Eine ganz kurze Geschichte des Neoliberalismus

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 431

Armin Thurnher
am 01.06.2021

Abonnieren Sie Armin Thurnhers Seuchenkolumne:

Teil 1 einer dreiteiligen Serie.

»Wie der Neoliberalismus die Hegemonie erlangte. Ideen setzen sich nicht durch, weil sie besser sind, sondern weil die Macht auf ihrer Seite ist« So lauteten Titel und Untertitel eines Textes, den ich für eine jener legendären Ökonomie-Beilagen schrieb, die der Falter gemeinsam mit der AK Wien herausgibt. Er erschien vor sechs Jahren und ist nicht im Falter-Archiv abrufbar. Das Archiv ist ja jener rätselhafte Ort, in dem wir uns verlieren können; Mythen und Romane haben sich ihm gewidmet, und ich bin froh, wenn ich ein Stück aus ihm berge, das mir nützlich erschient.

Der Anlass, diesen Text wieder zu publizieren, ist die unscheinbare Frage, die mir gestern auf Twitter gestellt wurde. Was das eigentlich sei, Neoliberalismus. Nun, das wird hier nur unzureichend definiert. Worum es mir vor allem geht, ist zu zeigen, wie Neoliberalismus als Herstellung von gesellschaftlichem Bewusstsein erfolgreich und folgenreich war wie keine andere intellektuelle Bewegung seit den Totalitarismen. Dialektik der Aufklärung: seinen Erfolg verdankt er nicht zuletzt der Tatsache, dass er gegen Kommunismus und Faschismus auftrat, als Herold der Freiheit. Das macht ihn auch so attraktiv, wenngleich sein Protagonist, der österreichische Ökonom  Friedrich Hayek, im Zweifel autoritäre Systeme (wie das Chile Pinochets) demokratischen vorzog. 

Friedrich August von Hayek, 1981

In diesen Tagen darf man hoffen, dass im Zeichen von Bidenomics und wiederholten, immer stärkerer Krisen des Kapitalismus (Corona, 2008) sein letztes Stündchen zu schlagen beginnt. Aber Österreich hat in letzten Stündchen immer noch Raum für ein vorletztes Stündchen. Die Reaktion hat bei uns immer Saison. Früher trug sie Zopf und Perücke, momentan trägt sie Slimfit-Firmlingsanzug.

Gestern berichtete ich über die drohende Komplettneoliberalisierung von Wirtschaftsforschung und damit offizieller Wirtschafts-Regierungspolitik. Heute beginnt die kurze Serie, deren erster Teil gleichsam daran anknüpft.

I.

Die Welt schwirrt vor Ratgebern. Kaum ein Machthaber kommt ohne sie aus. Mythische Erzählungen kennen alle Arten von ihnen, den weisen, schön sprechenden uneigennützigen Mentor ebenso wie den doppelzüngigen, falschen, nur auf Eigennutz bedachten Ohrenbläser des Königs.

Uns interessiert aber mehr das Zeitalter der Demokratie, als es notwendig wurde, nicht nur den Beifall der Masse zu gewinnen, sondern auch deren Zustimmung. In dem Moment, da die Frage auftaucht, wie sich der Souverän in der Demokratie seine Meinung bildet, wird sie zur Frage, wie Politik diese Meinung beeinflussen kann.

Die Kunst der Rhetorik dreht sich von Anfang an um diese Frage. Aus der Rhetorik sind alle abendländischen Wissenschaften entstanden. Die Beratungs- und die Gerichtsrede waren ihre vitalen Bereiche, solange demokratische Verhältnisse herrschten; hernach gab es nur noch die den jeweiligen Potentaten verherrlichende Prunkrede. Cicero, römischer Anwalt, republikanischer Politiker und respektierter Literat, deklariert trocken, es gehe um den Beifall. „Dass meine Beredsamkeit beim Volk Beifall findet, das ist mein Wunsch.“

Cicero hing der naiven Ansicht an, zwischen seiner Fähigkeit zu überzeugen und der sophistischen Fähigkeit zu überreden bestehe ein Unterschied. Der bestand schon damals nicht, und seither ging der Kampf zwischen denen, die zu überzeugen versuchen, und jenen, die überreden und überwältigen, immer wieder von neuem los; die ersten verloren ihn nicht immer, aber doch öfter.

