Die vielen Facetten von Long Covid. Plus: Corona bei Sportlern und Kindern

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 457

Armin Thurnher
am 01.07.2021

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Heute stellt Epidemiologe Robert Zangerle vier Studien vor, die Auswirkungen von Long Covid darstellen und bedankt sich für die anhaltend wertvolle Mitarbeit wieder einmal bei seinem Kollegen Niki Romani von der MedUni Innsbruck. Auch bei Sportlern, die meisten nicht schwer an Covid erkrankt, zeigen sich lange Nachwirkungen. Bei Kindern stellt man ein gänzlich neues Krankheitsbild fest. Für End of Covid Feiern besteht also kein Anlass. A.T.

»Auch wenn die jetzige Europameisterschaft bei manchen das Gefühl aufkommen lässt, dass Sportler sich nicht um Covid kümmern, so entspricht das nicht den Tatsachen. Nicht wenige werden täglich mit PCR getestet, viele sind vollständig geimpft. Long Covid ist bei Sportlern durchaus gefürchtet, auch in Vorarlberg: Rodelweltcup-Sieger Thomas Steu aus Bludenz kämpft mit den Nachwirkungen einer Covid-19-Erkrankung. Während sich seine Teamkollegen bereits auf den kommenden Olympiawinter vorbereiten, ist für den Bludenzer nicht an Training zu denken. Er hat seit Wochen mit fast allen möglichen Symptomen einer Coronavirus-Erkrankung zu kämpfen. Sieben Kilo hat der Doppelsitzer-Spezialist abgenommen. Mehr als kurze Spaziergänge waren für Steu Ende Mai immer noch nicht möglich. Erst jetzt, also Ende Juni gibt es leichte Entwarnung: „Es sind noch weitere Untersuchungen ausständig, aber für das reine Krafttraining habe ich von den Ärzten bereits grünes Licht bekommen. Gewisse Übungen sind noch nicht möglich, da die Versorgung der Lunge unter Vollbelastung noch nicht optimal verläuft, aber es wird von Tag zu Tag besser“. Die Olympiasaison sieht Thomas Steu nicht in Gefahr.

Thomas Steu ist nicht der einzige Vorarlberger Spitzensportler, der mit den Folgen einer Covid-19-Erkrankung zu kämpfen hatte: Auch der Vorarlberger Eishockey-Shootingstar Marco Rossi aus Rankweil hatte monatelang Probleme und musste seinen Start in der nordamerikanischen National Hockey League (NHL) verschieben. Als 70-jähriger Pensionist, dessen Causa prima Sport ist, haben mich solche Schilderungen, und viele ähnliche zuvor, immer bewegt. Anhaltende Lungenfunktionsstörungen waren bereits im Frühjahr 2020 bekannt. Wer weiß, wie sich ein älterer Schwimmer fühlt, der die ersten 100-200 Meter einer längeren Schwimmstrecke „irrtümlich“ zu schnell angegangen ist, zollt Long Covid genug Respekt.

Die erwähnten Sportler waren nicht kritisch krank. Länger andauernde, gar bleibende körperliche Funktionsdefizite, gravierende Einbußen in der gesundheitsbezogenen Lebensqualität, bedeutsame seelische und kognitive Einbußen sind jedoch nach einem Aufenthalt auf einer Intensivstation möglich. Solche Folgen werden vereinheitlichend als „Post-intensive-care-Syndrom“ umschrieben. Langfristige Folgen von COVID-19 wurden zunächst bei hospitalisierten Patienten untersucht, die sechs Monate später einen enormen Anteil mit anhaltenden Beschwerden zeigten (63% Muskelschwäche oder Fatigue, schnelle Erschöpfbarkeit), und relativ häufig Schlafstörungen (26%) und Angst oder depressive Verstimmung (23%). Erst viel später folgten Studien, die versuchten, das ganze Spektrum der Infektion mit SARS-CoV-2 abzudecken, wobei die Repräsentativität ihrer Ergebnisse besonders dann in Frage gestellt werden kann, wenn die Rekrutierung und die Durchführung der Studien selbst über Telefon- oder Online-Umfragen oder via App zustande kamen. Mit solchen Methoden ist aber eine Unter- oder Überschätzung der Häufigkeit von Beschwerden kaum vermeidbar.

