What will save you? Über den Dylan-Faktor

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 426

Armin Thurnher
am 26.05.2021

Abonnieren Sie Armin Thurnhers Seuchenkolumne:

Jetzt erst las ich den wirklich sehr feinen Text des Nino aus Wien über seinen Bob Dylan; der Falter nannte Nino ja einmal den „Bob Dylan vom Praterstern“. Ninos Text ermutigte mich, meinen Essay aus dem im Falter Verlag erschienenen Band Austro-Bob abzudrucken; manche seiner Motive habe ich im Roman Fähre nach Manhattan aufgegriffen und ausgearbeitet. Dylan selbst wird die Verspätung des Geburtstagsgrußes verschmerzen.

»Mein erster Bob Dylan-Song war Blowing in the Wind, natürlich. Der Song kam im Radio zu einer Zeit, als man das Gerät noch durch Knopfdrehen einschaltete und beiger Stoff mit Strickmuster den Lautsprecher schützte; aber es war schon ein Transistor, ein großer, mit hell furniertem Holzgehäuse, Füßchen aus Messing und elfenbeinfarbenen Tasten zum Hin- und Herschalten zwischen LW, MW und UKW. Leider spielte man eher nicht Dylan, sondern die Coverversion von Marlene Dietrich im Radio, als ich 14 oder 15 Jahre alt war. Maxi Böhm moderierte die Quizshow „Die große Chance“, auf die Signation der Sportsendung vom Rias Tanzorchester unter Werner Müller wartete ich mit heißen Ohren, denn danach wurde es wirklich aktuell und spannend.

Dann gab es Radio Luxemburg. Und die Musicbox in der Milano Bar Bregenz, deren Besuch mit Schulrelegation bedroht war; unter diesen Bedingungen klangen Les Neiges du Kilimandjaro oder Mr. Tambourine Man schon besser, obwohl der eher in die Bananaboat-Kiste zu gehören schien, von der wir aber auch nichts Näheres wussten. Sogar Like a Rolling Stone verblasste irgendwie neben der alles überschattenden Alternative Beatles oder Stones. Das erste Album, das wir als solches wahrnahmen, war von den Beatles, Rubber Soul. Wir dachten stark über Norwegian Wood nach; dass es Dylan-Alben gab, kümmerte uns nicht.

Und vor Dylan kamen noch die Beach Boys, Loving Spoonful, Animals und was weiß ich wer aller. Die Alternative Rock, Pop oder Klassik existierte für mich nie – auf dem Klavier spielte ich, was ich zu ertasten vermochte, im Radio hörte ich alles, was ich erhaschen konnte. Es war wenig genug, auch mit Konzerten wurden wir nicht verwöhnt, höchstens vielleicht mit Tanzschiffen auf dem Bodensee, auf denen man mit Udo Jürgens (interessant für Mädchen) und Casey Jones (ja, dem von The Governors, interessant für uns Knaben) in Kontakt kommen konnte.

Mein Leben änderte sich schlagartig, als ich mit 18 Jahren erstmals europäischen Boden verließ und für ein Jahr nach New York City ging. Ich hatte ein Stipendium für ein College auf Staten Island. Der junge Thurnher wurde dort einer Schocktherapie unterzogen. First Time for Everything. Erster Hamburger, erste Pizza und so. Im College traf er nur das trainierende Footballteam an und befürchtete, alle Amerikaner seien so. Aber nein. Vor dem Dormitory saß das schwule Hausverwalterpärchen Hand in Hand in der Abendsonne. Und auf der Fähre von Staten Island nach Manhattan traf er zufällig Brooke, die er aus Bregenz kannte. Sie hatte sich auf Heimatboden in ein Hippiewesen verwandelt, nahm ihn bei der Hand und zog ihn in den schrill kreischenden Untergrund, in die Subway-Station South Ferry.

Er begleitete Brooke zum Perlenkauf. Beads, Native-American-Schmuck bastelte man selber, man sagte noch Indians und Negro, später sah er mit eignen Augen auf den Lokalen im Süden Schilder mit der Aufschrift: No Negroes. Einstweilen kriegte er den Kopf nicht zu den Wolkenkratzern hinauf und nicht zur Straße hinunter. Da lagen sie im Gelobten Land, Homeless People, Bums in Pappkartons mit schwarzen Gesichtern. Tempo, Sinneseindrücke, sozialer, politischer und akustischer Stress erforderten eine totale Neuorientierung. Der Amerikagläubige verwandelte sich unter dem Eindruck von Amerika in einen Amerikaskeptiker, der gerade den Glauben an ein anderes Amerika erlernte. Ein neuentdeckter Dylan lieferte die Lyrics zu diesem Entdeckungssong. People goin’ down to the ground / Buildings goin’ up to the sky …

Aus dem Video zu Subterranean Homesick Blues now, veröffentlicht 1965 auf dem Album Bringing it All Back Home. Bob Dylan zeigt den Text, links sieht man den Dichter Allen Ginsberg, der zuhört. Foto © Youtube, Bob Dylan

