Vom Schütten, von globaler Hafeneckerei und von Grandseigneurs der Knochenhärte.

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 462

Armin Thurnher
am 07.07.2021

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Schwierige Zeiten für den Seuchenkolumnisten. Kaum dass Sebastian Kurz etwas sagt, ergießt sich ein Kolümnchen über ihn, was heißt Kolümnchen, es stürzt ein wilder Bach von Invektiven über ihn, gegen den keine Wildbachverbauung und keine Message Control hilft. Aber soll ich Ihnen etwas sagen? Manchmal wird man des Getöses überdrüssig. An Phrasenunglücken und Naturkatastrophen herrscht kein Mangel. Hagelunwetter, Schlammlawinen, es schüttet hier, es schüttet dort, überall ist ein Schüttexzess. Da muss man nicht immer mitschütten.

Ich verstehe die Freunde, die nicht wollen, was ich ja auch nicht will, dass jeder Kurz’sche Phrasenangriff einen Gegenangriff auslöst, die mehr über Poesie, Musik, Natur lesen möchten, aber andererseits gehen diese Angriffe, begleitet vom Flankenschutz der Inserate, allzu glatt durch die Medien. Da habe ich das Gefühl, ich muss wenigstens aus der Hecke ein bisschen dagegen schießen.

Wenn er sagt „lass uns Gräben zuschütten“, habe ich das Gefühl, er sagt das noch vom Caterpillar herunter, mit dem er die ganze Zeit tiefe Gräben aufgerissen hat. Jetzt ist er nicht als der Seuchenmessias aus der Corona-Chose herausgekommen, als den er sich anfangs gesehen hatte, und jetzt will er zuschütten.

Ich empfehle ihm, sich selbst zuzuschütten, vielleicht mit einem ordentlichen Veltliner, ich denke, das könnte nicht schaden. Oder ein Schüttkurs bei Hermann Nitsch? Anschütten, zuschütten, um sich schütten – da kann was draus werden. Patzen und Schütten gehen übrigens gut zusammen, das klingt schon nach Alchemie, nach Messagehexenmeisterhinterzimmer, wo die Gebräue brodeln und die Tränklein zusammengeschüttet werden.

Schütten bedeutete ursprünglich so viel wie schütteln, auch zerzausen und übel zurichten. Gut denkbar, dass der Erste Zuschütter solches im Sinne hat. Weil er immer im Sinn hat, den Gegner zu zerzausen, vor allem wenn er so tut, als wolle er ihn nur hübsch frisieren. Ich fürchte die Friseure, wenn sie als Friedenstauben posieren.

Das Gegenteil des Zuschütters ist natürlich der Aufdecker. Der Erste Zuschütter mag keine Aufdecker, mögen sie nun in juristischer Form (Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft) oder in journalistischer Gestalt erscheinen. Seine Aufforderung zum Zuschütten interpretiere ich daher ohne weiteres nicht als Aufruf zur Versöhnung, sondern als Aufforderung, die Aufdecker und vor allem das, was sie aufdecken wollen, endlich zuzudecken. Deswegen hat er den Ibiza-Untersuchungsausschuss abdrehen lassen, eine Tat, die anderswo mit Abwahl bestraft würde, hierzulande aber mit wohlwollender Gleichgültigkeit zugeschütttet wird.

Mit einem Wort, ich kann das alles nicht ernst nehmen. Zumindest ab und zu gönne ich mir also ein Schüttpäuschen oder versuche es zumindest.

Ein dem Schütten benachbartes Wort heißt übrigens Tschutten. Alemannen wissen, was es bedeutet. Ich wusste lange nicht, wo es herkommt, jetzt habe ich nachgeschaut weiß es. »Shoot the ball«, sagte man im Mutterland des Fußballs, alternativ zu to »kick it«, to shoot, daraus wurde tschutten, oder, wie man bei uns in Vorarlberg sagte, Tschutta. Fußballspielen. Tschutten statt Schütten, Euro 2020.

