Kommen wir ohne Impfpflicht aus der Pandemie? Braucht es eine direkte Impfpflicht? Oder eine indirekte?

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 465

Armin Thurnher
am 10.07.2021

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Am historischen Beispiel Pocken zeigt Epidemiologe Robert Zangerle in diesem Beitrag, „wie eine medizinische Innovation ihre mortalitätssenkende Wirkung sehr langsam und erst unter den entsprechenden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen vollends entfalten kann“. Beispiele aus Österreich, der Schweiz und den USA illustrieren auch die rechtlichen und ethischen Probleme, etwa den Unterschied zwischen Zwangsimpfung, Impfpflicht und Berufsausübungserfordernis. A.T.

»Österreich hat Ende der 70-er Jahre die Impfpflicht gegen Pocken abgeschafft. Sonst gab es in der 2. Republik keine Impfpflicht. In einigen europäischen Ländern gibt es aber sehr wohl Impfpflichten. Sind diese mit den europäischen Menschenrechten vereinbar? Vor einer Antwort soll die Impfpflicht am Beispiel einer früheren Patientin eines inzwischen pensionierten Hausarztes diskutiert werden:

Seuchenkolumne vom 4.Mai 2021: Mein Freund, ein pensionierter praktischer Arzt aus Wien (Dr. B.) hat eine ehemalige Patientin, eine 98-jährige Frau nach langer Zeit vor drei Tagen zufällig getroffen.

Dr. B.: Wie geht’s und haben Sie die Impfung gut vertragen?

98-jährige Frau: Ist die Impfung schon gut? Was soll ich machen?

Dr. B.: Die Impfung ist hervorragend und ganz wichtig für Sie. Sie werden das ganz gut vertragen

98-jährige Frau: Könnten Sie das bitte für mich erledigen?

Dr. B. hat also 1450 angerufen und mitgeteilt, dass er eine frühere, 98-jährige Patientin gerne anmelden würde, weil Sie das selber so will. Die erste Frage war, hat die Patientin ein Risiko, weil derzeit nur Risikopatienten dran seien. Dr. B. meinte, dass ihr Alter wohl genug Risiko sei. Als die antwortende Person bei 1450 jedoch auf einem Risiko beharrte, meinte Dr. B., dass er vorher bei der Frau erst um Erlaubnis fragen müsste, weil das so nicht abgesprochen war. Dann lenkte die Person bei 1450 ein und meinte, dass nächste Woche (also diese Woche) ein mobiles Team sich wegen eines Termins sich telefonisch bei der Patientin melden würde (die Patientin ist in der Mobilität beeinträchtigt). Als sich Dr. B. nach dem genauen Termin erkundigte, wurde er auf den Datenschutz verwiesen. Aber bei einer Risikoerkrankung haben Sie keine Bedenken? fragte Dr. B. zurück.

Seuchenkolumne vom 28.Mai 2021: Sie ist alleinstehend und ohne familiäre Hilfe. Zuerst wurde er abgewiesen, weil im Augenblick Risikopatienten dran seien. Erst nach heftigem Insistieren wurde vereinbart, dass demnächst eine Terminvereinbarung durch das mobile Team selber erfolgen werde. Sie ist bis zum heutigen Tag nicht zustande gekommen. Herr Hacker, könnten sie sich darum kümmern?

Impfung am 11. Juni: Das mobile Impfteam des Ärztefunkdienstes ruft am 11. Juni Dr. B. an, weil es mit der zu impfenden Frau keinen Kontakt herstellen konnte. Keine Stunde später war die Frau mit dem Einmal-Impfstoff von Janssen (Johnson & Johnson) geimpft. Am Tag zuvor ist das noch gescheitert, weil das Impfteam wenige Minuten vor einem geplanten Eintreffen keinen Kontakt herstellen konnte. Die Kontaktaufnahme erfolgt sehr kurzfristig, um „unnötige“ Fahrten zu vermeiden, weil hier sehr lange Wegstrecken zurückgelegt werden, die Impfreihenfolge erfolgt nicht nach räumlicher Nähe. So kam das Impfteam gerade vom 20. Wiener Gemeindebezirk in den 4., wo die Frau wohnt.