In den letzten Tagen sind mindestens vier Arbeiten zum Long Covid Syndrom erschienen, deren Studiendesign einerseits einer prospektiven Kohortenstudie entspricht (das heißt, eine Kohorte wird in der Gegenwart zusammengestellt und bis in die Zukunft begleitet, ohne zu wissen, ob und wann eine Erkrankung überhaupt auftritt oder anhält) und andererseits systematisch mildere Verläufe (home-isolated oder non-hospitalized) berücksichtigt. Die Studie Long COVID in a prospective cohort of home-isolated rekrutierte im Frühjahr 2020 312 Patienten aus dem an der südlichen Westküste Norwegens gelegenen Bergen. 312 Patienten entsprechen 82% aller Infektionen der 1. Welle in dieser Stadt. Darunter 247 Patienten, die aufgrund des Verlaufs ihrer Covid-Erkrankung nicht in ein Krankenhaus aufgenommen werden mussten und 65 Patienten, die in ein Krankenhaus aufgenommen wurden. Das ist eine sehr kleine Kohortenstudie, aber dermaßen umfassend repräsentativ, dass es nicht verwundert, dass sie im wissenschaftlich sehr renommierten Nature Medicineerschienen ist . Deshalb stellen wir hier ausnahmsweise das Flussdiagramm vor, das zeigt, wie diese Studie in Bergen organisiert war. Ein Schulbeispiel, dessen Zahlen man leicht nachvollziehen kann und bei dem man auch zeigen kann, dass Probanden einfach aus der Studie ausscheiden, weil sie „verloren gehen“. Typischerweise, weil sie einfach nicht mehr erscheinen (LTF = lost to follow up) oder versterben. Diese Anzahl ist im Vergleich zu den Studien, die ihre Ergebnisse über Telefon/online Umfragen/App erhalten haben, vergleichsweise sehr klein. Für Menschen, die solche Flussdiagramme noch nie gesehen haben, mag das scheinbar groß erscheinen. Nein, ist es nicht. (BMEC = Bergen Municipality Emergency Clinic.)

Einundsechzig Prozent (189/312) hatten sechs Monate nach der Covid Diagnose persistierende Symptome. Am häufigsten war Fatigue („Müdigkeit“) mit 37%, Konzentrationsschwäche (26%), gestörter Geschmacks- oder Geruchssinn (25%), Gedächtnisstörungen (24%) und Atemnot (21%). Im Allgemeinen fanden sich anhaltende Symptome häufiger mit zunehmendem Alter, wohingegen sich Geschmacks- und Geruchsverlust häufiger bei Personen unter 46 Jahre fand.

Die Chalder Fatigue Skala  ist für Erwachsene validiert, weshalb bei Kindern Müdigkeit ebenso nicht bewertet wurde wie Konzentrationsschwäche und Gedächtnisstörungen. Insgesamt waren in dieser sehr kleinen Gruppe anhaltende Symptome seltener zu beobachten. Die Erfassung von Long Covid bei Kindern ist tatsächlich ein schwieriges Unterfangen. Die Symptome sind unspezifisch. Die Pandemie bringt auch eine hohe psychische Belastung für Familien und Kinder mit sich, was sich auch in depressiven Phasen und entsprechenden Symptomen zeigen kann.

Schon viel klarer, obwohl in den Anfängen oft schwer zu erkennen, ist MIS-C für Multisystem Inflammatory Syndrome in Children (deutsch etwa: Multisystemisches Entzündungssyndrom bei Kindern) ein (vermutlich) neuartiges Krankheitsbild, das in Verbindung mit der Infektion durch SARS-CoV-2 im Zuge der COVID-19-Pandemie bei Kindern und Jugendlichen auftritt. Eine andere Bezeichnung lautet PIMS für Paediatric inflammatory multisystem syndrome. Das weist auf die verschiedenen Körpersysteme hin, die betroffen sein können: Herz, Lunge, Nieren, Gehirn, Haut, Augen oder Magen-Darmtrakt. Meistens bedürfen betroffene Kinder der Behandlung auf einer Intensivstation. Bis zum 2. Juni wurden in den USA 4018 Kinder mit MIS-C erfasst, von denen 36 verstarben, die Inzidenz wird auf einen Fall pro 3000 Infektionen mit SARS-CoV-2 geschätzt. Zusätzlich dazu, dass ich seit einem Jahr die Schulen sicherer gestaltet hätte, ist die Entscheidung „Infizieren oder Impfen“ bei 12- bis 15-Jährigen klar zugunsten des Impfens zu treffen. Bei den unter 12-Jährigen gilt es die Studien mit den unterschiedlichen Dosierungen abzuwarten, z.B. bei BioNTech/Pfizer 10 vs. 20 vs. 30 µg. Letztere entspricht der Erwachsenendosis, auch Moderna prüft 3 verschiedene Dosierungen.

