Indien erstickt!

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 407

Armin Thurnher
am 03.05.2021

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Ich hatte vor, heute eine lose Serie zu starten: Fifty Shades of Fellner, das Beste aus meinem Archiv. Der Mann steht felsenfest inmitten der österreichischen Publizistik, ein Monument der Unzumutbarkeit, das erst jetzt, im Zug einer Affäre um mutmaßliche sexuelle Belästigung öffentliche Kratzer bekommt, aber bisher nicht nur für Unzumutbarkeit, sondern vielmehr für Unantastbarkeit stand. Die Gestalt eines Wirtschaftstreibenden, dessen Treiben kaum hinterfragt wurde, weil es in aller Öffentlichkeit stattfand. Ich habe das verschoben.

Indien erstickt, das ist der Grund. Im Falter-Maily  habe ich gestern auf die erschütternde Anklage der Schriftstellerin Arundhati Roy hingewiesen. Sie erschien im Guardian  und in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und sie zeigt, dass auch in Indien eine Figur im Mittelpunkt der Katastrophe steht, die unantastbar erscheint: Premierminister Narendra Modi. Der Hindufaschist und Chef der Hindupartei BJP hat sich einen lagen, weißen Bart wachsen lassen und pflegt Guru-artige Züge (Modiji, Modischatz nennt ihn das Volk). Aber auf dem World Forum in Davos tritt er als Modernisierer und Liberalisierer der Märkte auf, wie das so schön im Jargon der neuen Uneigentlichkeit heißt.

Eigentlich ist er zugleich ein abenteuerlicher Mann der Vergangenheit. Scharf und ungerecht verfährt er mit der Muslim-Minderheit, gegen die er Pogrome nicht nur zuließ, als er den Staat Gujarat regierte, zu denen er aufhetzte und deren Mörder er deckte. Nur unter ihm, sagen Zeugen heute, wären sie überhaupt möglich gewesen. Er schürt den interreligiösen Konflikt, wo er kann; diesbezüglich paart sich sein Zug zur Modernisierung mit einem Zug ins Archaische, eine bei Faschisten durchaus übliche Kombination.

Modis Nachfolger in Gujarat erklärte der staunenden Bevölkerung übrigens, warum nächtliche Ausgangssperren nötig seien: Weil das Virus eine Fledermaus-Mutation sei, sei es nachtaktiv und tagsüber weniger gefährlich. Modi selbst empfahl den Leuten, auf Töpfen zu klappern und Kerzen anzuzünden, um das Licht am Ende des Tunnels in die Wohnungen zu tragen und das Virus abzuschrecken.

Zugleich setzte er die Privatisierung des Gesundheitssystems fort; die Bevölkerung zahlt nun den Preis. An allen Ecken und Enden fehlt der medizinische Sauerstoff, hastige und unsachgemäße Manipulation führt vielfach zu Explosionen in Spitälern und zu Bränden mit Toten; derweil geht das Holz aus, um die Toten öffentlich zu verbrennen. Bäume werden in Städten gefällt, wo sie fortan zu Kühlung nicht mehr beitragen werden.

Indien erstickt. Dass Modi die zentrale Verantwortung dafür zufällt, hört man bei uns eher nicht. So weit geht das Interesse nicht, oder man kennt sich halt nicht so aus. Und Österreich schickt eh zwei Millionen aus dem Katastrophenfonds.

Im März vergangenen Jahres hatte der Modi noch verkündet, in 18 Tagen sei das Virus besiegt. Zuvor hatte er ohne Ankündigung einen mörderischen Lockdown verhängt, der Millionen mittellose Wanderarbeiter in ihre Heimatdörfer trieb; manch verhungerten, viele verbreiteten das Virus. Das alle zwölf Jahre einen Monat lang stattfindende Hindu-Massenfest Kumbh Mela untersagte er nicht, so baden täglich bis zu drei Millionen Pilger eng aneinandergedrängt im Ganges. Die Wahlkampagne in Westbengalen zog er in die Länge, um mehr Versammlungen mit seiner BJP abzuhalten, wo sich Menschen aneinanderdrängten und er selbst ihnen ohne Maske für ihr Erscheinen dankte.

Indien erstickt. 400.000 Neuinfizierte waren es am Wochenende, 500.000 werden es noch sein. Die Zahl der Toten Indiens soll im August eine Million erreichen (zum Vergleich: China hatte laut offiziellen Statistiken* insgesamt 90.000 Infizierte).

In dieser Lage kommen Nachrichten, die einen ein bisschen den Kopf heben lassen. In West Bengalen verlor die Modi-Partei glatt gegen die Amtsinhaberin Mamata Banerjee (77 zu 213 Sitze im Regionalparlament); in Kerala siegten die Kommunisten der CPI/M (M für Marxists) von Chief-Minister Pinaray Vijayan das erstenmal in Folge; sonst hatten sie sich mit der demokratischen Front der Gandhi-Nachfolgepartei Congress abgewechselt. Die Modi-Partei BJP verlor in Kerala ihren einzigen Sitz im Regionalparlament. Zwei Lichtblicke in einer desolaten Lage.

Kerala, stets entweder kommunistisch oder Mitte-Links regiert, konfessionell austariert (Mehrheit Hindus, etwa je ein Viertel Muslime und Katholiken) ist der indische Bundesstaat mit der besten Bildung, der besten Lage für Frauenrechte, den relativ geringsten Einkommensunterschieden und naturgemäß dem besten Gesundheitssystem. Auch dort steigen die Zahlen der Infizierten, aber immerhin 16 Prozent der Bevölkerung sind bereits einmal geimpft (Gesamtindien 1,4 Prozent).

Indien erstickt. Die Welt muss helfen, schreibt Arundhati Roy. Aber sie muss nicht nur Sauerstoff, Impfstoff und Beatmungsgeräte schicken. Sie muss Indien helfen, Modi loszuwerden. Dessen eitle Show zielt auf die Leichtgläubigen ab; die Medien hat er eingeschüchtert, den Obersten Gerichtshof, dem Indienkenner und marxistsichen Historiker Perry Anderson zufolge die lebendigste Instanz der indischen Demokratie (wie lange noch wird man sie so nennen können?), hat er auf Linie gebracht. Internationales Medienkapital stellt sich an, um den indischen Markt mit seinen 1,3 Milliarden Menschen nicht zu verlieren. Twitter zum Beispiel hat modikritische Accounts gesperrt. Der Westen, bei Putins Vorgehen gegen Nawalny zu Recht alarmiert, ist in Sachen Modi erstaunlich still und friedlich. Wie lange noch? Indien erstickt!

*nachträglich eingefügt


Distance, hands, masks, be considerate!

Ihr Armin Thurnher

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