„Moralischer Kapitalismus“. Fußnote zur sehr kurzen Geschichte des Neoliberalismus.
Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 434
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Eines steht fest und wurde hier gestern ganz deutlich gesagt. Der Neoliberalismus siegt nicht deswegen, weil er die besseren Argumente hat (die hat er nicht) oder die Macht und das Geld hat (die hat er), er siegt, weil sein Freiheitsanspruch so attraktiv ist. Die Einschränkung der eigenen Freiheit zugunsten der Freiheit anderer oder gar, um diese zu garantieren, ist eine Sache, die individuelle Einsicht zu überfordern scheint.
Es kommt aber noch ein Moment dazu: der reale Sozialismus und die Sozialdemokratie haben oft genug versagt, wenn es darum ging, zu zeigen, dass soziale Gerechtigkeit und wirtschaftliche und administrative Tüchtigkeit miteinander einhergehen können.
Vetternwirtschaft und Managementversagen gibt es in der Privatindustrie zuhauf, es gab es aber auch in der verstaatlichten Industrie in Österreich und in roten Betrieben wie dem Konsum oder Vorwärts. Natürlich wurde dieses Versagen von den politischen Gegner in eine generelle Unfähigkeit von Staat und Sozialismus umgelogen; Gegenbeispiele wurden ignoriert. Das Versagen privatwirtschaftlich geführter quasi-öffentlicher Betriebe, von den englischen Eisenbahnen und Wasserwerken bis zu italienischen Autobahn- und Seilbahnbetreibern, galt nie als abschreckend von der Idee des Privaten, sondern jeweils nur als bedauerlicher Einzelfall. Von brennenden Tankern, blockierten Kanaldurchfahrten und explodierten Ölbohrstationen zu schweigen.
Das Versagen sozialistischen Managements hingegen galt als Beweis für systemische Unfähigkeit. Dabei gäbe es bei gutem Willen genügend Gegenbeispiele, von den Schweizer Lebensmittelgenossenschaften Migros und Coop bis zur staatlichen Ebene. In Indien zeigt das seit Jahrzehnten entweder kommunistisch oder von der Mitte-Links-Partei Congress regierte Kerala, dass dieser Staat in allen Aspekten besser, reicher und gerechter dasteht als sämtliche anderen indischen Bundesstaaten.
Hegemonial gesehen nützt das alles nichts, es triumphieren schlichte antiegalitäre Konzepte aus gröbstem neoliberalem Holz. Selbst in den USA sieht es diesbezüglich bald besser aus als bei uns. Der bekannte linke Publizist Michael Kazin, im Zivilberuf Geschichtsprofessor an der Georgetown University, gibt in seinem nächstes Jahr erscheinenden Buch zur Geschichte der demokratischen Partei die Parole des „moralischen Kapitalismus“ aus.
Michael Kazin Foto @ New York Review of Books
Kazin war in jungen Jahren als 1968er beim SDS aktiv und gab dann jahrzehntelang die maßgebliche linke Zeitschrift „Dissent“ mit heraus, in der auch Kommunitaristen wie Michael Walzer publizieren. Er unterstützte nach eigener Aussage bei jeder Wahl mit Bauchweh die Demokraten (bis auf einmal, als er den Dilettantismus des Erdnussfarmers Jimmy Carter nicht ertrug).
Was bedeutet »moralischer Kapitalismus« in Kazins Interpretation? Zuvor noch ein Wort zu den auch hier voraussehbaren Reaktionen. So sicher wie das Amen im Gebet kommt hier der Aufschrei der rechten Antimoralisierer-Fraktion, man möge doch cool bleiben und den Markt nicht mit Moral behelligen.
Moral ist aber nicht gleich Moralisieren, eine Verwechslung, die ebenso systematisch betrieben wird wie die Behauptung, Sozialisten seien unfähig, Betriebe profitabel zu führen. Moralisieren bedeutet, Moral zu predigen, Verhaltensweisen einzufordern, denen man meist selbst nicht folgt (wie jene US-Abgeordneten, die gegen Homosexualität wettern und mit Knaben auf dem Klo erwischt werden, oder jene Kanzler, die den Segen Gottes auf sich herabbeschwören lassen und sich dann daran delektieren, dass Kirchenleute sadistisch verfolgt werden – Stichwort: „gib Vollgas“).
Moralischer Kapitalismus bedeutet also nicht, den Kanzler aufzufordern, sich beim Chatten zusammenzureißen. Moralischer Kapitalismus heißt, von Kapitalisten Selbstbeschränkung zu verlangen, also die Einsicht, ihre Profite vom Staat beschränken zu lassen.
Kazin behauptet, die US-amerikanischen Demokraten seien immer von einem gemeinsamen Glauben getragen gewesen. »Er nennt diesen Glauben „moralischen Kapitalismus“ – „eine weitgehend egalitäre Wirtschaftsvision“, erklärte er, „zunächst nur für weiße Amerikaner, aber schließlich für jeden Bürger. Selbst als sie die rassische Vormachtstellung der Weißen verteidigten und im Süden eine brutale Politik betrieben, die das Leben schwarzer Amerikaner und anderer Farbiger verwüstete, schworen die Demokraten auf Jeffersons Maxime „,gleiche Rechte für alle und besondere Privilegien für niemanden‘“.
Die Führer der Demokratischen Partei hätten in verschiedenen Phasen des wirtschaftlichen Abschwungs und der sozialen Unruhen „verstanden, dass die meisten Wähler keine Alternative zum System der Märkte und Löhne sahen, aber auch ziemlich zutreffend glaubten, dass die kapitalistische Ordnung nicht das utilitaristische Ideal des größten Nutzens für die größte Zahl hervorbrachte,“« sagte Kazin in einem Interview mit der New York Review of Books, die auf ihrer Webseite neuerdings Interviews mit ihren Autorinnen und Autoren bringt.
Das utilitaristische Ideal, sagt Kazin, sei nur im Wohlfahrtsstaat realisierbar. Genau den aber wollen die Neoliberalen demontieren. Der Diskussion, wie ein kapitalistisch-effizienter Wohlfahrtsstaat aussieht, also ein moralischer Staat, weicht die Linke aus. So lange sie es nicht schafft, hier neue, gaubwürdige Konzepte vorzustellen, bleibt es beim Moralisieren. Und so lange wird es nichts mit dem Machtwechsel.
Distance, hands, masks, be considerate!
Ihr Armin Thurnher