Die Frau hat ihre Impfung 6 Monate verspätet erhalten, als Höchstrisikopatientin mitten in der Pandemie. Und es brauchte 6 Wochen intensiver Intervention ihres ehemaligen Hausarztes. Keine Kleinigkeit. Hätte eine Impfpflicht das verhindern können? Wer hätte die Impfpflicht verletzt? Die Stadt Wien oder doch die Frau, die sich nicht „rechtzeitig“ anmeldete oder nicht rechtzeitig das Telefon abhob? Oder ihr Hausarzt, zu dem sie sehr unregelmäßigen Kontakt hat? Die Antwort auf all diese Fragen: keine gesetzliche Regelung ist imstande, solche Lücken in der sozialmedizinischen Versorgung und/oder einer mangelhaften Konzeption der Impfkampagne zu verhindern. Eine allgemeine gesetzliche „Impfpflicht“ wäre also für viele Hochrisikopersonen unnütz. Wie aber ist eine bedingte Impfpflicht, eingeschränkt für bestimmte Berufsgruppen (z.B. Gesundheitspersonal, Militär, Piloten) oder bestimmte Tätigkeiten (z.B. Reisen) zu bewerten?

Am Beispiel der Pockenimpfung kann man sich den Nuancierungen einer Impfpflicht gut annähern, weil die Diskussion um eine Impfpflicht die Pockenimpfung seit ihrer Bekanntmachung 1796 durch Edward Jenner begleitete, und zwar überall. Man sah es als entscheidend an, die Bevölkerung für diese neue Vorsorgemaßnahme zu gewinnen, also musste sie informiert werden. In Österreich hatte Erzherzog Karl 1803 dem Kaiser vorgeschlagen, „Hausbriefe“ zu drucken und an die Bevölkerung verteilen zu lassen. Auf Anordnung des Kaisers verfasste sein Leibarzt, Andreas Josef Freiherr von Stifft, einen solchen „Aufruf“. Dieses Schreiben wurde im Juni 1804 allen Landesstellen übermittelt und in den jeweiligen Landessprachen gedruckt. Die Volksschriften sollten von den Seelsorgern den Eltern bei der Taufe ihres Kindes ausgehändigt bzw. Schreibunkundigen vom Taufpaten oder dem Pfarrer vorgelesen werden. Außerdem, so wurde im Hofkanzleidekret vom 30. Juni 1804 verfügt, sollten die Seelsorger mehrmals im Jahr von der Kanzel herab „bey schicklicher Gelegenheit“ die Eltern über die Pockenschutzimpfung informieren und sie an ihre elterliche Pflicht, die Kinder impfen zu lassen, erinnern. Die Bischöfe mussten entsprechende Weisungen erteilen. In Tirol fruchtete das wenig, Andreas Hofer und sein Berater, der Kapuzinerpater Haspinger, begründeten die Ablehnung der Pockenimpfung nicht nur mit dem von Gott nicht gewollten Eingriff in den menschlichen Körper, sondern damit, dass dadurch den Tiroler Seelen auch „bayerisches Denken“ eingeimpft werden sollte.

Die Pockenimpfung war für alle kostenlos, Impfzeugnisse blieben stempelfrei. Die Euphorie der Ärzte, der Verwaltung und der Regierung so das Pockenproblem zu lösen, griff aber nicht auf die Bevölkerung über. Trotz aller Maßnahmen stellte sich in der Bevölkerung nicht die gewünschte Impfbereitschaft ein; zu viele Kinder blieben ungeimpft. So jagte eine Verordnung die nächste. Die Vorschrift zur Leitung und Ausübung der Kuhpocken-Impfung von 1808 verfügte den Ausschluss Ungeimpfter von Stipendien bzw. von der Aufnahme in Staatsversorgungsanstalten und Waisenhäuser. Später wurde auch noch der Entzug der Armenunterstützung angeordnet, wenn begünstigte Personen ihre Kinder nicht impfen ließen.

Als schärfste Maßnahme erschien die Bloßstellung von „pflichtvergessenen“ Eltern, begleitet von einem Eingriff in die Begräbnissitten: Ein an den Blattern verstorbenes Kind sollte ohne Begleitung eines Geistlichen und der Verwandten bestattet werden. Diese Anordnung mag vielleicht zunächst hygienische Gründe gehabt haben, wie der Wortlaut des Hofkanzleidekrets vom 14. November 1811 nahelegte. Vermutlich hatte diese Hygiene-Richtlinie von Anfang an aber eher bestrafenden Charakter und das Ziel in einer Anprangerung Impfunwilliger. Am Begräbnis eines geimpften Kindes, bei dem die Impfung wirkungslos geblieben war und das danach an den Blattern verstarb, durften nämlich sehr wohl ein Priester wie auch geimpfte oder „geblatterte“ Personen teilnehmen, da diese Personen nicht gefährdet waren.

