun, damit die 4. Welle weder die Krankenhäuser überlastet noch zu einer schrecklichen Long-Covid-Epidemie führt. Das hängt gänzlich vom weiteren Impffortschritt ab. Das Prognosekonsortium hat ein Szenarium bis Ende September modelliert, das ist keine Prognose, die die Impfrate und Impfgeschwindigkeit in den nächsten 3 Monaten berücksichtigt, ohne dass wir wissen, wo wir da landen werden. Wenn die Impfgeschwindigkeit im Vergleich zum Juni um 40 % abnimmt, kann bis Ende September nur noch ein Impfplafond von 60 % (Vollimmunisierung) erreicht werden.

Bei 60 % reduzierter Impfgeschwindigkeit kann der Impfplafond von 60 % lediglich bei den Teilimmunisierungen (Erststichen) erreicht werden. Die Abnahme bei den Erstimpfungen in den letzten 4 Wochen lässt diese Annahmen durchaus realistisch erscheinen. Ihre Schlussfolgerung: Die entscheidende Präventionsmaßnahme zur Verhinderung einer Welle in der Größenordnung von Herbst 2020 ist das Erreichen einer möglichst hohen Durchimpfungsrate (Vollimmunisierung). Gelingt es, die Durchimpfungsrate (Vollimmunisierung) bei aktuellem Impftempo und bei aktuell geltenden Schutzmaßnahmen auf 70 % der Gesamtbevölkerung zu erhöhen, so ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Virusverbreitung der Delta-Variante eine Größe erreicht, die ein hohes Systemrisiko mit sich bringt, als gering einzuschätzen (aber nicht unmöglich).

Mein Kommentar: Ende September ist für mich noch nicht die kritische Zeit. Der Übergang des Virus in die ältere Bevölkerung erfolgte 2020 erst ab Mitte September, mit dem Ende des saisonalen Effektes ist im Oktober zu rechnen. Und der fast extrem langsamen Steigerung der Fallzahl (im Median) kann ich nicht ganz folgen (siehe oben), aber das wird in drei Wochen schon ein wenig klarer sein. Ganz am Schluss schreibt das Prognosekonsortium: Maßnahmen, welche nur geringe Einschränkungen für die Bevölkerung bedeuten, jedoch zur Dämpfung des Anstiegs der Fallzahlen beitragen, sollten beibehalten werden. Dies gilt insbesondere für die Aufrechterhaltung eines niederschwelligen und breitflächigen Testangebots vornehmlich mit PCR-Testverfahren. Schon in Ordnung, aber wo bleiben die Maskenpflicht und Lüftungsvorschriften? Beides wäre doch smart, pragmatisch und vor allem, à la longue, lohnend für alle.

Von Menschen ausgestoßene Aerosole können sich in schlecht belüfteten Innenräumen ansammeln und das Risiko einer SARS-CoV-2-Übertragung erhöhen. CO2-Sensoren sind ein einfaches und kostengünstiges Mittel, um schlechte Durchlüftung anzuzeigen. Raumnutzende können so adäquate Maßnahmen treffen, z. B. die Fenster öffnen oder den Raum verlassen. CO2-Sensoren stellen ein zu wenig genutztes, einfaches Mittel im Kampf gegen die COVID-19-Pandemie dar.

Um zum Thema zu kommen, noch ein Zitat aus dem Policy Brief des Prognosekonsortiums: Der Maximierung der Durchimpfungsrate (Vollimmunisierung) sollte oberste Priorität eingeräumt werden. Alle umsetzbaren Maßnahmen zur Steigerung der Impfbereitschaft sollten möglichst rasch (falls möglich noch im Juli) ergriffen werden. Konkret? So schaut es aktuell aus:

Am 10. Juli sind 41,5% der Bevölkerung vollimmunisiert und 56,2% teilimmunisiert, die Abdeckung reicht bei den Vollimmunisierten von 38,6% in Wien bis zu 49,9% im Burgenland und bei den Teil-Immunisierten von 52,1% in Oberösterreich bis zu 62,1% im Burgenland. Die Unterschiede zwischen  den Bundesländern variieren für die Vollimmunisierten in allen Altersgruppen. Ein besonders großer Unterschied von 20,3% liegt bei der Gruppe der 45-54-Jährigen (Steiermark 39,8%, Vorarlberg 60,1%) und bei der Gruppe der 65-74-Jährigen (Wien 65,0%, Burgenland 85,6 %) vor. Bei den Teilimmunisierten liegt der Unterschied bei der Gruppe der 65-74-Jährigen zwischen Wien und Burgenland immer noch bei 16,4% (Wien 73,3% und Burgenland 89,7%). Unterschiede auf Gemeinebene (Teilimpfung) sind zum Teil beträchtlich und schwanken von Auerbach (OÖ) mit nur 28,0 % bis Spitz an der Donau (NÖ) mit 72,8%.

