„Hinaus aus Wien mit dem Schuft!“ 50 Shades of Fellner, Teil IV

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 439

Armin Thurnher
am 10.06.2021

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„Hinaus aus Wien mit dem Schuft!“ Mit diesem Ruf vertrieb Karl Kraus einen erpresserischen Zeitungszaren aus der Stadt. Der Text ist ein Auszug aus dem Vortrag „Medien, lokal und global“, den der Autor im April 2008 als Karl-Kraus-Vorlesung bei den Wiener Vorlesungen im Rathaus hielt, und erschien im Falter vom 16. 04. 2008. Der gesamte Text sollte als Buch in der „Bibliothek der Provinz“ erscheinen, was aber nie geschah. Dass er nun noch einmal in der Reihe »50 Shades of Fellner« erscheint, hat mit Fellner nichts zu tun und ist nur einer Laune des Autors geschuldet, der fand, diesen Text darüber, wie es auf dem Wiener Illustriertenboulevard vor 100 Jahren aussah, könnte man auch einem jüngeren Publikum wieder einmal zumuten.

Es herrschte Inflation im Wien der beginnenden Zwanzigerjahre, fieberhafte Spekulationsgeschäfte waren im Gang, schlecht kontrollierte Banken brachen serienweise zusammen. Imre Békessy, ein 1887 geborener Ungar, war Anfang der Zwanzigerjahre aus Budapest nach Wien gekommen und hatte hier eine neue Art von Journalismus eingeführt. Aus einer verarmten jüdischen Familie stammend, betätigte er sich als Armeelieferant und Kriegsgewinnler im Ersten Weltkrieg, sympathisierte mit dem Regime Béla Kuns und floh nach dessen Tod nach Wien.

Hier gründete er die Blätter Die Börse und Die Stunde. Das Bürgertum, schrieb Paul Deutsch, ein Publizist aus Békessys Kreis, sei „gänzlich amoralisch im Geschäft wie im Vergnügen, und die Stunde ist sein Prophet“. Békessy sei „Inflationsjournalist“. Beim Inflationsjournalismus ging es in Deutschs Worten um Folgendes: „Die Inflation war nur ein wirtschaftliches Expediens zur Zersetzung des Bürgertums, und dieser Zersetzungsprozess als Ganzes hat in den Békessy-Blättern sein publizistisches Widerspiel gefunden“ „

Békessys Journalismus sah so modern aus wie jener Illustriertenboulevard, der sich in der Gegenwart immer zum Sprachrohr einer Generation und einer Schicht macht und sich mit seiner Amoralität brüstet. Wie dieser traf er auf eine „hilflose Rückständigkeit der Wiener Tagespresse“ (Deutsch), der gegenüber sich die Anbiederungen und Anmutungen der Békessy-Presse als schick, zeitgemäß, ja fortschrittlich ausnahmen. Die Ideen hatte Békessy aus London importiert, wohin er 1923 gefahren war, „um die modernste Zeitungstechnik bei den großen illustrierten Blättern kennenzulernen“, wie er selbst berichtet. Die Tagespresse, vor allem die renommierte Neue Freie Presse, war allerdings ebenfalls kein Hort medialer Sittlichkeit, und Kraus hatte schon vor dem Kampf gegen Békessy gemeinsam mit Friedrich Austerlitz, dem Chefredakteur der Arbeiterzeitung und Abgeordneten zum Nationalrat, den Paragrafen 26 des Pressegesetzes durchgesetzt, der Zeitungen zur Kennzeichnung von Annoncen zwang (und noch heute als § 26 des Mediengesetzes existiert).

Der Spekulant, Bankier und Mäzen Castiglioni (unter anderem finanzierte er Max Reinhardt) war Partner und Financier in Békessys Kronos-Verlag, eine Partnerschaft, die – in den Worten des Finanziers – ihn und Békessy zu den „Herren von Wien“ machen sollte. Karl Kraus insinuierte, dass Castiglioni von Békessy erpresst wurde. Dieser unterstützte Castiglionis dubiose Unternehmungen und Währungsspekulationen mit Berichten und Inseraten.