Die vielen in der Folgezeit erlassenen Verordnungen zeigen die mangelnde Akzeptanz der Schutzimpfung. Deshalb wurde von Anfang an heftig darüber diskutiert, ob der Staat ein Recht habe, die Impfung zu befehlen bzw. die Verweigerung einer Impfung zu bestrafen. Wegen der Unsicherheit in der Ärzteschaft wurde vorerst ein Impfzwang abgelehnt. Kaiser Franz I. hielt in seiner Resolution vom 2. Februar 1811 fest: „Bevor die gänzliche Ueberzeugung nicht vorhanden ist, dass die Vaccination ganz vor den natürlichen Pocken schütze, kann von Seite des Staates nicht zwangsweise vorgegangen werden“.

Jahrzehnte später (1886) weitete Kronprinz Rudolf die Impfpflicht auf Präsenzdiener aus. Das k.u.k Heer galt als Sammelstelle für eine Vielzahl an Menschen und war deshalb prädestiniert für Epidemien. Wenig später, 1888, führte er die Impfpflicht auch in Strafanstalten ein. Ende des 18. Jahrhunderts starben noch bis zu 10 % aller Kleinkinder an Pocken, was insgesamt um die 10% aller Todesfälle ausmachte, in Seuchenjahren oft mehr. Es dauerte dann 100 Jahre, bis die Pocken weitgehend zurückgedrängt waren. Die Pockenschutzimpfung ist deshalb ein gutes Beispiel, wie eine medizinische Innovation ihre mortalitätssenkende Wirkung sehr langsam und erst unter den entsprechenden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen vollends entfalten kann.

Im Ersten Weltkrieg kam es wiederum zu einer Steigerung der Pockenfälle, erneut gab es Rufe nach einer Impfpflicht, die Einführung eines Impfzwangs wurde aber von staatlicher Seite auch weiterhin nicht ins Auge gefasst. Verantwortlich hierfür war „das durch impfgegnerische Bedenken genährte Widerstreben weiter Bevölkerungskreise“. Zudem war man davon überzeugt, mit den vorliegenden Rechtsvorschriften und Maßnahmen das Auslangen finden zu können: Es gab eine gewisse Durchimpfrate, beim Auftreten eines Krankheitsfalls griffen Isolierungs- und Desinfektionsmaßnahmen ein, außerdem gab es die Möglichkeit einer Notimpfung im Seuchenfall.

Erst 1939 wurde mit der „Einführung reichsrechtlicher Vorschriften zur Bekämpfung übertragbarer Krankheiten in der Ostmark vom 14. Juli 1939“, deutsches zu österreichischem Recht und somit auch in Österreich die Impfpflicht eingeführt. Die letzten 18 Pockenfälle wurden 1923 in Vorarlberg verzeichnet; damals war die Seuche – wie schon 1905 – von der Schweiz ausgegangen. 1948 wurde das „Bundesgesetz über Schutzimpfungen vom 30. Juni 1948“ eingeführt, das ebenfalls eine allgemeine Impfpflicht enthielt. 1977 wurde aufgrund der weltweit epidemiologischen Lage die Impfpflicht gegen Pocken in Österreich abgeschafft.

Die „Zuwiderhandlung“, also das Nicht-einhalten der Impfpflicht, war eine Verwaltungsübertretung. Marina Hilbe, eine Historikerin der Universität Innsbruck mit großer Erfahrung in der Geschichte des Impfens: „Es gibt aber meines Wissens nach für Österreich keine Untersuchungen, die die Durchsetzung dieses Gesetzes beleuchten. Wäre spannend, das anhand von Gerichtsakten zu rekonstruieren.“ Im Schweizer Kanton Genf gab es lange eine Impfpflicht gegen Diphtherie. Dort bekamen Eltern, die ihr Kind bis zu einem bestimmten Alter nicht geimpft hatten, vom Kantonsarzt einen Mahnbrief mit dem Hinweis, man sei dazu gesetzlich verpflichtet. Wenn man dann aber nicht zur Kinderärztin ging, geschah nichts weiter. Es gab keine Strafe oder andere Konsequenz. Dennoch war es effektiv: Die meisten gingen zur Kinderärztin und ließen ihr Kind impfen. Eine Zwangsimpfung war weder in der Schweiz noch in Österreich erlaubt. Und stand nicht zur Diskussion.