Großbritannien: in allen Altersgruppen über 50 Jahre lag die Abdeckung (Vollimmunisierung) zuletzt deutlich über 90%, lediglich die Vollimmunisierung bei den 50-54-Jährigen lag ganz knapp unter 90%. Im Prinzip liegt Österreich 2 Monate hinter England, wobei offen bleibt, ob Österreich jemals diese extrem hohen Impfraten bei den Älteren erreichen kann. Trotzdem steigen in Großbritannien, zwar in wesentlich schwächerem Ausmaß als die Fälle, die Krankenhausaufnahmen. In der Woche bis 6. Juli gab es 3081 Krankenhausaufnahmen, eine Steigerung um gut 50% gegenüber der Woche zuvor. Die täglichen Krankenhausaufnahmen liegen inzwischen deutlich über 500 Patienten. Das einzige, was in England frappiert, ist die fehlende systematische Impfung der 12-18-Jährigen, das zu diskutieren ist heute kein Raum.

Eine eigenartige Stimmung greift unter den Experten Platz, schwankend zwischen „wird schon gutgehen“ und fast einer Verzweiflung darüber, wie die Impfrate in Österreich wohl gesteigert werden könnte. So gibt es Überlegungen in der Ampelkommission, die 3G Regel zu modifizieren, „der Vertreter aus XY (anonymisiert um sinnloses Bashing zu vermeiden) verweist darauf, dass die Impfbereitschaft durch das niederschwellige und kostenlose Testangebot konterkariert werden könnte. Er regt an, über die Anwendung von 1G statt 3G nachzudenken.“ Eine andere Stimme aus der Ampelkommission: „Eine Reduktion des Testangebotes bzw. die Erhöhung der diesbezüglichen Zugangsschwellen würde die Impfbereitschaft wohl weiter erhöhen“.

Eine interessante Entwicklung, war es doch so, dass in Österreich Geimpfte relativ lange im Vergleich zu Getesteten ungleich behandelt wurden. Das COVID-19-Maßnahmenrecht hat zu lange zwar eine geringe epidemiologische Gefahr aufgrund eines negativen Testergebnisses oder einer durchgemachten Infektion mit SARS-CoV-2, nicht jedoch auch aufgrund einer Impfung gesehen, obwohl längst bekannt war, dass die Impfungen auch vor Infektionen schützen, und falls sich eine geimpfte Person ansteckt, die geringere Viruslast die Übertragbarkeit zusätzlich reduziert (gilt so für vollständig Geimpfte, nicht für die dümmlichen 3 Wochen nach der 1. Impfung). Diese Regelung spiegelt das nicht direkt angesprochene Ziel wieder, lediglich die Intensivstationen nicht zu überlasten und der Wirtschaft entgegen zu kommen.

Ob sich einzelne Personen bei der jetzigen 3G-Regel gezwungen sehen könnten, durch eine Impfung auch für sich die Ausnahme von Beschränkungen zu erreichen, ist für die grundrechtliche wie ethische Bewertung grundsätzlich irrelevant. Eine 1G-Regel, wo Freiheitsbeschränkungen für geimpfte Personen zurückgenommen werden, aber weniger so für Getestete und „Genesene“, würde Ungleichheit schaffen und käme der Grenze zur faktischen Impfpflicht sehr nahe. Eine allgemeine Impfpflicht ist aus ethischer, rechtlicher und soziologischer Sicht abzulehnen. Sicher, das Testen muss den neuen Gegebenheiten angepasst werden: die Gültigkeitsdauer des Antigentests macht schon lange Kopfzerbrechen, neuerdings auch die reduzierte Sensitivität bei Geimpften, die es erschwert, Cluster zu entdecken. Wie kann der Antigentest mehr und mehr durch die PCR ersetzt werden (es gäbe auch Alternativen zum „Gurgeln“ )? Für die Nachtgastronomie besonders wichtig.