Seuchenmäßig ist die Fußball-Europameisterschaft ein verrückter Exzess, eine Metapher für Gesellschaften, die sich nicht beherrschen können wollen, eine globale Hafeneckerei. Jetzt schleppen sie halt die Delta-Variante in der Welt herum, auch wenn bei Geimpften die Folgen nicht drastisch sind, sind doch die Spätfolgen nicht zu unterschätzen und noch lange nicht ausreichend erforscht. Siehe die Ausführungen des Co-Kolumnisten Zangerle zum Thema.

Aber die Spiele selbst sind die große Überraschung.

Selbst Österreich war nicht schlecht, gegen Italien sogar richtig gut. Wir haben dem Finalisten Italien wirklich zugesetzt, dessen Trainer Roberto Mancini sagte nach dem Spiel, das sei das Schwerste gewesen, schwerer als alle kommenden Gegner. Was aus zwei Gründen stimmte: Unser Mittelfeld ist tatsächlich Weltklasse und hat den Italiener schwer zugesetzt, auch unsere Verteidigung war prima, wie der Vergleich mit Belgien und Spanien zeigt. Hätten wir auch noch einen Sturm, ja dann … Die spielerische Klasse der Belgier und die Technik der jungen Spanier erreichen wir bei weitem nicht (außerdem war gegen uns Chiellini draußen).

Das Spiel der Italiener besteht nicht mehr aus dem Anschütten von Beton vor dem Tor, sondern aus schnellen, giftig-eleganten Kontern aus einer mit wissenschaftlicher Präzision errichteten Deckung. Die Wiener Austria hatte einmal einen berühmte hundertjährigen Sturm, die Italiener haben eine noch berühmtere einundsiebzigjährige Innenverteidigung: Bonucci und Chiellini, Spielintelligenzbestien mit dem Aussehen von Leichtverbrechern, Kastor und Pollux der Raumdeckung, Grandseigneurs der Knochenhärte. Obwohl sie fast ohne (gepfiffene) Fouls auskommen. Bonucci beging sein erstes Foul im Turnier gegen Spanien!

Die Italiener, deren Spiel ich selten mochte, verloren ihren besten Offensivverteidiger Leonardo Spinazzola im Viertelfinale, er erlitt einen Achillessehnenriss. Mit ihm wären sie klarer Favorit, gegen wen immer, die Dänen, Europameister der Herzen (nach dem Herzstillstand ihres Spielmachers Eriksen im ersten Spiel kann man das wieder sagen), oder England, das schon so lange keinen Titel holte, und jetzt in Wembley zuhause die Chance dazu hat. Und eine großartige Mannschaft. Und noch das mythische Potential ihres Trainers: Gareth Southgate verschoss 1996 im Halbfinale der Europameisterschaft, das England gegen Deutschland verlor, den entscheidenden Elfmeter.

Aber diesmal mag ich die Italiener. Roberto Mancini ist nicht nur ein sympathischer Kerl, er ist ein großartiger Trainer. Die Außendecker klopfen zwar noch immer unerbittlich auf die gegnerischen Röhrln, aber das schnelle Konterspiel der Azurblauen ist von einer flamboyanten Eleganz. Und natürlich haben sie den besten Tormann, auch wenn sich der noch sehr junge Herr Donnarumma gegen Spanien beim Gegentor – dem ersten im Turnier aus dem Spiel – ins falsche Eck warf, beim Elfer des Álvaro Morata (man sah es kommen) flog er ins richtige.

Mit der Euro kann man fußballerisch sehr zufrieden sein. In Wimbledon steht Roger Federer im Viertelfinale (heute 16:30), der Weg zu einem Finalduell mit Novak Djokovic scheint weit offen, wenn das Knie hält. Die gefährlichsten Gegner Zverev und Medvedev sind schon weg. Und in der Tour fahren sie heute gleich zweimal auf den Mont Ventoux. Francesco Petrarca verteidigt das gelbe Trikot.


Distance, hands, masks, be considerate!

Ihr Armin Thurnher

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