Publizistische Feinde: Imre Békessy …

… und Karl Kraus. Bilder © Wikipedia

Békessy bezeichnete sich selbst als Vertreter des „jungen Kapitals„ und der „journalistischen Freiheit im kapitalistischen Zeitungsbetrieb“. Dieses junge Kapital, sagte er, konnte im Unterschied zum alten, industriellen auch „gewisse Wegstrecken gemeinsam mit dem Sozialismus zurücklegen“. Damit und mit einer gewissen Freizügigkeit des Lifestyle, die er propagierte, mit dem hemmungslosen Verbreiten von Gerüchten, mit modernen Publikumsaktionen, die auf Geschenken beruhten, die er sich von Werbepartnern (sprich: Inseratenkunden) machen ließ und mit einem modernen Erscheinungsbild trieb er die Auflage der Stunde in die Höhe. Das war tatsächlich ein junger, moderner, ja richtungsweisender Auftritt, der vorgab, das Zeitungsgeschäft neu zu erfinden. Er zog nicht nur Intellektuelle, Künstler, Schriftsteller wie Anton Kuh, Franz Blei, Stefan Großmann und Walter Rohde an, die an seinen Blättern mitarbeiteten. Die Sozialdemokratie fühlte sich ebenso im Bund mit dieser dubiosen Form ostentativer Scheinmodernität wie einige konservative christlichsoziale Minister und ging gern eine Strecke gemeinsamen Wegs mit Békessy.

Vor allem insofern, als die die Auseinandersetzung zwischen Kraus und Békessy nicht als moralisch und rechtlich fundamentierte Kritik verstehen wollte, sondern sie lediglich als „literarische Eitelkeitsfragen“ abtat. Mit diesem Argument hatte, wie Karl Kraus bitter anmerkte, „der Gauner weite Kreise der sozialdemokratischen Partei infiziert“. Karl Seitz und Karl Renner gewährten Békessy 1923 das ersehnte Heimatrecht, wodurch seine Doppelstaatsbürgerschaft in Österreich und Ungarn möglich wurde. Dies, obwohl Polizeipräsident Schober vor Békessys Praktiken warnte und obwohl zu Recht Bedenken gegen Békessys Leumund bestanden. Er war in Budapest mehrfach wegen Erpressung, Verleumdung und Betrugs belangt worden.

Zu Békessys Erfolg in progressiven Kreisen trug nicht nur die Modernität seiner fotolastigen Produkte bei, sondern wohl auch sein unverschämter, neuer Ton der Selbstvermarktung. Er behauptete beispielsweise, die Stunde habe „alle wichtigen Dokumente über das zukünftige Schicksal Österreichs“ publiziert, während der Rest der Presse in Pessimismus versumpert sei. Tatsächlich trat die Stunde kritisch gegenüber den Nazis und großdeutschen Tendenzen auf, sie befürwortete politisch vieles am Roten Wien, etwa Hugo Breitners Wohnbausteuer. Selbst bei Karl Kraus biederte sich Békessy als vermeintlichem Bruder im Geiste der Systemkritik an, und sein Chefredakteur Karl Tschuppik nahm sogar gewisse Ideen der Fackel auf, was Karl Kraus wiederum zu einer reservierten Haltung ihm gegenüber und zu einer ersten Polemik gegen die Stunde veranlasste, die er 1923 unter dem Titel „Metaphysik der Haifische“ veröffentlichte.

Halten wir fest: Was später den Beinamen des Revolverjournalismus erhielt (der Revolver stand für die Drohung mit der Veröffentlichung), kam zuerst als frische Neuerung daher. Die Frische begann etwas zu welken, als Gustav Stolper und Walter Federn, die Herausgeber einer Konkurrenzzeitung, des Österreichischen Volkswirt, Békessy der Erpressung, des Schwindels und der Erfindung von Nachrichten bezichtigten. Békessy machte den Fehler, zu klagen, wodurch der Wahrheitsbeweis möglich wurde. Vor Gericht sagte er unter anderem aus: „Die Zeitung ist keine moralische Institution … Ich bin auch der Meinung, dass eine Zeitung ein Geschäft ist, das auf der einen Seite mit reinen, auf der anderen Seite mit unreinen Händen geführt wird.“ Dennoch platzte der Prozess, weil Stolper überraschend seine Klage zurückzog. Békessy hatte einen Stolper belastenden Privatbrief mit peinlichen Details aus dessen Scheidungsverfahren in seinen Besitz gebracht und erpresste ihn damit.