Mehr und mehr taucht ein Punkt auf, der in der bisherigen Diskussion zur Optimierung der Impfkampagne umgangen wurde. Ein vages Andeuten (aus der Ampelkommission) gibt es jetzt: „Darüber hinaus sei aber unklar, was hier im Hinblick auf tatsächliche Zukunftspläne vorgesehen ist, zumal das Thema Incentives nicht angesprochen ist.“ Anreize (Incentives), gar finanzieller Natur? Ist das ethisch vertretbar? In der folgenden Tabelle beantworten Govind Persad und Ezekiel J. Emanuel, zwei prominente Ethiker und Juristen aus den USA, Fragen zu Nutzen und Einwänden von Anreizen, inklusive finanzieller Anreizen, recht ausführlich .

 

Persad und Emanuel kommen zum Schluss, dass Anreize ethisch vertretbar, gar nicht so selten sogar wünschenswert sind. Der vorenthaltene Bonus für Angestellte an der Kasse von Supermärkten oder die knausrigen Boni für das Gesundheitspersonal sind auch nichts anderes. Gehören Gefahrenzulagen für manche Berufe aus ethischen Gründen verboten? Selbst Lotterien halten Persad und Emanuel für vertretbar, betrachten aber andere Lösungen als effektiver. Z.B. ist ein Gutschein von 25 Euro für alle effektiver als ein sehr unwahrscheinlicher Lotteriegewinn von 1 Million EURO. Das lehren Verhaltensökonomen schon lange, bei HIV konnte es gezeigt werden.

Natürlich überlegt auch das Gesundheitsministerium, wie die Bevölkerung von der Impfung überzeugt werden kann. Ein Konzept zur Impfkommunikation wurde am Donnerstag der Ampelkommission vorgelegt. Es mutet freilich etwas skurril an, wenn vorgeschlagen wird, etwa eine Impfung an Friedhöfen unter dem Motto „Immunisieren statt niederlegen“. Etwas geschmackssicherer ist die Idee einer Impfung im Museum mit Gratiseintritt. Eine Unzahl an Vorschlägen kursiert, sie zeigen aber, dass man sich auf diese Phase der Impfungen schlecht vorbereitet hat. Aber auch, dass Expertise aus Marketing, Marktforschung und bloßes Krisenmanagement statt Expertise in Public und Community Health dominiert. Das erinnert ein wenig an die Massentests im Dezember 2020 und Jänner 2021, wo, mit der Ausnahme von Vorarlberg eher ein technokratisches Mega-Krisenmanagement, aber keine Public-Health-orientierte gemeindenahe Versorgung Berücksichtigung fand. Das Unterlassen einer zweiten Testung in Wien, wofür 10 Tage zur Verfügung gestanden wären, war geradezu der Beweis dafür. Analog kann die Zugänglichkeit zum Impfen ohne Anmeldung in den Impfzentren/Impfstraßen gesehen werden. Ausgerechnet in den Ballungsgebieten, um möglichst viele (auch zu viele) der impfwilligsten jungen Menschen anzulocken. Aber dieses „ohne Anmelden“ war überall total zentral, überall gab es Warteschlangen. Des Öfteren und zum Teil lange her, habe ich das Anmeldesystem als alleinige Möglichkeit infrage gestellt.

Auch die Verwendung des Einmalimpfstoffs von Janssen (Johnson & Johnson) bei diesen jungen Menschen entspringt dem Denken von Krisenmanagement, nicht von Public oder Community Health. Kontaktfreudige Menschen, also junge Menschen, sollten mRNA-Impfstoffe erhalten, um so die Infektionen hintan zu halten, das spielt bei älteren Menschen eine wesentlich geringere Rolle.

