Der Ketchupmoment. Eine Phantasmagorie.

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 395

Armin Thurnher
am 17.04.2021

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An ihren Metaphern sollt ihr sie erkennen. Der Bundeskanzler, dessen Namen mir gerade entfallen ist, um meine und die Nerven meiner hochsensiblen Mitleserinnenschaft zu schonen – die Welt ist alles, was einem entfällt, sagte Wittgenstein – hat jüngst schon wieder eine sehr erfolgreiche Metapher geprägt: den Ketchup-Moment.

Manchmal stelle ich mir die Werkstatt seiner Metaphern-Heinzelmännchen vor, wie sie kichern und mit ihren kleinen Hämmerchen auf den Wort-Plättchen herumhämmern, es klingt und klangt in der Wortschmiede, überall blitzt Geschmeide, Wortgeschmiede Wortgeschmeide, es wird einem ganz Wagnerianisch zumute, bald kommt Parsifal, der ist zwar weitgehend zwergenlos, aber egal, das ist für Kunstverliebte, sagt mein Lieblingskanzler, unser Kanzler, sagen seine Frauen, unser Bundeskanzler, und es klingt nach Lebkuchen und Loden und Herzen und Volksabstimmung, fast hätte ich gesagt, die Zwerglein sehen aus wie Mainzelmännchen, beim ZDF sind sie lustig, also Zipfelkappen gönne ich ihnen schon, den kleinen Wörterschmieden, kleine Klobrillenbärtchen und Latzhosen müssen auch sein. Bei uns heißen sie Kurzelmännchen und arbeiten im Message Control Salon. Sie sind herzig und lieb wie die Neue Normalität, die haben sie auch geschmiedet, so wie den Herrn im Himmel, dem wir so dankbar sind für diesen Kanzler, und auch die Falschen Vorwürfe und die Balkanroute.

Stille.

Hämmer sinken zu Boden.

„Ketchup!“ ruft ein Kurzelmännchen und hält ein neues Wortplättchen hoch, mit dem es die Neue Normalität und den Impfturbo vom Tisch fegt: Ketchup-Effekt! Schlagartig stehen alle Hämmerchen still, wie immer, wenn ein neues Hammerwort gefunden wird, und dann klopfen die vielen Hämmerchen einen tosenden Applaus auf die kleinen Wortbänkchen. Fleischmann aber, der Oberkurzelmann, bringt das neue Wort auf einem Tellerchen zu Melchior, dieser poliert noch einmal drüber und präsentiert es zusammen mit Steiner und Maderthaner dem Chef.

Hei, was für ein Feixen und Feiern! „Ketchup ist das neue Catchwort“ singen und tanzen sie zu Melodie von „Tic-Tac ist die neue Taktik“, und schon ist der Kurier-Artikel zum Thema fertig, zwischen kulturgeschichtlichem Hintergrund (deutsche US-Emigranten) und österreichischer Alternative: Bioketchup aus der Steiermark.

Im Juni spätestens wird dann jeder jemanden kennen, der sich mit Ketchup angepatzt hat wie der Chef im Spaß, denn er versteht viel mehr Spaß, als er das Publikum merken lässt, und seine Stimme klingt dann auch tiefer.

Er ist jetzt der Ketchupmann, der Catch-Up-Mann, der aus dem trostlosen Sacco di Vienna mit neun Prozent Zuspruch im Vertrauensindex herausbricht und dem Volk aus dem Ibiza-Ausschuss mit einer Heinz-Flasche zuwinkt, die aufgeschraubt ist, denn der Ketchup-Moment ist noch nicht gekommen, und alles bleibt blütenweiß.

Wir stellen an die Originalität unserer Prachtfiguren keine besonderen Ansprüche, und auch der Wahrheitsgehalt der Flasche, der sie überschwallartig entquellen, ist uns mittlerweile egal. Es ist uns so Wurst wie jenes Lebensmittel, das man statt mit Senf mit Ketchup anpatzt. Die Welt ist alles, was der Überschwall ist. Überfall Überschwall.

Dennoch gibt es Feinspitze unter uns, die in Deckung gehen und das Fleckputzmittel herrichten, wenn jener zum Würzmittel greift.

Eine freundliche Kollegin regte gestern auf Twitter an, man solle doch ein Lexikon des türkisen Sprachverdrehens anlegen, beginnend mit dem „Brückenbauer“. Ich antwortete, der Brückenbauer habe schon seit 1989 Saison, allerdings lügenhafte, denn damals präsentierte sich Österreich dem Westen als Brückenbauer in jenen Osten, der gerade seine kommunistischen Ketchup-Moment erlebte, das ganze Rot spritzte aus der Flasche, und in einem unglaublichen Schwall von Korruption, Diebstahl, Ausbeutung, Abgreifen und Nehmen bereicherte sich eine zukunftsfitte west-östliche Aussaugerklasse an den perplexen Gerade-Nicht-Mehr-Volksdemokratien und steckte alles in die Taschen, was nicht niet- und nagelfest war. Die größten Diebe sind heute unsere beliebtesten Geschäftspartner, das heißt nicht unsere, eher die der Ketchupflaschenmetaphernpräger, die fliegen mit ihren Privatjets herum und sanieren in Partnerschaft mit ihnen Fabriken unter der Voraussetzung, dass die Arbeiter darin ein Drittel vom Herzblut aus der Flasche schütteln.

Aber ein oberösterreichischer Hackler ist keine Ketchupflasche, da kann man schütteln und schütteln und es kommt nichts heraus, bis, ja, bis der Moment reif ist und der ungekrönte Metaphernkönig, Impfkaiser, EU-Bezwinger und Dosenherbeizauberer das Glasflascherl in die Hand nimmt. Dann löst sich alles, alles fließt, alles spritzt, alles patzt, dann ist der Ketchupmoment gekommen.

Man kann die Geschichte dieses Landes vielleicht als eine Aneinanderreihung von Ketchupmomenten schreiben. So ist ja auch unsere Nationalflagge entstanden, als der Babenbergerherzog Leopold im Heiligen Land sich so lange mit Ungläubigen ketchupschüttelnd gematcht hatte, bis sein weißes Gewand so sehr mit Ketchup bespritzt war, dass, als er den Gürtel ablegte, ein weißes Band dazwischen sichtbar wurde. Unsere Fahne war geboren. Ein ikonischer Ketchup-Moment!

Den Geist dieses Schüttlers und Patzers kriegen wir nie wieder hinein in die Flasche, der Sommer wird intensiv und cool und geil, und Herr, wir danken dir so sehr, dass wir sind wie Ketchupflasche leer.


Distance, hands, masks, be considerate!

Ihr Armin Thurnher

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