Ist die Dominanz der Variante Delta unausweichlich?

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 449

Armin Thurnher
am 22.06.2021

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Warum wir heute mehr über Varianten des Virus wissen, erklärt Epidemiologe Robert Zangerle in dieser Kolumne. Die Delta-Variante wird dominieren; in Österreich herrscht wie stets Intransparenz, und der Bundeskanzler sorgt für ein déjà-vu. A.T.

»Sehr wahrscheinlich. So sehen das inzwischen die meisten Epidemiologen und Virologen, auch die Weltgesundheitsorganisation WHO warnt vor der erhöhten Übertragbarkeit der Virusvariante, die eine Arbeitsgruppe auf 97% gegenüber dem ursprünglichen Virus berechnet hat. Die zugrunde liegenden Mechanismen für die leichtere Übertragbarkeit von den verschiedenen Virusvarianten sind nicht gesichert, trotz Studien in viele Richtungen (Bindungsverhalten an den aufnehmenden ACE Rezeptor, höhere Viruslast, längeres Abschilfern von Virus und eine Immunevasion, d.h. wenn die durch die Impfung oder Infektion produzierten Antikörper weniger gut neutralisieren). Der basale Reproduktionsfaktor R0 hat sich in etwa verdoppelt und wird inzwischen zwischen 5 und 8 angegeben, die BBC illustriert das so:

Es ist schon erstaunlich, wie man heute eine Pandemie wissenschaftlich quasi unter der Lupe live beobachten kann. Noch vor wenigen Jahren hätten die Instrumente dazu gefehlt. Virologische Forschungen der letzten Jahrzehnte (z.B. HIV, Hepatitis C, Ebola u.a.) haben erst die Instrumente entwickeln lassen, um Mutationen in einem Virus überhaupt zu registrieren. 1976 hatte Walter Fiers das erste Mal ein Virusgenom sequenziert (ein Bakteriophage). Mitte der 90-er Jahre wurde das erste Mal ein bakterielles Genom, nämlich Hämophilus influenzae sequenziert, von The Institute for Genomic Research (später J. Craig Venter Institute). Die Sequenzierung des menschlichen Genoms gelang erst im Jahr 2000. Auch 2002, beim Ausbruch von SARS-1, sequenzierte man, um Genveränderungen festzustellen, aber mit einer älteren Technik. Was uns heute in Stunden gelingt, dauerte früher Wochen bis Monate. Während einer Epidemie hatte man damals keine Vorstellung darüber, wie und an welchen Stellen sich ein Virus über die Zeit verändert. Wir wüssten also nichts über die SARS-CoV-2-Varianten Alpha, Beta oder Delta, zumindest nicht so zeitnah und detailliert. Man hätte auch keine Erklärung dafür, warum beispielsweise in gewissen Ländern die Fälle wieder stark ansteigen, wie jetzt gerade wieder in Großbritannien.

Die Variante Delta, die erstmals in Indien entdeckt wurde, verbreitete sich rasch in Großbritannien. Das Land hat eine starke Verbindung zu Indien, und es gab relativ früh viele Einschleppungen. Zudem wissen wir, dass gegen Delta eine Dosis des AstraZeneca-Impfstoffs, der in Großbritannien hauptsächlich benutzt wird, nicht mehr ausreichend schützt. Erst ab der zweiten Impfung ist der Immunschutz für die meisten ausreichend. Beim AstraZeneca-Impfstoff sind aber die Abstände zwischen der 1. und der 2. Impfung sehr lang. Das heißt, trotz des hohen Impftempos im Land ist immer noch mehr als die Hälfte der Bevölkerung nicht vollständig geschützt. Zusammen mit den Öffnungen und der hochansteckenden Variante Delta kommt es nun so wieder zu einem Anstieg der Fälle. Großbritannien hat deshalb die für 21. Juni geplanten „großen“ Öffnungsschritte um mindestens einen Monat verschieben müssen, die Modelle für August ohne diese Verschiebung waren bedrohlich (ähnlich der 1. Welle im Frühjahr 2020). Sollte das Wachstum der Covid Fälle so rasant anhalten, sind auch wieder strengere Maßnahmen möglich. Zumindest so lange, bis wirklich der größte Teil der Bevölkerung vollständig geimpft ist.

Wenn man sich die Zahl der Fälle und den Belag der Intensivstationen anschaut, fühlt man sich erstmals beruhigt. In Großbritannien liegen weniger Patienten mit Covid auf Intensivstationen als in Österreich. Und bei uns ist die Pandemie doch vorbei, oder? So schlimm wie in den vergangenen Monaten ist es doch nicht? Schon wieder arbeitet die Exponentialfunktion gegen unsere Intuition.

