Das Mascherl der Wahrheit. Edtstadler trifft Arendt im ZiB2-Studio.

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 444

Armin Thurnher
am 16.06.2021

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Ein phantasiertes Interview aus der Zeit im Bild 2

Ein Transkript

Armin Thurnher: Guten Abend, ich bin Armin Thurnher, der heute ausnahmsweise Armin Wolf im Studio ersetzt. Es geht um nicht weniger als die Wahrheit. Sie hat keinen guten Ruf mehr, das wollen wir heute diskutieren mit Wahrheitsministerin Karoline Edtstadler* und einer Expertin, die freundlicherweise aus dem Jenseits zugeschaltet ist, der Philosophin Hannah Arendt**. Guten Abend, Frau Arendt, die Schaltung war nicht ganz einfach, aber es freut uns, dass es geklappt hat und Sie Zeit hatten, in unser Außenstudio im Hades zu kommen.

Hannah Arendt: Schönen guten Abend.

Armin Thurnher: Und von der ÖVP ist Frau Karoline Edtstadler im Studio, Verfassungsministerin, die seit heute auch als Wahrheitsministerin amtiert, denn die Wahrheit ist derzeit in Mutterschutz. Guten Abend.

Karoline Edtstadler: Schönen guten Abend, Herr Thurnher.

Thurnher: Frau Ministerin Edtstadler, was ist Wahrheit?

Screenshot @ ORF, ZiB2

Edtstadler: Also zunächst möchte ich sagen, die Wahrheit ist eine Tochter der Zeit, wie bekanntlich der Vater der Wahrheit sagte, Andreas Khol. Zum zweiten ist Wahrheit nicht etwas Erfundenes, sondern sie ist aufgrund der Statistik nachweisbar. Statistik ist das kleine Einmaleins der Wahrheit.

Thurnher: Aber wir haben keinen Experten gefunden, der vorrechnen konnte, dass einmal Eins drei ist, könnten Sie das für uns tun, bitte?

Edtstadler: Ich kann Ihnen sagen, dass wir diese Zahl aus der Statistik Austria haben, dass das überprüft ist vom Innenministerium, das ist auch erklärbar und es ist die Zahl, die aus der Statistik auslesbar ist – also wenn Sie diese Zahl nicht glauben, weiß ich nicht, wie ich Sie Ihnen beweisen soll.

Thurnher: Wahrheit ist also Ansichtssache. Frau Arendt, können Sie uns helfen?

Arendt: Ich greife auf eine alte Unterscheidung von Philosophen der Aufklärung zurück. Die unterscheiden zwei verschiedene Kategorien von Wahrheit, Vernunftwahrheit und Tatsachenwahrheit. Die Vernunftwahrheit umfasst etwa mathematische, philosophische und wissenschaftliche Wahrheiten. Die Tatsachenwahrheit hingegen bezieht sich auf historische und politische Ereignisse. Sie ist prekär, weil sie auf Aussagen von Zeugen beruht, die sterben und deren Aussagen dann in Zweifel gezogen werden können. „Daraus folgt aber, dass Tatsachenwahrheiten genauso wenig evident sind wie Meinungen, und dies mag einer der Gründe sein, warum im Bereich der Meinungen es so leicht ist, Tatsachenwahrheiten dadurch zu diskreditieren, dass man behauptet, sie seien eben auch Ansichtssache,“ habe ich geschrieben.

Thurnher: In Ihrem berühmten Aufsatz „Über Wahrheit und Lüge in der Politik“, wenn ich ergänzen darf.

Edtstadler: Vielleicht darf ich da einhaken, ja weil genau um diese Nuancen geht es ja. Der damalige Staatssekretär, jetzige Bundeskanzler Sebastian Kurz hat sich immer dafür eingesetzt, dass es Wahrheit ist, was die sagen, die er als Wissenschaftler anerkennt. Wissenschaftliche Leistung für ihn ist ein Prozess, an dessen Ende die Wahrheit so erscheint, wie es seinen Wahrheitsexperten gefällt. Was Frau Arendt da Vernunftwahrheit nennt, die unantastbar sein soll, so etwas wäre ein Paradigmenwechsel, das gibt es nirgends in Europa, das gibt es vielleicht im Jenseits bei Frau Arendt, ja das gibt es in den USA, aber das ist ein ganz anderes System, wir wollen Wahrheit durch Leistung und deshalb sind wir ganz gegen diesen Vorschlag.