Zugleich scheute er sich nicht, sich bei Kraus anzubiedern und sich sogar auf ihn zu berufen. Kraus nahm den Kampf auf, vorerst ohne Békessy namentlich zu erwähnen. Die Stunde schlug an Kraus‘ 51. Geburtstag zurück und berichtete von dessen angeblichen Erbstreitigkeiten mit seiner Schwester. Den Artikel von Anton Kuh illustrierte Békessy mit einer berühmt gewordenen Bildbearbeitung: Er ließ ein Kindheitsbild von Kraus mit großen Ohren entstellen und druckte es auf dem Titelblatt der Stunde. Kraus erzwang mit Gerichtsurteilen eine Reihe von Entgegnungen. Die Serie von Polemiken zwischen Kraus und Békessy endete meist mit Verurteilungen des zweiten (die Prozessakten von Karl Kraus‘ Anwalt Oskar Samek wurden verdienstvollerweise von der Rathausbibliothek publiziert). Kraus beschränkte sich nicht auf Polemik, er stützte sich auf die Justiz. Er strebte auch eine Lex Békessy gegen Bestechung an, den Entwurf eines „Bundesgesetzes zur Bekämpfung von Missbräuchen im Pressewesen“. Austerlitz unterstützte ihn dabei. Die Sozialdemokraten allerdings machten einen Deal mit dem Spekulanten Siegfried Bosel, als die Hammerbrotwerke in Schwierigkeiten gerieten. Bedingung für die finanzielle Hilfe Bosels: Die Angriffe gegen Békessy sollten enden. Austerlitz musste schweigen, Kraus hatte die Arbeiterzeitung vorübergehend als Verbündeten verloren.

Hier liegt eine der Ursachen für die Entfremdung zwischen Sozialdemokratie und Kraus. Békessy schien wieder einmal davongekommen zu sein, vor allem auch, da er sich ebenso wie mit den Sozialdemokraten auch mit dem christlichsozialen Polizeipräsidenten Schober einigte. Da trat unversehens ein neue Akteur auf: der Journalist Ernst Spitz. Er war von der Stunde entlassen worden, weil sich ein 19-jähriger Redaktionssekretär namens Samuel Wild über ihn beschwerte. Spitz hätte behauptet, sagte Wild, die Stunde sei korrupt, und zwar nicht nur im Sinne großer Affären, nein, sie erpresse auch Kaffeehausbesitzer.

Bei Spitz liest sich das so: „Nicht nur jeder Besitzer eines Detailgeschäftes, auch jeder Cafetier hat die Pflicht, die Fassade seines Betriebes, manchmal auch das Interieur und am Ende auch sich, seine Söhne und Töchter dazu, von Willinger fotografieren zu lassen. Die Photographien erscheinen dann in der Stunde, selbstverständlich nicht unentgeltlich. Erscheint das Bild, hat der Cafetier selbstverständlich die Pflicht, ein Inserat dazu zu bezahlen. Erscheint das Inserat, so erscheint auch, zwischen die Inserate‘, was im Preis inbegriffen ist. Herr Samuel Wild (Billie Wilder) empfängt dann von Forda (dem Geschäftsführer, Anm. AT) den Auftrag zum Schreiben einer Notiz, die ohne gesetzlich geforderte Kennzeichnung als Insertion im redaktionellen Text erscheint. – Herr Wild macht diese Arbeit, wie er mir selbst erklärte, sehr gerne, da er dafür von Forda separat entlohnt wird.“

Die Enthüllungen von Spitz trieben Békessy in die Enge, sie lieferten der Staatsanwaltschaft Substanz für ihr Ermittlungsverfahren, das sie im August 1926 gegen Békessy einleitete. Weder Geldangebote noch gewalttätige körperliche Attacken von Stunde-Angestellten brachten Spitz von seiner Bereitschaft ab, gegen Békessy auszusagen. Als dieser fürchtete, die Arbeiterzeitung werde aufgrund von Spitz‘ Aussage ihr Schweigen brechen, machte er den verhängnisvollen Fehler, Friedrich Austerlitz, ohne dessen Namen zu nennen, als Kinderschänder hinzustellen und mit Veröffentlichung des Namens zu drohen. Damit wollte er die Arbeiterzeitung weiterhin zur schweigenden Komplizenschaft zwingen. Der Effekt war gegenteilig: Austerlitz trat wieder öffentlich an die Seite von Kraus. Der rote Finanzstadtrat Hugo Breitner stellte daraufhin kommunale Steuerschulden Békessys fällig. Zugleich verhaftete der Staatsanwalt den Geschäftsführer des Kronos-Verlags, Egon Forda, wegen Erpressung. Ernst Tschuppik, der Chefredakteur der Stunde, resignierte und ging nach Berlin. Békessys Stellung war unhaltbar geworden, er musste, da ihn auch sein Miteigentümer Castiglioni fallenließ, seine Anteile am Kronos-Verlag verkaufen und floh aus seinem Kurort Bad Wildungen nach Paris, von wo er nie mehr nach Wien zurückkehrte.