Warum aber haben Großbritannien und Israel mit jeweils hohen Impfraten so unterschiedliche Ergebnisse? Israel hat derzeit im 7-Tagesschnitt pro Million Einwohner weniger als 3 Infektionen pro Tag und Großbritannien mehr als 12 pro Million.

  • Ein Grund ist die fehlende Verbreitung von der Virusvariante Delta in Israel

Es gibt eine Reihe weiterer möglicher Erklärungen

  • Strenge Grenzkontrollen in Israel

  • Höhere Rate an vollständig Geimpften (60% Israel vs. 46% GB)

  • Ausschließliche Verwendung von Impfstoff von BioNTech/Pfizer in Israel

Tatsächlich erstaunt es, dass im April Großbritannien und Israel ähnliche relative (!) Verteilungen der Virusvarianten aufwiesen, Delta setzte sich aber (vorerst?) nur in Großbritannien durch. Die beiden Abbildungen stammen von Outbreak.info https://outbreak.info/ , einem Plattform-Projekt der Labore von Kristian G. Andersen, Andrew Su und Chunlei Wu am Scripps Research Zentrum in San Diego. Kann es sein, dass eine Niedriginzidenz wie in Israel alles verlangsamt und dass dann andere Regeln gelten?

Inzwischen wurde das Vorkommen der Virusvariante Delta in mindestens 80 Ländern beschrieben.

Wie steht es in Österreich? In der Sitzung der Coronakommision vom 17. Juni gibt es eine Kommentierung zur 2. Juniwoche (bis 13.6., Kalenderwoche 23) . In dieser Woche wurden 77 Verdachtsfälle der Virusvariante Delta (PCR-basierte und sequenzierte Fälle) detektiert. Diese Fälle verteilten sich so: Wien (49 Fälle), Niederösterreich (15 Fälle), Salzburg (5 Fälle), Steiermark (3 Fälle), Oberösterreich (2 Fälle), Vorarlberg (2 Fälle) und Tirol (1 Fall).

In der gleichen Woche wurden 16 Fälle der Variante Gamma (P.1) in Tirol basierend auf PCR-Testverfahren und 13 Verdachtsfälle von B.1.1.7+E484K detektiert. Betroffen waren die Bundesländer Tirol (7 Fälle), Steiermark (4 Fälle), Salzburg (1 Fall) und Oberösterreich (1 Fall). Österreichweit wurden in KW 23 kein Fall von B.1.351 identifiziert.

Was inzwischen völlig verloren gegangen ist, ist der Nenner. Wie viele Menschen wurden überhaupt weiter untersucht? Nehmen wir an, dass alle positiv Getesteten auf die Variante hin weiter untersucht (sequenziert) worden wären. Dann würden die 77 Verdachtsfälle der Virusvariante Delta für die 2. Juniwoche etwa 5% entsprechen, in der Abbildung wird ein etwas höherer Wert angegeben, was die Bezugsgröße ist bleibt unklar. Man weiß also nicht, wie diese Grafik zustande kommt.

Ganz bizarr wird es mit der Kalenderwoche 24, da sind an die 30% der „Untersuchten“ mit einer fehlenden Mutation im Codon 501 des Spike Proteins (N501). In England sind das derzeit fast nur Fälle mit Delta (ganz analog wie um die Jahreswende, als praktisch alle Fälle mit der Mutation im Codon 501 (N501Y) auf Alpha (b.1.1.7) zurückzuführen waren. Wieso diese Intransparenz? Was passiert da? Die derzeit niedrigeren Fallzahlen würden ganz leicht das Sequenzieren aller positiven Tests ermöglichen. Schicken die Labors keine Proben, weil keine gesetzliche Pflicht? Und andere Labors gehen nach dem Test liederlich mit ihren Proben um, sodass die Sequenzierung nur zur Hälfte gelingt? Decken sich Interessen von Privatlabors nicht mit Grundsätzen von Public Health? Es ist verdammt still.

Intransparenz. Ein déjà vu. Wie aber nennt man das massenhafte Auftreten von déjà vu? Anders als in Asien sei die Maske in europäischen Ländern kein Teil der Kultur, sagt Bundeskanzler Sebastian Kurz. Offenbar stören Masken die Normalität von Bundeskanzler Kurz. Meine Normalität wird von Sätzen wie „Die Pandemie finde in Wellen mit saisonalen Höhepunkten statt, die steigenden Zahlen im Herbst hätten nichts mit dem Sozialverhalten der Menschen im Juli zu tun.“ (O-Ton Kurz) gestört. Das ist eine dreiste und gefährliche Verzerrung von Fakten. So können wir den Wettlauf Delta vs. Impfungen nicht gewinnen.« R.Z.


Distance, hands, masks, be considerate!

Ihr Armin Thurnher

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