Zur Wiederholung: Ein Schutz der ungeimpften Bevölkerung (Kinder unter 12) oder von Immungeschwächten (Ansprechen der Impfung unzureichend), als Bevölkerungsschutz („Community protection“) bezeichnet, ist keine Ja-oder-Nein-Frage, weil hier immer wieder eine fixe Zahl genannt wird (70%, 80%, 85% oder höher). Je mehr Menschen geimpft werden, desto besser. In Analogie könnte man postulieren, dass das auch für die unterschiedliche Art zu impfen gilt. Deshalb ist es eine hervorragende Idee, neben den herkömmlichen Impforten auch in einer Moschee zu impfen, das ist gemeindenah. Zur Auflockerung habe ich das Schweizer-Käse Modell der Prävention umgebaut, um zu zeigen, dass erst die Kombination von mehreren Impfformen („maximaler Pragmatismus“), jeweils sozial und gemeindenah orientiert, größtmöglichen Bevölkerungsschutz herstellen kann.

Als zusätzlichen Anreiz würde ich bei den Impfbussen oder Impfzelten nicht nur eine Mahlzeit anbieten, sondern wahlweise einen Gutschein für Koran , Bibel , Talmud oder Hans Küng, Spurensuche: Die Weltreligionen auf dem Weg oder auch Richard Dawkins, Atheismus für Anfänger zur Verfügung stellen, den man hier einlösen kann. Neben der Unzahl an Vorschlägen wie man impfen soll, kommt noch die unterschiedliche Vorgangsweise durch die Bundesländer. Vorarlberg, das bezüglich flächendeckender Durchimpfung im Vergleich gut dasteht, begeht gerade einen schweren Fehler. Statt eine Scheibe dazu zu tun, entfernt man dort ohne Not eine Scheibe aus dem Schweizer Käsemodels. Vorarlberg will nur noch über Hausärzte impfen. In Zukunft wird es deshalb keine Impfzentren mehr geben, sagte Landesrätin Martina Rüscher. Das ist eine nicht gut durchdachte Strategie, die ein hohes Risiko trägt, im Herbst nicht die gewünschte Antwort zu bekommen.    

Ein kleiner Abstecher in die Ampelkommission: „Demzufolge sollen in XY (Bundesland) immunsupprimierte Personen und DialysepatientInnen eine Booster-Impfung erhalten…Wien unterstützt grundlegend…..und rät davon ab, diese Fragen bundesländerweise unterschiedlich zu regeln und ersucht um eine zentrale Vorgabe des Bundes.“ Muss ich also der herztransplantierten Lehrerin aus der Grafik wohl oder übel eine Wohnsitzverlegung von Tirol nach XY nahelegen? Weil sie nur so zur 3. Impfung als Booster kommt? Das ist in den Sommerferien vielleicht nicht das Schlechteste und in den nächsten Wochen garantiert sicherer als auf den „möglichst großen Bevölkerungsschutz“ zu warten. In einer Studie aus Frankreich konnte die Ansprechrate, gemessen an Antikörpern, so von 40% auf 68% gesteigert werden.

Die wirkliche Lösung, um die Impfraten für die Covid Impfung und zukünftiger Pandemien zu steigern, wäre, ein Pflichtbewusstsein zu schaffen, das die Menschen in die Lage versetzt, in der Impfung das Richtige zu sehen. Die Forschung zeigt ganz klar, dass soziale Normierung sehr effektiv ist, Verhalten zu ändern (z.B. Rauchen), auch in Gesundheitsfragen. Weil jüngere Menschen mehr Zurückhaltung beim Impfen zeigen, wird der wirksame Einsatz von sozialer Normierung in dieser Gruppe besonders wichtig. Eine Politik, die soziale Normierungen fördert, wäre allemal effektiver und nachhaltiger, als mit einer Verschwendung an Zeit, Geld und Ideen nur flüchtige Erfolge zu feiern. Die Lotterien in den USA sind mehr oder weniger gescheitert. Eine Herkulesaufgabe. Soziale Normen, die den Schutz von ungeimpften Kindern und den Schutz von Immungeschwächten ausblenden, weil deren Antwort auf die Impfung fehlt oder unvollständig geblieben ist, werden und dürfen wir nicht akzeptieren.« R.Z.


Distance, hands, masks, be considerate!

Ihr Armin Thurnher

Abonnieren Sie Armin Thurnhers Seuchenkolumne:

Weitere Ausgaben:
Alle Ausgaben der Seuchenkolumne finden Sie in der Übersicht.

12 Wochen FALTER um 2,50 € pro Ausgabe
Kritischer und unabhängiger Journalismus kostet Geld. Unterstützen Sie uns mit einem Abonnement!