Dass Impfpflicht und Zwangsimpfung im Prinzip nichts miteinander zu tun haben, untermauern ein ganz altes und ein ganz neues Gerichtsurteil. Als 1901 in Cambridge, im amerikanischen Bundesstaat Massachusetts, eine Pocken-Epidemie ausbrach, wurde von der Stadt erlassen, dass alle Erwachsenen gegen Pocken geimpft werden sollen. Der schwedische Immigrant Henning Jacobson weigerte sich im darauffolgenden Jahr, sich impfen zu lassen, mit der Begründung, dass er als Kind aufgrund einer Impfung ernsthaft erkrankt sei und auch sein Sohn deswegen krank wurde. Der Zwang, einen Krankheitserreger in einen gesunden Körper einzuführen, sei eine Verletzung der Freiheit. Als er zu einer Geldstrafe von 5 Dollar verurteilt wurde, weigerte er sich wiederum, diese zu bezahlen und zog den Fall bis zum obersten Gerichtshof, der jedoch die Verfassungsmäßigkeit einer Impfpflicht unter bestimmten Umständen bestätigte. Die 5 Dollar Strafe wurde zwar nicht erlassen, aber weitere Strafmaßnahmen erfolgten nicht, auch keine Zwangsimpfung.

Diese Entscheidung, die als wichtigste des Obersten Gerichtshofs der USA bezüglich Public Health gilt, geschah zu einem Zeitpunkt, als intensive öffentliche Debatten um das Impfen tobten, bei denen es nach der New York Times um nichts weniger ging als „um einen Konflikt zwischen Intelligenz und Ignoranz, Zivilisation und Barbarei“. Mit dieser Entscheidung wurde auch die Frage nach der Zulässigkeit von Public Health Maßnahmen (wie dem verpflichtenden Impfen) nicht als Frage von administrativen Maßnahmen (wie bei Schulimpfungen) erörtert, sondern grundlegend in den Kontext der verfassungsmäßig garantierten Freiheiten gestellt. Im konkreten Fall von Jacobson hielten die Richter fest, dass es sich bei ihm um eine gesunde Person handle, dass aber eine Anordnung einer Impfung mit negativen Folgen für die Gesundheit gemein und unmenschlich wäre. Die Ablehnung wurde also nur indirekt geahndet, als Geldstrafen auferlegt wurden oder der Zugang zu Schulen untersagt wurde. Der Zwang ging nicht so weit, dass die körperliche Integrität der Impfgegner angetastet wurde.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hält 120 Jahre später eine Impfpflicht ebenfalls für rechtens, hier und hier. „Die Maßnahmen können in einer demokratischen Gesellschaft als notwendig angesehen werden“ urteilte der EGMR Anfang April 2021. Fünf Kinder und ein Vater, alle aus Tschechien, hatten sich an den EGMR in Straßburg gewandt. Alle hatten zu Hause Ärger mit Behörden und Gerichten, weil sie aus verschiedenen Gründen gegen die tschechische Impfpflicht verstoßen haben. Der Vater sollte eine Geldbuße bezahlen, weil er seine beiden Kinder nicht gegen Kinderlähmung, Hepatitis B und Tetanus impfen ließ. Die Impfpflicht gilt, er muss die Geldbuße zahlen, Punkt. Der EMGR hielt die Strafe für mäßig, gleichzeitig wies er daraufhin, dass eine direkte Befolgung einer Impfpflicht durch Gewalt durch keine Verordnung oder Gesetz gedeckt wäre. Darüber hinaus betont er, dass der nicht gestattete Besuch einer vorschulischen Einrichtung im Grunde ein Schutz ist und keiner Strafe entspricht.