Man könnte die Geschichte der Öffentlichkeit schreiben, wie sie als Forum der Demokratie dem Versuch, andere zu überzeugen, diente und zugleich als Forum der Manipulation missbraucht wurde. Man könnte der Geschichte des ökonomischen eine Geschichte des medialen Paradigmenwechsels zur Seite stellen. Dem nach 1945 herrschenden Keynesianismus entspräche dann eine Auffassung von Medienöffentlichkeit, die verhindern sollte, dass mithilfe medialer Macht jemals wieder totalitäre Systeme errichtet würden, wie es die Nazis mit der Goebbels’schen Propaganda taten.

Öffentlich-rechtlicher Rundfunk und Fernsehen waren der Inbegriff dieses „medialen Keynesianismus“; wie dieser befinden sie sich heute unversehens in einer offenbar nur schwer verständlich zu machenden Minderheitenposition; in anderen krisengeschüttelten Demokratien wie Griechenland und Israel wurden oder werden solche Institutionen gerade abgeschafft.

Diesem Aspekt können wir hier nicht weiter nachgehen. Aber der – auch ideelle – Rückzug des öffentlich-rechtlichen Wesens sollte als ein Moment einer neoliberalisierten Öffentlichkeit begriffen werden. Dass andere Institutionen der Überzeugung in einer demokratischen Öffentlichkeit ebenfalls der Kontrolle des Staates oder öffentlicher Institutionen entgleiten, passt ins Bild. Die einseitige Ausbildung an den Wirtschaftsuniversitäten, die zunehmende privatwirtschaftliche Dotierung von Think-Tanks und Publizisten und nicht zuletzt das Wachstum der PR-Wirtschaft (die vor zwei Jahren auch personalmäßig die Medienindustrie überholte) müssen als Teil der neoliberalen Offensive begriffen werden. An deren Ende steht ein beinahe unbefragbares herrschendes Paradigma.

Die dabei entstehende, sich aufdrängende Frage lautet: Wie bekommt man die Massen dazu, gegen ihre eigenen Interessen zu votieren und denen Beifall zu spenden, die für Ziele eintreten, die dem massenhaften Wohl oder der Wohlfahrt der Massen entgegengesetzt sind? Die Antwort ist oft verblüffend, ja beschämend einfach. Blind durch die selbsterzeugte Illusion der Aufklärung, in einem Konstrukt, das wir Öffentlichkeit nennen, gäbe es nichts Stärkeres als die Macht des Arguments, wollen oder können wir diese Antwort in ihrer Schlichtheit nicht mehr sehen.

Naturgemäß geht es um einen Wettbewerb um die Gemüter. Viele Denkerinnen, die sich mit unserer Frage auseinandersetzen, zitieren deswegen Antoni Gramsci, den italienischen Marxisten, dessen Konzept der kulturellen Hegemonie auf einen intellektuellen Wettstreit abzielt. Gramsci zufolge erringt kulturelle Hegemonie nur, wer ein politisches Konzept hat, das er durchsetzen will. Wie er dieses Konzept durchzusetzen vermag, ist die entscheidende Frage.

Der Siegeszug des sogenannten Neoliberalismus ist ein Beispiel für den verblüffenden Siegeszug einer Ideologie, deren Folgen sich zuungunsten jener auswirken, die sie oder ihre Repräsentanten wählen; in den führenden Staaten des Westens mehrheitlich seit den 1970er-Jahren. Warum? Und wie war es möglich?

Morgen Teil II: New Deal und Sozialstaat als wahre Gegner der Neoliberalen.


Distance, hands, masks, be considerate!

Ihr Armin Thurnher

Abonnieren Sie Armin Thurnhers Seuchenkolumne:

Weitere Ausgaben:
Alle Ausgaben der Seuchenkolumne finden Sie in der Übersicht.

12 Wochen FALTER um 2,50 € pro Ausgabe
Kritischer und unabhängiger Journalismus kostet Geld. Unterstützen Sie uns mit einem Abonnement!