Karl Kraus hatte gesiegt. Sein Ruf „Hinaus aus Wien mit dem Schuft“ hatte sich durchgesetzt. 1600 Arbeitsstunden hatte sein Anwalt Oskar Samek, Kraus selbst nach eigener Mitteilung aber 6700 Arbeitsstunden in den Fall investiert. Edward Timms, der großartige Biograf von Karl Kraus, liefert einen Maßstab für den Erfolg von Kraus. Es wäre, schreibt er, als hätte ein kleines satirisches Blatt wie Private Eye eine Kampagne gegen den mächtigen Eigentümer des Boulevardblatts Sun, Rupert Murdoch, geführt und ihn aus London vertrieben.

Auch heute steht ein überhitztes Finanzcasinosystem vor dem Zusammenbruch, auch heute finden an der Börse Transaktionen zum Schaden des Publikums und des sogenannten kleinen Anlegers statt, die an besser geregelten Märkten nicht möglich wären. Auch heute beteiligen sich an solchen Transaktionen Männer, die ihr Ansehen in öffentlichen Funktionen gewonnen haben, auch heute bereichern sich an diesen Transaktionen ehemalige Finanzminister. Auch heute machen Träger hoher Ämter mit übel beleumundeten Journalisten gemeinsame Sache. Und auch heute genießen die zwielichtigen Helden dieser Geschäftigkeiten öffentlichen Ruhm und Ansehen.

Ob sich Parallelen zu Figuren unserer Publizistik finden, überlasse ich Ihrem Urteil. Es sind bestimmt nur äußerliche Ähnlichkeiten, das Trennende der beiden Epochen ist doch deutlich stärker als das Gemeinsame, aber es erscheint ein wenig seltsam, dass in all den Gedenk- und Erinnerungsjahren niemand auch nur einmal an den Fall Imre Békessy erinnert hat.

Der Fall Békessy hatte mehrere Nachspiele. Ernst Spitz wurde im KZ Buchenwald 1939 „auf der Flucht erschossen“, wie es hieß. Samuel Wild oder Billie Wilder befand sich 1926 gerade in Berlin, als der Békessy-Skandal kulminierte. Er beschloss, dortzubleiben und wurde Reporter bei den Blättern des Ullstein-Konzerns. 1933 emigrierte er über Paris nach Hollywood und wurde dort als Billy Wilder berühmt.

Békessys Sohn Hans Habe, ein Pseudonym für Janos Békessy (mit diesem Namen konnte er weder in Wien noch sonstwo publizistisch existieren), hat den Fall später aus den Augen des betroffenen Kindes beschrieben; sein Vater kommt darin mit geringerer Schuld davon, es wird aber deutlich, dass er ein mythomanischer Charakter mit trüglichem Geschäftssinn war. Habe attestiert sich selbst „angeborene und anerzogene Rücksichtslosigkeit“. Békessy senior unternahm mehrere Selbstmordversuche, der letzte war 1951 in Budapest erfolgreich.

Hans Habe wurde Journalist, in seiner Autobiografie lesen wir auch eine Schilderung des Pressewesens im Austrofaschismus, wo er – gegen den Rat seines Vaters – als Redakteur von Heimwehrblättern wirkte, was ihn zur Emigration animierte. 1945 kehrte er nach Deutschland zurück, wo er für die Amerikaner im Zug der Re-Education das deutsche Pressewesen wieder aufbaute und kurze Zeit Chefredakteur von 18 Zeitungen war, dann die Neue Zeitung, das auflagenstarke Organ der amerikanischen Besatzer, redigierte, bei dem Leute wie Stefan Heym und Erich Kästner mitarbeiteten.

Verwendete Literatur

Emmerich Békessy (Hg.): Békessys Panoptikum, Wien, Budapest 1928

Hans Habe: Ich stelle mich. Meine Lebensgeschichte. Kurt Desch Verlag 1954

Andreas Hutter: Rasiermesser im Kopf Ernst Spitz – Literat, Journalist, Aufklärer. Mandelbaum Verlag 2006

Karl Kraus: Die Fackel, 732-734

Reinhard Merkel: Strafrecht und Satire im Werk von Karl Kraus. Suhrkamp 1998

Ernst Spitz: Békessys Revolver. Saturn Verlag 1926

Edward Timms: Karl Kraus, Apocalyptic Satirist (Vol. II), Yale University Press 2005

 


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Ihr Armin Thurnher

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