Dylan war plötzlich Teil meines Lebens. Er lag in Platten vor, die Bilder der Vinylalben waren groß genug, um sichtbar aufgestellt fast die Funktion von Posters zu erfüllen. Zur Ausrüstung des besseren Studentenzimmers im Dormitory gehörte der Plattenspieler. Greg Olsen hatte einen, er bewohnte das Zimmer neben unserem. Die Knaben saßen in Unterhosen oder nackt auf den Schreibtischen herum, es gab Duschen und Schwanzvergleiche, diese offensive Nacktheit und das viele Duschen musste man erst einmal verkraften, zuhause gab es eine Badewanne, die man samstags benützte, nach Tennis oder Fußball sprang man in den See. Greg war ein gemütlicher dicklicher großer Blonder. Er lag schwanzmäßig im hinteren Mittelfeld, aber er hatte alle Platten von Dylan.

Existentialismus à la Dylan: Man nahm nichts ernst, viele seiner frühen Lieder waren lustig, aber immer ging es um alles. We never much thought we could get very old. Beim Autostopp hatte man in gewissen Bundesstaaten eine halbe Unze Todesstrafe in der Tasche. Aber drohende Gefahr versüßte das Leben. Dylan reimte die Drohung, die über allem, Dylan sang die Süße, die in allem lag. Dylans Fingerpicking – Wohllaut des Widerstands. Seine Harmonica – blowing your mind. Die E-Gitarre – radikale Revolte. Wir lebten das Leben, das er uns vorsang, das hieß, für seine Kunst brauchten wir kein Ohr. Dass da Verlaine und Rimbaud mitsangen, europäische Avantgarde, the song of a poet who died in he gutter, das wäre uns, hätten wir es gewusst, sonstwo vorbeigegangen.

Irgendwie spürte man, jetzt gilt’s. Nicht Revolte spielen, Revolte sein. Man lernte Leute kennen, die später unter den ersten Aidstoten waren. Man ging mit ihnen als Nichtschwuler ins Stonewall in der Christopher Street tanzen, halt auch so eine Schwulenbar. Mal sehen, was passiert. Nur nicht uptight sein. Im Stonewall musste man gewesen sein, und man lernte nicht nur geschwind, dass man das W in Greenwich Village nicht aussprach, sondern dass man überhaupt nur Village sagte, und dass das Stonewall im West Village lag, über das man bald die Nase rümpfte. Where it’s at, darauf kam es an. New York, augenscheinlich der Ort, wo man weltweit gesehen die Nase vorn hatte, zerfiel deutlich in Plätze und Leute, die hip und solche die weniger hip waren. East Village war hip, die Weekend Hippies waren lächerlich.

Der Vietnamkrieg fand auch auf dem College statt, der Einberufungsbefehl konnte jeden treffen, young people’s blood war nicht bloß so eine Liedzeile. Kriegsgegner zündeten ihre Draft-Cards an, der Zimmerkollege war so einer, Gegenkultur bekam etwas Handfestes, Revolte wurde existentiell, selbst Blowing in the Wind wurde dem Salongefühl enthoben, das aufkam, wenn man es Marlene Dietrich singen hörte. Aber damals wusste man nicht wirklich, wer Marlene Dietrich war. Unwissenheit ist das schöne Vorrecht der Jugend; die Zeche zahlt man später, wenn man selber Opfer von Generationen wird, die ihrerseits ihr Recht auf Dummheit geltend machen. Bescheuertheit besiegelt diesen ewigen Kettenvertrag der Generationen.

Immerhin kam Richie Havens aufs College und sang ein Anti-Vietnam-Konzert mit vielen Dylan Coverversionen. Die Stimmung übertraf die beim Basketball, und das wollte was heißen. Das war zwei Jahre, ehe ihn sein Woodstock-Auftritt berühmt machte, aber seine erste Platte war gerade erschienen, und Havens war attraktiv: böse auf das System und ein Haberer des jungen Jimi Hendrix, schlug er auf seine Gitarre ein, als wollte er sie nicht mehr heil nach Hause nehmen.

Im Village konnte man 1967/68 mit dem Gefühl herumgehen, dass auch Dylan hier herumging, obwohl man sich eher die Zunge abgebissen hätte, als sich etwas anmerken zu lassen oder sich nach ihm umzudrehen, wenn man ihn gesehen hätte. In New York drehte man sich nach niemand um, und niemand drehte sich nach einem um. Das hatte man gleich heraußen, wenn einem auch der Kopf noch immer und schon wieder wirbelte. Das war ja einer der Gründe, hier zu sein. Niemand drehte sich je nach einem um.

