Republik der Heuchler

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 438

Armin Thurnher
am 09.06.2021

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Gestern und vorgestern hielt ich beim Montagsforum in Dornbirn eine Vortrag, zweimal, weil die Zuschauerschaft aufgrund von Corona-Maßnahmen zweigeteilt werden musste. Das Thema des Vortrags schien einem ganz aktuellen Bedürfnis zu entsprechen und stand doch schon seit fast zwei Jahren fest: Woher weiß ich, dass es stimmt (Ich komme in einer anderen Folge darauf zurück)?

Ich sprach über Kriterien von Veröffentlichung und Nichtveröffentlichung und kam dabei auf Heuchelei zu sprechen. Vielleicht darf ich eine kleine Passage wiedergeben. (Das ist übrigens heuchlerisch formuliert, denn wer könnte mich davon abhalten, das zu tun?) Ich sagte unter anderem: „Viele Fakten erfahren wir nicht, weil die redaktionelle Entscheidung fiel, sie eben nicht zu veröffentlichen. Das kann geschehen, weil es die Privatsphäre einer Person betrifft; zum Beispiel hat der Drogenkonsum einer Person nur dann etwas in der Öffentlichkeit verloren, wenn dieser die Ausübung der Funktion behindert. Sei es, weil der oder die Betreffende erpressbar wird oder das getrübte Bewusstsein klares Handeln verhindert.

Das trifft auch für Intimes wie sexuelle Vorlieben etcetera zu. Dabei ist Heuchelei ein Kriterium für Veröffentlichung. Ein Politiker, der gegen Homosexualität wettert, während er sich selbst homosexuell vergnügt, kann und sollte mit jenen Fakten konfrontiert werden, die seine Heuchelei bezeugen. Tut er das nicht, geht sein Privatleben niemanden etwas an. Zu Lebzeiten Jörg Haiders haben wir zum Beispiel immer wieder abgelehnt, uns angebotene Informationen über seine homosexuellen Neigungen und Aktivitäten zu überprüfen oder gar zu bringen.

Ähnliches gilt für Charakterfragen: Wäre der Kanzler ein Agnostiker und Feind der katholischen Kirche, wäre das Faktum, dass er seinen Vertrauten, den Nunmehr-Ex-ÖBAG-Chef Thomas Schmid anfeuerte, als dieser den für Kirchensteuer zuständigen Kirchenbeamten sadistisch quälte, keiner Erwähnung wert. Lässt sich der Kanzler aber bei Gebetsfeiern in Anwesenheit des Kardinals frömmelnd feiern, ist das Faktum berichtenswert, weil es seinen Charakter beleuchtet.

Es steht die Frage im Raum, ob die Chats zwischen Sektionschef Pilnacek und Ex-Verfassungsrichter Brandstetter eine private Konversation waren, und ob es Berechtigung gibt, sie gleichsam im staatsbürgerlichen Interesse zu veröffentlichen, wie die sie veröffentlichenden Neos geltend machten.

Die ÖVP bestreitet das und stellt, wie der Abgeordnete Hanger vergangenen Freitag, den Akt der Veröffentlichung als kriminell hin. Während wenige Tage zuvor der Staatsanwalt Purkart im Untersuchungsausschuss anhand von Wasserzeichen nachwies, dass die ÖVP selbst genau solche Akten aus dem Ausschuss hinausgespielt hatte.“

Es ging im Vortrag um Wahrheit und Lüge in der Politik, und Heuchelei ist jene Form, die Öffentlichkeit zu täuschen, bei der sich die Heuchelnden besser darstellen als sie sind. Selten wurde so viel geheuchelt wie in diesen Tagen.

Ex-ÖBAG-Chef und Kurz-Familienmitglied Thomas Schmid, Emblem der Heuchelei Foto © ÖBAG

Warum musste ÖBAG-Chef Thomas Schmid ausgerechnet jetzt gehen? Weil er nicht mehr zu halten war? Nein, weil er dem Ansehen des Kanzlers zu schaden begann. Womit sich dieser als Oberheuchler vom Dienst erweist, denn wieder einmal beurteilt er nicht eine Tat oder eine Tatsache, sondern nur deren Wirkung auf sein eigenes Ansehen. Aber auch die nun losgelassene Empörung der Öffentlichkeit ist heuchlerisch, denn was sind die Chats von Schmid, verglichen mit seinem Verhalten beim Zurichten der Bedingungen für seine Ausschreibung?

Sexuelle Belästigung ist ein katastrophaler Vorwurf, aber wie heuchlerisch ist eine Öffentlichkeit, die Wolfgang Fellners jahrzehntelange publizistische Praktiken nicht als permanenten Skandal betrachtete und ihn erst nach MeToo-Vorwürfen als Grenzübertreter empfindet?

Wie soll man eine politische Öffentlichkeit nennen, die Wolfgang Sobotka, den offensichtlich im strikt juristischen Sinn befangenen Vorsitzenden des Ibiza-Untersuchungsausschusses einfach agieren lässt, wenn nicht heuchlerisch? Die einen davonkommen lässt, wenn er Skandalöses fordert wie die Aufhebung der Wahrheitspflicht und danach auch noch versucht, diese Forderung als bloß „unsauber formuliert“ wieder wegzuschwindeln?

Und Herbert Kickl, der im Augenblick seiner Salbung zum Rottenführer schlagartig demütig gewordene FPÖ-Chef: Ist er nicht ein monumentaler Heuchler, wenn er sich nun an die „schwarze“ ÖVP anbiedert? Als wären es nicht gerade die christlichen, schwarzen Reste dieser Partei gewesen, welche die Koalition mit seiner rechtsextremen Partie ablehnt hatten? Die einer humanen Flüchtlingspolitik das Wort reden? Und war es nicht jener Kurz, den Kickl jetzt um alles weghaben will (heuchelt er) der einst beim Tabubruch mit den bis dato fast unberührbaren Rechten so weit ging, sogar ihn, Kickl zum Innenminister zu machen?

Von den Grünen nicht zu reden, die jahrzehntelang von Minderheitsrechten faselten und Aufdeckungsarbeit betrieben, um nun aus reiner Selbsterhaltung gemeinsam mit der türkisen Partei den Ibiza-Ausschuss abzubrechen? Und das mit identitätspolitisch und menschenrechtlich avancierter Heuchelei verteidigen?

Wir leben in der Republik der Heuchler. Was wir für die Stunde der Wahrheit halten sollen, ist nichts als ein Triumph der Heuchelei.


Distance, hands, masks, be considerate!

Ihr Armin Thurnher

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