Bei Covid steht eine allgemeine Impfpflicht kaum irgendwo zur Diskussion, auch nicht in Österreich. Obwohl es da auch Vorteile gäbe, weil eine Impfpflicht für Unentschlossene eine Erleichterung bringen kann, denn man müsste sich dann nicht mehr rechtfertigen, dass man sich impfen hat lassen. Doch die individuelle Selbstbestimmung, das Entscheidungsrecht bei medizinischen Interventionen, würde verletzt. „Die Bioethikkommission sieht die Impfung als sehr wichtiges Mittel an, gemeinsam die Pandemie zu überwinden. Gleichzeitig ist sie sich bewusst, dass eine Impfpflicht nicht immer geeignet ist, die Rate an Durchimpfungen zu erhöhen. Eine allgemeine Impfpflicht sieht sie auch aus diesem Grund nach wie vor nicht als geboten an“. v

Das Beispiel am Eingang der Kolumne sollte das Unnütze einer allgemeinen Impfpflicht untermauern. Deshalb befremdet die häufige unzulässige Verquickung einer bedingten Impfpflicht mit einer mit körperlicher Gewalt einhergehenden Zwangsimpfung in der öffentlichen Diskussion. Da wird eine Diskriminierung von Nicht-Geimpften beklagt, als ob es die Pandemie nicht mehr gäbe. Den Vogel schoss wieder einmal der SPÖ Vorsitzende von Tirol, Georg Dornauer ab. Er fordert einen Extraschutz für all jene, die sich nicht impfen lassen wollen. So fragte er den Landehauptmann Günther Platter in der Landtagssitzung vom 7. Juli 2021: „Wie stellen Sie sich einen Arbeitnehmerschutz konkret vor, bis zu einem Diskriminierungsverbot?“  Er (und selbstredend Markus Abwerzger von der FPÖ) vertraten öffentlichkeitswirksam die Position des Volksbegehrens „FÜR IMPF-FREIHEIT“ vom Jänner 2021, dessen Anliegen es war, den Art.7 (1) der Österreichischen Bundesverfassung mit der Forderung, dass auch Nicht- Geimpfte in keiner Weise gegenüber anderen Personen benachteiligt werden dürfen, zu ergänzen. Dieses Volksbegehren erreichte insgesamt 259 150 Eintragungen, Bevollmächtigter war Rudolf Gehring von der CPÖ (Christliche Partei Österreichs).

Landeshauptmann Günther Platter versicherte den Klubobleuten von FPÖ und SPÖ, in ihrem Sinne zu handeln. Einzig Dominik Oberhofer, Abgeordneter für die NEOS im Tiroler Landtag, wunderte sich über all das Gesagte und hatte Verständnis dafür, dass ein Betrieb geimpfte Bewerber bevorzugt. Er ging sogar einen Schritt weiter und verlangte in diesem reichlich irrational aufgeheizten Klima sogar eine Impfpflicht für körpernahe Dienstleister. Ganz im Sinne der österreichischen Bioethikkommission. Das sind nur willkürlich ausgewählte Beispiele zur Veranschaulichung, die Auswahl ist insgesamt leider riesig.

„Die Bioethikkommission hat in der Stellungnahme vom 25. November 2020 (Punkt 6) bereits dargelegt, dass die Impfung gegen COVID jedenfalls für die Dauer der Pandemie grundsätzlich als Berufsvoraussetzung für Gesundheits- und Pflegepersonal und ähnliche Berufsgruppen mit intensivem Körperkontakt zu Menschen verschiedenster Vulnerabilität (Friseurinnen und Friseure, Masseurinnen und Masseure, und dgl.), zumindest für die Dauer der Pandemie, als Erfordernis für die Berufsausübung gelten soll.“ In einer Stellungnahme vom 4. Mai 2021 wurde diese Beurteilung wiederholt und bekräftigt. In der Umsetzung sollte eine positive Motivation im Vordergrund stehen und negative Effekte auf die Versorgungssicherheit mit Pflege- und Gesundheitspersonal vermieden werden. „Ich würde hier nicht von einer Impfpflicht, sondern von einem Berufsausübungserfordernis sprechen. Als Leukämiekranker will ich ja nicht von jemandem behandelt werden, der mich anstecken und quasi umbringen könnte. Im Epidemiegesetz ist auch vorgesehen, dass das Gesundheitspersonal geimpft werden muss. Wobei es auch um dessen Schutz geht“, so Christiane Druml, Vorsitzende der Bioethikkommission.