Thurnher: Frau Arendt, gibt es Experten, die Ihre Ansicht der Wahrheit stützen?

Arendt: Wenn ich von meiner jetzt recht distanzierten Position die Philosophie betrachte, Herr Thurnher, und da Frau Edtstadler gerade USA sagte, könnte ich mich am ehesten mit der Definition des amerikanischen pragmatischen Philosophen Charles Pierce anfreunden, der da sagt: „Die Meinung, der letztendlich alle, die in der Forschung einbezogen sind zustimmen, ist, was wir die Wahrheit nennen, und das Objekt, das von dieser Meinung repräsentiert wird, ist das Wirkliche.“

Thurnher: Das klingt ja fast nach Frau Edtstadlers Experten.

Arendt: Aber eben nur fast, denn es handelt sich gerade nicht um beliebige Experten, sondern um „alle, die in der Forschung mit einbezogen sind“. Frau Edtstadler mag der Meinung sein, die Wahrheit trage ein Mascherl, nämlich ihres, und wenn sie dieses Mascherl trage, sei sie schon die Wahrheit.

Edtstadler: Gestatten Sie, dass ich hier noch einmal einhake. Frau Arendt, ich muss ihnen sagen, dass Sie hier zwei Dinge verwechseln. Die Tatsachenwahrheit ist die wahre Wahrheit, und nicht die Vernunftwahrheit ihrer sogenannten Wissenschaftler. Die ändert sich ja dauernd! Das habe ich außerdem nie behauptete. Ich habe von Statistik geredet, und die entspricht der richtigen Meinung, nämlich meiner. Und vergessen wir nicht, die Wahrheit ist ein hohes, ein sehr hohes Gut.

Arendt: Und deswegen sind Leute wie Sie, Frau Edtstadler, der Inbegriff dessen, was ich meinte, als ich sagte „Tatsachen sind der Gegenstand von Meinungen, und Meinungen können sehr verschiedenen Interessen und Leidenschaften entstammen, weit voneinander abweichen und doch alle noch legitim sein, solange sie die Integrität der Tatbestände, auf die sie sich beziehen, respektieren,“ denn Ihnen fehlt dieser Respekt von Grund auf.

Thurnher: Frau Edtstadler, eine Replik?

Edtstadler: Das ist, na ja, Wahrheit fällt ins Kanzleramt und ist grundsätzlich eine Kanzlermaterie, aber ich als Verfassungsministerin kann da schon auch einiges regeln, und ich sage Ihnen schon auch eines, Frau Arendt, man darf hier die Dinge nicht verwechseln und man muss auch eines feststellen, die Diskussion ist nicht so einfach.

Arendt: An dieser Stelle darf ich mich wieder zurückziehen, ich danke für die Gelegenheit, dieses interessante Exemplar einer entschlossenen Wahrheitsfreundin kennenzulernen. Sind Leute wie diese an der Macht, haben solche wie ich nichts zu sagen. Wenden wir unsere Meinung – samt Interessen und Leidenschaften – auf den streng regulierten Prozess der Wissenschaft an, vermischen wir zwei Ebenen, sich der Realität zu vergewissern, und entwerten beide: Wir haben dann am Ende nichts mehr, was wir für wahr halten. Ein fataler Zustand, auf dem sich keine Gesellschaft gründen oder aufrechterhalten lässt. Leute wie unsere Gesprächspartnerin entziehen uns jeden gemeinsamen Boden und zerstören die Demokratie. Auf Wiedersehen.

Edtstadler: Sie haben es jetzt eh richtig auch gesagt, Frau Arendt, ich bin in der Tat eine entschlossene Freundin der Wahrheit und habe mit Andreas Khol und Gernot Blümel auch juristisch und philosophisch höchst versierte Fachleute für das Biegen des Wahrheitsbogens zur Seite. Ich sage nur noch einmal, Wahrheit ist, was die Macht als wahr erklärt, und die Macht, die haben eben unser Bundeskanzler Sebastian Kurz und wir.

Thurnher: Ich habe nicht erwartet, dass Sie sich im Studio einigen, danke Ihnen aber beiden für die Diskussion und fürs Kommen.

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*Edtstadlers Zitate sind teilweise erfunden, angeregt durch ihren Auftritt in der ZiB2 vom 14.7.

**Arendts Zitate sind, wenn nicht in Anführungszeichen, keine wörtlichen Zitate und stammen aus ihrem erwähnten Aufsatz


Distance, hands, masks, be considerate!

Ihr Armin Thurnher

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