Zurück zur Studie aus Bergen: Trotz einer Korrelation von höhere Antikörperspiegeln im Blut (zwei Monate nach der akuten Erkrankung) mit dem Schweregrad der initialen Erkrankung (was man sich mit höherer Viruslast erklärt), waren beide Faktoren unabhängig voneinander mit der Entwicklung von Long Covid assoziiert. Die Erkenntnis, dass höheren Antikörperspiegel auch mit zunehmendem Alter assoziiert sind, erklärt man sich mit dem erhöhten Risiko für schwere Erkrankung (und somit eben auch mehr Viruslast) im höheren Alter. Allerdings sind bei Covid, im Gegensatz zur Immunoseneszenz (Nachlassen des Immunsystems im Alter) bei der Grippe bei Älteren, höheres Alter und Schweregrad der Erkrankung jeweils unabhängig voneinander mit erhöhten Antikörperspiegeln assoziiert. Das kann derzeit nicht erklärt werden und spricht für verstärkte Beobachtung und systematische Erforschung auch nach Impfung. Eine heute erschienene Arbeit weist darauf hin, dass Ältere eine besonders unterschiedliche Immunantwort zwischen 1. und 2. Impfung zeigen und dass das Boosting (Stärken) der Immunantwort in dieser Gruppe aufmerksam beachtet werden muss. Wiederum hatten Menschen mit vorbestehenden Lungenerkrankungen (v.a. Asthma) eine erhöhtes Risiko für Long Covid.

Eine weitere prospektive Kohorte aus Kopenhagen konzentrierte sich auf weniger schwere Fälle (non-hospitalized) von Covid und fand bei den meisten Patienten, deren Symptome länger als 4 Wochen anhielten, diese Symptome auch noch nach 12 Wochen (Abbildung). Knapp mehr als ein Drittel (36% = 71/198) zeigten persistierende Symptome, am häufigsten Ermüdbarkeit, Konzentrationsschwäche und Gedächtnisstörungen. Risikofaktoren für anhaltende Symptome waren weibliches Geschlecht (44% gegenüber 25% bei Männern) und Body Mass Index (je höher, umso mehr Long Covid).

Die Uniklinik Köln etablierte im April 2020 eine Post Covid Ambulanz, die auch jüngst von ihrer prospektiven Kohorte von milderen Fällen der Covid Erkrankungen (non-hospitalized) berichtet. Vier Monate nach der akuten Covid Erkrankung wurden 442 Patienten, untersucht, anhaltende Symptome wurden bei 27,8% gefunden: 8,6% mit Atemnot, 12,4% mit Geruchsverlust, 11,1% mit Geschmacksverlust und 9,7% mit Fatigue. Im Gegensatz zur Studie aus Bergen waren hier niedrigere Antikörperspiegel mit Long Covid assoziiert. Allerdings gibt es keine Angabe zum Zeitpunkt der Bestimmung: in Bergen wurden die Antikörper zwei Monate nach der akuten Erkrankung gemessen; wenn das in Köln unmittelbar im Rahmen der akuten Erkrankung vorgenommen wurde, wäre das kein Widerspruch.

Die vierte prospektive Kohorte wurde vorwiegend durch ein Team von Public Health England bei medizinischem Personal durchgeführt. Aus einer Gruppe von ursprünglich 1671 haben sich 140 mit SARS-CoV-2 angesteckt (Fälle) und bei 1160 lagen monatlich negative Antikörperspiegel vor (Kontrollen). Beide Gruppen wurden nach 6 Monaten zu einer Unzahl an Symptomen befragt, wobei bei den mit SARS-CoV-2 Infizierten 3 Cluster identifiziert wurden: ein sensorischer Cluster (Geschmacks- und Geruchsverlust, Appetitverlust und verschwommenes Sehen), ein neurologischer Cluster (Vergesslichkeit, Verlust des Kurzzeitgedächtnisses), und Verwirrung/Nebel im Gehirn („brain fog“) und ein kardiorespiratorischer Cluster (Engegefühl in der Brust/Brustschmerz, ungewöhnliche Ermüdbarkeit, Atemnot nach minimaler Belastung und Herzklopfen). Während diese Cluster eine hohe Spezifität und starke Assoziation mit den Fällen hatten, konnte für die meisten Symptome (dermatologisch, gynäkologisch, gastrointestinal [Magen-Darmtrakt] und psychisch) kein Unterschied zwischen Fällen und Kontrollen gefunden werden.

