Nancy Fraser, Karl Polanyi und ich

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 410

Armin Thurnher
am 06.05.2021

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Ziemlich genau vor drei Jahren, Anfang Mai 2018, wurde in Wien die Karl Polanyi Gesellschaft gegründet, und, wie ich nachträglich erfuhr, hatte ich einen gewissen Anteil daran. In einem Text hatte ich nämlich diesen politischen Denker und Historiker zitiert, und dieses Zitat war, wie mir Andreas Novy mitteilte, Professor an der WU in Wien, mit Brigitte Aulenbacher, Professorin für Soziologie an der Kepler-Uni in Linz, Gründungsmitglied dieser Gesellschaft, mit ein Impuls zu dieser Gründung.

So wurde auch ich eingeladen, bei der Gründungsveranstaltung zu sprechen, und erzählte dort folgende Anekdote.

»Vor einigen Jahren wurde eine in meinem Wohnhaus gelegene Galerie neu vermietet. Der neue Mieter war zu meinem Missfallen, ja zu meinem Entsetzen die Friedrich-Hayek-Gesellschaft. Erfreulicherweise ist sie nicht allzu aktiv, aber ein paarmal im Jahr finden dort Versammlungen statt, an denen ich, wenn ich im Gang vorüberhusche, so gut wie alle Gesichter jener Leute sehe, die in Österreichs politisch rechter Publizistik eine steife neoliberale Oberlippe und die immergleichen dünnen Phrasen zur Schau stellen.

Dieses Institut hat im Gang eine Tafel angebracht, nicht eigentlich eine Tafel, eher ein Blatt Papier, auf dem „Friedrich-Hayek-Saal“ steht. Ich spielte die längste Zeit mit dem Gedanken, darüber ein ähnliches Blatt zu befestigen, mit der Aufschrift „Karl-Polanyi-Emporium“ und der Adresse meiner Wohnung. Davon kann ich ja nun Abstand nehmen, da erfreulicherweise die Karl-Polanyi-Gesellschaft gegründet wird.

Karl Polanyi ist wie viele Propheten im eigenen Land kaum rezipiert worden. Erst in den letzten Jahren beginnt sich das zu ändern. Die Ignoranz war und ist doppelt unverständlich. Zum einen, weil Polanyi das Rote Wien als einen Höhepunkt westlicher Zivilisation betrachtete, während das Rote Wien Polanyi nicht in Betracht zu ziehen schien. Im Gegenteil: Dieses Projekt einer milde sozialistisch regierten Stadt ist trotz allen gegenwärtigen Verwässerungen, Schwierigkeiten und Niederlagen noch immer weltweit einzigartig. Seine Verantwortlichen legitimieren es leider weniger politisch als vielmehr mit Lifestyle-Rankings, bei denen man Jahr für Jahr den Spitzenplatz belegt (…)

Statt stolz die erfolgreiche Fortdauer des Experiments Rotes Wien auch ideell zu fundieren, verließ man sich in der Stadtregierung auf die Allianz mit Boulevardmedien, deren Eigentümer ganz anderen, dezidiert nichtsozialistischen Prinzipien folgen und die ein Klima schaffen, in dem so etwas wie das Rote Wien als lästiges Überbleibsel vergangener Zeiten erscheint und nicht als Vorschein einer möglichen neuen, zweiten rotgrünen Moderne.

In meinem ominösen Artikel im Falter zum Thema „70 Jahre Republik“ ärgerte mich besonders, dass der Neoliberalismus geradezu den Ehrentitel „österreichische Schule der Wirtschaft“ trägt, Austrian School of Economics. „Es gibt eine Gegenfigur“, schrieb ich also vor drei Jahren. „Der Wirtschaftshistoriker Karl Polanyi lehrte, dass eben keine Naturgesetzlichkeit des Marktes existiert, sondern dass es immer menschliche Entscheidungen sind, denen wir folgen. Ordnen wir uns Marktmechanismen oder dem Gemeinwohl unter?

(…) Müssen wir bloße menschliche Willkür als naturnotwendig akzeptieren? Politik bedeutet das Gegenteil. Sie stellt Verteilungsfragen. Von meiner Republik erwarte ich, dass sie zur Politik imstande ist. Es wäre Aufgabe ihrer Wirtschaftsuniversität, sich nicht fast ausschließlich der Betriebswirtschaft zu verschreiben.

