Reiseerlaubnis, sofort und ohne Impfpass.

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 405

Armin Thurnher
am 29.04.2021

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Man muss sich beeilen, wenn man etwas sehen will. Diese Empfehlung des Malers Paul Cezanne gilt immer und für alles; was wir als schön und einzigartig empfinden, stirbt uns unter den Händen weg. Oder wird uns wegputzt, zugemüllt, aufgemotzt, umgebaut.

Das Beeilen ist derzeit durch Reisewarnungen, Quarantätepflichten und dergleichen stark gehemmt; meine Frau wäre gern nach Slowenien gefahren, aber solange bei der Rückkehr eine zehntägige Quarantäne einzuhalten ist, sieht das nicht gut aus. Die Neunzig Euro für den PCR-Test dienten der persönlichen Beruhigung. Antigentests können irren.

Die zwangsläufige Verlangsamung aller Reisebewegungen durch die Pandemie sollte man vielleicht nicht nur durch eine Steigerung der Zeit vor Bildschirmen nützen. Man kann Bücher lesen, das sind Reisen im Kopf, heißt es, aber man kann auch Reisebücher lesen, um sich umso besser auf jene Sehenswürdigkeiten vorzubereiten, zu denen man dann reisen wird.

Man sieht zwar nur, was man weiß (berühmter Slogan eines Reisebuchverlags), schert sich aber oft genug nicht darum und steht dann vor Dingen, über die man eben doch zu wenig weiß. Das gilt auch für die Entdeckung von Unvermutetem. Bloß ins Blaue zu fahren reicht nicht, man braucht schon eine Ahnung, wo es zu vermuten wäre. Auch Unvermutetes zu entdecken, fällt leichter, baut man auf einem soliden Schatz an Vermutungen auf; nötigenfalls stößt man diese dann um.

Der langen Einleitung kurzer Sinn: Ich mache heute wieder eine Buchempfehlung, denn endlich hat mir der Falter-Verlag das Buch Hotel Paradiso des Kollegen Matthias Dusini geschickt, bei dessen Entstehung ich nur anfangs, bei den ersten Diskussionen dabei war und das mich schon neugierig machte, als uns Dusini von seiner Idee erzählte.

Er wollte zu Orten reisen, die nicht nur Sehenswürdigkeiten im herkömmlichen Sinn sind, sondern Orte mit einer Geschichte, manchmal nur mehr Ruinen dieser Geschichte (auch wenn die Bauwerke intakt sind), jedenfalls Orte mit wechselhaften Schicksalen.

Bildseite aus dem Buch (Haus Briol)

Dusini ist ein leidenschaftlicher Geher, so scheint es selbstverständlich, dass er mit der Eisenbahn zu seinen Orten reist. Manchmal, wie im Fall des Hotels Briol, erreicht man den Ort auch nur zu Fuß. Dieses Hotel in Südtirol zeigt geradezu exemplarisch, wie Dusini vorgeht. Der Maler Helmut Lanzinger gestaltete es in den 1930er Jahren; Lanzinger war Nazi, sein Gemälde Hitlers als Fahnenträger erreichte ikonischen Status. Dennoch schuf Lanzinger in seinem Bau keineswegs Nazi-Architektur, sondern einen ganz besonderen Ort, den zum Beispiel der Schweizer Architekt Peter Zumthor (der selbst einige Wunderorte schuf, Kunsthaus Bregenz, Therme Vals) überaus schätzt und fast mit einem Zubau ergänzt hätte. Dusini erzählt uns die Entstehung des Hauses, die ideellen und ideologischen Hintergründe. Er bezieht auch Quartier im Haus Briol, er beschreibt, wie es sich dort lebt, was die Wirtin dazu sagt, und am Ende macht er mit dem Ort seinen Frieden.

Das muss nicht an jedem Ort so sein, manchmal ist es unmöglich. Die dreizehn Orte, die er in diesem Buch bereist und von denen er Geschichte und Geschichten erzählt, erlauben einen Blick auf die Geschichte der Moderne und ihrer Utopien. Immer sind es Unternehmer, Aufrührer, Aristokraten und Architekten, die mit ihren Ideen Geschichte gestalten wollen und zugleich in deren Mühlen von Kommunismus und Faschismus geraten, der totalitären Ideologien des 20. Jahrhunderts. Aussteiger, Oppositionelle, Visionäre entwerfen industrielle Utopien und antiindustrielle Gegen-Utopien.

Dusini führt uns nicht zu sorgsam herausgeputzten Sehenswürdigkeiten, er zeigt uns die wechselhaften Geschichten dieser Utopien. In der julisch-venetischen Company Town Torviscosa trifft er einen 80jährigen Einwohner, der ihm sein privates Archiv zeigt und seine persönliche Geschichte erzählt; Dusini ergänzt die historische und kunsthistorisch verblüffende Story der Viskose-erzeugenden Industriestadt: der Vater Freund Mussolinis, der Sohn Sponsor der situationistischen Internationale.

So reisen wir mit Dusini zu dreizehn Orten in Österreich, der Schweiz, Italien und der tschechischen Republik. Seine Recherchen bleiben nie unpersönlich und begnügen sich nie mit dem persönlichen Gespräch. Er schafft es, das Unentscheidbare offen zu lassen und das Entscheidbare auszusprechen; das macht die von ihm geschilderten Orte umso interessanter.

Elegante Grafiken von Oliver Hofmann, das feine Layout von Stela Pančić und aktuelle wie historische Fotos machen das Buch auch zum Bilderbuch. Nicht zum Bildband, denn es ist ein Reisebegleiter, signalisiert in leicht biegsamer Gestalt Tragbarkeit und Taschengleitfähigkeit, elegant in einer gedämpften Farbe, die es schafft, trendig auszusehen, ohne türkis zu sein.

Dusini hat den Titel „Hotel Paradiso“ mit Bedacht gewählt. So heißt die Ruine eines modernen Hotelprojekts im Südtiroler Vinschgau, und Dusini sagt, es diene als Motto, um Orte zu finden, „die ihre Geschichte erst auf den zweiten Blick preisgeben.“ Dusini bildet uns als unaufdringlicher Cicerone (so nannte man früher gebildete Reiseführer). Er lehrt uns eine gute Art zu reisen. Man muss nicht einmal hinfahren zu diesen dreizehn besonderen Orten, man kann nur über sie lesen. Fährt man woanders hin, wird man vielleicht fortan nach seiner Methode verfahren, die Dinge zweimal oder dreimal anzusehen, ehe man urteilt. Bildungsreise, das Wort klingt altmodisch. Dusini hat mit diesem Buch die Bildungsreise auf zeitgemäße, kluge und sehr sympathische Art reanimiert und uns vielleicht, auf unaufdringliche Weise, eine auch für anderes nützliche Lektion erteilt.


Distance, hands, masks, be considerate!

Ihr Armin Thurnher

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