Es besteht ein beträchtliches Risiko, dass nicht geimpftes Personal Infek­tionen mit COVID-19 in Pflege- und Gesundheitseinrichtungen hineintragen kann, und dass diese Infektionen zu Erkrankungen und Todesfällen – etwa bei Personen, bei denen aus medizinischen Gründen die Impfung nicht die gewünschte Wirkung erzielen kann oder nicht in Betracht kommt, oder für die noch keine Impfung zur Verfügung steht, was bei Kindern wohl noch einige Zeit der Fall sein wird – führen können. In solchen Fällen würden Menschen unnötigerweise großen Schaden erleiden und der betroffene Träger einer Pflege- oder Gesundheitseinrichtung mitunter seine Fürsorgepflicht verletzen und für den Schaden haften. Die Bioethikkommission empfiehlt Überlegungen in Richtung einer verpflichtenden Impfung nach § 17 Abs. 3 Epidemiegesetz 1950 als Voraussetzung für die Ausübung eines Pflege- oder Gesund­heitsberufes in Betracht zu ziehen. Sie sieht die Verhältnismäßigkeit einer solchen Maßnahme in der aktuellen Situation gegeben.

International überwiegen Kommentare mit ethischer Expertise für eine Impfpflicht. Zuletzt wurde nach dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit (jeweilige Suche nach der am wenigsten restriktiven Maßnahme) eine Stufenleiter vorgestellt („vom Kanister Essig bis zum Löffel Honig?“). Die unterste (Keine Maßnahme) und die oberste Stufe (Erzwungene Impfung) dieser Stufenleiter kommen für die praktische Implementierung aus ethischen und rechtlichen Gründen nicht in Betracht, spielen aber für die Logik der Verhältnismäßigkeit eine zentrale Rolle.

 

Bei Ablehnung einer Impfung gegen Covid in diesen Berufsgruppen werden allgemein Maßnahmen zu Umgruppierung/Neuzuteilung und beruflichen Einschränkungen präferiert. Das sieht auch die österreichische Bioethikkommission so, wortwörtlich: „Allerdings wäre … bei der Ausgestaltung der Impfpflicht wie auch bei deren Durchsetzung wiederum das Prinzip der Verhältnismäßigkeit zu wahren. So kann es insbesondere geboten sein, Abstufungen nach Gefährdungsklassen im Arbeitsbereich vorzunehmen, wobei insbesondere auf die Elemente der Körpernähe (vgl. etwa Personal mit unmittelbarem Patientenkontakt einerseits und reines Laborpersonal andererseits) und der Vulnerabilität der gefährdeten und zu schützenden Personen (vgl. etwa Pflegebedürftige über 80 Jahre oder immunsupprimierte Personen) abzustellen wäre“.

Abgehandelt wird das bereits in Italien: Im Einklang mit der von der italienischen Regierung eingeführten Impfpflicht für das Gesundheitspersonal sind 123 ungeimpfte Mitarbeiter im Südtiroler Sanitätsbetrieb und in Heimen vom Dienst suspendiert worden – und zwar ohne Lohn. Jeder kann sich aber jederzeit impfen lassen, womit auch Suspendierungen unwirksam werden“, erklärte der zuständige Landesrat Thomas Widmann. Eine völlig andere Situation in Vorarlberg: Lebenshilfe fordert Ende der Maskenpflicht. Die Lebenshilfe Vorarlberg fordert, dass die Maskenpflicht im Behindertenbereich abgeschafft wird. Man kontrolliere streng die „3-G-Regel“, zudem seien 83 Prozent der Klienten und 65 Prozent der Mitarbeiter geimpft. Solidarität mit Klienten treibt schon sonderliche Blüten. Schändliche 65%!

Erstens, das Selbstbestimmungsrecht ist nicht absolut, das hat weder John Stuart Mill so gesehen, noch die Europäische Menschenrechtskonvention, die einräumt, dass Gewissens- und Religionsfreiheit sehr wohl durch öffentliche Sicherheitsbedenken eingeschränkt werden kann.

Zweitens, und kritischer, medizinisches Personal ist dem Prinzip der Schadensvermeidung verpflichtet (primum nil nocere).

Drittens, das Fördern einer Autonomie unter medizinischem Personal sollte nicht die Autonomie der Patienten begrenzen. Wenige Patienten nur können sich ihre Behandler aussuchen. Während eine Impfpflicht einen Zwang für das medizinische Personal ausübt, kann das Fehlen einer Impfpflicht einen noch stärkeren Zwang auf Patienten ausüben. Das medizinische Personal kann wählen zwischen Impfung und Job. Patienten können nicht wählen, ob sie krank werden oder nicht und auch nicht wählen, wer sie behandelt!« R.Z.


Distance, hands, masks, be considerate!

Ihr Armin Thurnher

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