Wir brauchen nicht nur Exzellenzcluster in Biotechnologie. Wir brauchen einen intellektuellen Impuls, der über die kleine, fette, siebzigjährige Zweite Republik hinaus Wirkung entfaltet. Die von Karl Polanyi inspirierte zweite österreichische ökonomische Schule. Sie könnte, vielleicht in Jahrzehnten, etwas bewirken, wofür man diese Republik gern im Gedächtnis behält.“

Nun ist also eine Gesellschaft daraus geworden«, sagte ich in meiner kleinen Ansprache, die Internationale Karl Polanyi Society. Die Schule werde gewiss folgen. »Bedenkt man, was die Hayek’sche Propagandaoffensive in der Welt alles angerichtet hat, und vor allem, wie hilflos Einwände dagegen oft scheinen, merkt man erst, wie sehr der Neoliberalismus als Geisteszustand, als Mindset, als herrschende Ideologie etabliert ist.

Diese Einsicht weckt Widerstände und ruft Hinweise auf andere politische Tatbestände hervor. In der Tat: Nicht überall wird neoliberale Politik gemacht. Nicht alles ist neoliberalisiert. Aber der Neoliberalismus ist die hegemoniale Ideologie unserer Epoche. Ihr gegenüber ist alles Linke in die Defensive geraten, alle Gegenentwürfe können schon auf der hanebüchenen Grundlage entkräftet werden, der Staat dürfe in den Markt nicht eingreifen, die Schulden müssten weg undsoweiter.

Karl Polanyi ist es, der die Fetischisierung des freien Markts, der Marktfreiheit entmystifiziert. Er schreibt: „Nirgends hat die Philosophie des Liberalismus so offensichtlich versagt, wie in ihrer Auffassung vom Wesen der Veränderung. (…) Die elementaren Wahrheiten der politischen Wissenschaft und Staatskunst wurden zuerst diskreditiert und dann vergessen. Es sollte keiner Erklärung bedürfen, dass ein Prozess ungesteuerter Veränderungen, dessen Tempo als zu schnell erachtet wird, wenn möglich verlangsamt werden muss, um das Wohlergehen der Gemeinschaft zu schützen.«

Das war vor drei Jahren. Mittlerweile sind einige Publikationen entstanden, ein aus einer Falter-AK-Beilage entwickeltes Buch über Karl Polanyi erschien im Falter Verlag, auch in einer englischen Übersetzung. Die Internationale Karl Polanyi Society ist mittlerweile ein an der WU am Institute for Multi-Level Governance and Development angedockter Verein.

Gemeinsam mit der Universität Wien, der WU, der Central European University (CEU), der Volkshochschule Wien und mit Unterstützung von AK und Stadt Wien  hat die Polanyi Gesellschaft eine Gastprofessur eingerichtet.

Nancy Fraser

Die US-amerikanische politische Philosophin Nancy Fraser, Feministin, Sozialistin und derzeit an der berühmten New Yorker New School of Social Research lehrend, ist die erste Gastprofessorin. Aufgrund der Pandemie kann sie leider nicht physisch anwesend sein. Sie hielt bisher bereits zwei Vorträge, und heute Abend werde ich mit ihr über ihre Thesen zur Pandemie diskutieren.

Fraser ist bekannt für ihre Kritik an der identitätspolitischen Ausrichtung mancher feministischer Spielarten, und insgesamt für eine vehemente Kapitalismuskritik, die es ablehnt, auf single issues, also auf einzelne Themen abzustellen.

So legt sie ihre ökologische Kritik und ihr Plädoyer für einen Ökosozialismus an, so betrachtet sie Gerechtigkeit als ein weltweites Problem, und so sieht sie auch die Pandemie: in einer messerscharfen Analyse weniger als Naturereignis denn als rundum kapitalistisches Phänomen.

Über ihre Thesen, darüber, was ihr Denken mit Karl Polanyi zu tun hat und einiges mehr werde ich heute Abend mit ihr ein Online-Gespräch führen dürfen. Ich fühle mich geehrt, bin gespannt und werde berichten, für den Fall, dass Sie keine Onlineregistrierung mehr ergattern konnten.


Distance, hands, masks, be considerate!

Ihr Armin Thurnher

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