Hätte ich von all den Menschen gewusst, an denen ich vorbeigegangen bin, ohne mich nach ihnen umzudrehen, mein Leben hätte gewiss andere Wendungen genommen. Keine Hannah Arendt, kein Wystan Hugh Auden, kein Bob Dylan. Gerade ein bisschen Allen Ginsberg, Tuli Kupferberg und Herbert Marcuse an der New School. Country Joe McDonald in der St. Marks Church, der schon, aber das war sozusagen politische Pflicht für Vietnamkriegsgegner: Give me an F… Kein Woody Guthrie, der keine drei Monate nach meiner ruhmlosen Ankunft in New York verstarb, im Oktober 1967, im Creedmoor Psychiatric Center Luftlinie, knapp 10 Meilen entfernt von meinem College. Dylan hatte ihn in den frühen 1960er Jahren in einer anderen Klink besucht, als Guthrie noch besuchbar war. Seine Guthrie-Verehrung war hörbar, am frühen Stil. Hey Woodie Guthrie, I wrote you a song…

Greg Olson vom Nebenzimmer hatte auch das frische Album Blonde on Blonde. Die Greatest Hits kaufte ich mir, um sie mit heimzunehmen, selig die WG, in der sie dann geblieben sind, neben anderen, viel selteneren Platten, die ich mitbrachte. Dylans elektrische Wende war ein Thema in Gregs Zimmer. Folkmusic hatte die Bedeutung von Protest, gewiss, und erst in den USA wurde mir die Tragweite der Tradition bewusst, die dahinter stand, von Woodie Guthrie bis Pete Seeger. Aber Pete Seeger nervte, Peter Paul and Mary waren zu gut um wahr zu sein, Bob Dylan hingegen traf den Nerv.

Ernstlich kreidete ihm diese Wende keiner von uns an. Jay, Gregs Freund, der mich zu seiner Familie zum Thanksgiving-Turkey einlud, fand nichts dabei, Leaving on a Jet Plane, don’t know when i’ll be back again, im Basement seines Elternhauses mit seiner High School band auf der E-Gitarre elektrisch rauszuheulen – ein bleibender musikalischer Eindruck. Das meine ich ganz unironisch; die meisten Kids-Bands hätten in Österreich auf größeren Bühnen Furore gemacht. Und natürlich hatte Jay auch The Times They Are A-Changing im Repertoire.

Nein, Dylans Newport-Incident, empfand man nicht als Sündenfall auf unserem Stockwerk. Talking New York Blues zu hören schloss in keiner Weise aus, die Songs von Blonde on Blonde gut zu finden. Elektrifizierte Musik hatte jedoch mindestens soviel soziale Sprengkraft wie Folk, das war jedem klar. Die Avantgarde hörte sowieso Zappa, Zappa gehörte Louie, dem libanesischsstämmigen Assistenten aus dem Art-Department und seiner Crew, der Kunstfraktion, die die fettesten Öfen baute. Von der schönen Brooke hatten sie einen Ganzkörperabguss aus Fiberglas gemacht, immerhin. Joan Baez, geboren auf Staten Island, war völlig unvermeidlich (she’s a humdinger / folk singer). Blues ging sowieso in jeder Form, Mike Bloomfield zum Beispiel spielte bei Paul Butterfield und auch bei Bob Dylan, das alles wurde fachmännisch diskutiert und bewertet.

Aber Dylan schwebte irgendwie über allem. Hätten wir eine musikalische Seele des Jahres oder des Zeitalters nominieren müssen, es hätte nur Dylan sein können. Nicht wegen seiner dominierenden Stellung unter den Rock-, Folk- und Popmusikern seiner Tag, die man in Martin Scorseses The Last Waltz so deutlich ablesen kann – Dylan erscheint im weißen Anzug und alle anderen Musiker, von Eric Clapton bis Ringo Starr, von Van Morrison bis Neil Young ordnen sich um ihn wie Sterne um eine Sonne. Nein, wegen des What-Will-Save-You-Faktors. Der amerikanische Dichter Frederick Seidel hat diesen Begriff geschaffen. Er meint jenen Menschen, der eine Stadt zu einer bestimmten Zeit prägt, vielleicht sogar, ohne dass sie es weiß, aber die Wissenden wissen es. Hätten wir 1967/68 in New York diesen Faktor benennen müssen, es hätte keinen Zweifel gegeben. Es wäre der Dylan-Faktor gewesen.

Zwar konzertierte Dylan während des ganzen Jahres meines Aufenthalts gerade ein einziges Mal in New York. Und zwar in der Carnegie Hall (!), während unsereiner doch in Clubs und vor dem Fillmore East herumhing. Bowery, Second Avenue um zwei Uhr nachts, die breite Straße hell und ziemlich leer, abgerissene Plakate in Day-Glo-Farben überall, ich streunte mit einem Freund durch die Nacht, der Wind trieb Flugzettel, Pappbecher und Papierservietten über die Straße, und entgegen kam uns, den Gitarrenkasten in der Hand, ganz allein, mit hängendem Kopf, in eine dunkle Aura gehüllt, Richie Havens. Näher bin ich Dylan nie gewesen.


Distance, hands, masks, be considerate!

Ihr Armin Thurnher

Abonnieren Sie Armin Thurnhers Seuchenkolumne:

Weitere Ausgaben:
Alle Ausgaben der Seuchenkolumne finden Sie in der Übersicht.

12 Wochen FALTER um 2,50 € pro Ausgabe
Kritischer und unabhängiger Journalismus kostet Geld. Unterstützen Sie uns mit einem Abonnement!