Sehr schwere Formen von Long Covid mit bleierner Erschöpfung, Gedächtnisstörungen und diffusen Muskelschmerzen erinnern an myalgische Enzephalomyelitis / Chronisches Fatigue-Syndrom (ME/CFS), einem gar nicht so seltenen Krankheitsbild, bei dem vieles unbekannt und unerforscht ist. Bis heute gibt es wenig strikte Kriterien für eine Diagnose, weshalb Ausschlussverfahren bei der Diagnosestellung eine wichtige Rolle spielen. So müssen eine Vielzahl somatischer (z. B. chronische Infektionskrankheiten, multiple Sklerose, endokrinologische Störungen) und psychischer (z. B. Burn-out, Depression) Symptome beachtet werden. ME/CFS ist eine schwere Multisystemerkrankung. Leitsymptom ist eine allumfassende körperliche sowie kognitive Erschöpfung, die auch durch Ruhe nicht verbessert wird und sich durch Anstrengung deutlich verschlechtert. Auch aus diesem Grund schlägt das US-amerikanische Institute of Medicine eine Umbenennung in „systemische Belastungsintoleranz-Erkrankung (englisch: systemic exertion intolerance disease / SEID)“ vor. Da wie dort (Long Covid und ME/CFS) gibt es einen sehr kontroversiellen Diskurs über Aufbautraining („graded exercise therapy“). Hilda Bastian, Anwältin für Gesundheitskonsumenten, so nebenbei vermutlich auch die kundigste Expertin zu Studien über Impfungen gegen Corona, leitet seit März 2020 das Beratungsteam von Cochrane Exercise and ME/CFS Review Gruppe ), um eine bessere Bewertung der Therapie von ME / CFS zu erreichen. Es gibt begründete Hoffnung, dass Long Covid und ME / CFS einander wissenschaftlich gegenseitig befruchten, auch bezüglich immunologischer Grundlagen.

Generell ist es wichtig, zu betonen, dass das häufige Vorkommen von enormer Ermüdbarkeit bei minimaler Anstrengung bei Covid wesentlich häufiger vorkommt als bei Grippe, bei der Infektiösen Mononukleose oder bei Dengue Fieber.

Alle vier Arbeiten mit dem Studiendesign prospektiver Kohorten stellen eine eindringliche und weitgehend einheitliche Forderung auf: Long Covid unterstreicht die Wichtigkeit nicht-pharmazeutischer Maßnahmen und der Impfung und muss in die Planung mit einbezogen werden. Manche Autoren betonen besonders das Risiko von Folgen von Konzentrationsschwäche und Gedächtnisstörungen bei der lernenden Generation zwischen 16 und 30 Jahren. Mein Kommentar: Schluss mit Konzentration auf Auslastung der Intensivstationen. Keine ganz neue Erkenntnis.

Aber es gibt noch immer Unentschlossene, teilweise auch Unsolidarische. Jeder staatliche Anreiz, der Zögernde zum Impfen bewegt, ist höchst willkommen. Wer aufs Impfen verzichten will, darf dies tun, muss aber die Folgen tragen. Damit die andern nicht ungebremst die Folgen solcher Selbstverwirklichung tragen müssen, gilt es, sie abzuholen. Wo aber bleibt die Kampagne: „Bitte“. „Alle“. „Danke“?  Die Meldung von Gesundheitsminister Wolfgang Mückstein, „Im September werden alle Menschen in Österreich, die das wollen, die nötigen Impfungen für eine Vollimmunisierung erhalten haben, auch alle Jugendlichen ab zwölf“, kann man einstweilen in der Schublade „Überschussware“ ablegen. Obwohl unklar bleibt, ob dies mangelnden Kenntnissen von Impfkampagnen oder einer PR- Kultur à la Sebastian Kurz entsprungen ist. Egal.« R.Z.


Distance, hands, masks, be considerate! Ihr Armin Thurnher @arminthurnher thurnher@falter.at

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