Der seichte Staat von Türkis. Über Recht, Moral, Sobotka, Kurz und die Folgen

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 390

Armin Thurnher
am 12.04.2021

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Wir leben wahrlich in verwirrten Zeiten, und die Verwirrung passt einigen Leuten so gut ins Konzept, dass sie fleißig daran mitarbeiten, sie zu stiften. Die Polemik gegen das Moralisieren übernimmt dabei eine zersetzende Aufgabe. Ursprünglich war sie gut skeptisch gemeint, nämlich als Kritik daran, dass die Moralisierenden der Politik vorwerfen, sich nicht entscheiden zu können. Oder, wie der Philosoph Hans Blumenberg seiner Kollegin Hannah Arendt vorwarf, die keine Philosophin, sondern eine Politologin genannt werden wollte, aber, wenn man mich fragt, eine großartige politische Schriftstellerin war: „Die Moralisierung des Politischen unterstellt, dass auch dieses nur vordergründig dilemmatisch sein kann, letztendlich der Einheitlichkeit des Willens fähig sein muss.“

Zu deutsch: wer moralisiert, will die Entscheidung zwischen Gut und Böse. Die Pointe dieses spannenden späten Blumenberg-Aufsatzes  ist eine andere; er meint, Arendt hätte ihr „Eichmann in Jerusalem“-Buch mit der berühmten These von der Banalität des Bösen zwar genau so schreiben müssen, aber sie hätte es nicht veröffentlichen dürfen, nicht zu diesem Zeitpunkt, denn damit habe sie Israel die Möglichkeit bestritten, den mythischen negativen Helden seiner Staatsgründung zu töten. Etwas, das die Deutschen mit Hitler hätten tun müssen, das ihnen aber verwehrt blieb. Und Arendt hätte das wissen müssen.

Verzeihen Sie, wenn ich Ihnen am Wochenbeginn mit etwas viel Moral komme, aber mir ist so oft – und manchmal zu Recht – vorgeworfen worden, ich würde moralisieren, dass ich bei dieser Frage immer hellhörig bin. Mittlerweile ist die Sache schon zu einem rhetorischen Kniff geworden, es reicht das Stichwort, „Hören Sie auf, zu moralisieren!“, und man ist stumm gemacht. Der Kniff sagt: wir können zur Sache übergehen – zur Politik als Verhandlung ohne Ende, zum demokratischen Palaver, ohne Öffentlichkeit, ohne Entscheidung und vor allem, sagen wir es montagsfroh heraus, ohne sittliche Grundlage. (Die Gier, alles in Gut und Böse einzuteilen, nennt man auch Manichäertum, was man Arendt gerade in Bezug auf Wahrheit gar nicht vorwerfen kann, aber dazu vielleicht ein andermal mehr).

Ich sehe ein, dass das ideologisch entspannte Dauerverhandeln unter normalen demokratischen Voraussetzungen durchaus entspannend sein kann. Es führt zur Verrechtlichung aller Dinge. Irgendwelche Regeln braucht das Spiel ja. Der moralischen Debatte kommen nur die grundsätzlichen Fragen zu, den Rest machen der Rechtsstaat und seine Regelspezialisten. Wenn sich die moralischen Empfindlichkeiten oder Zumutbarkeiten ändern, beim Recht auf Selbsttötung oder bei der Beihilfe zur Tötung, dann wird das Recht eben geändert. Insofern hat es bekanntlich der Politik zu folgen, aber in allen festgeschriebenen Verfahrensfragen hat sich die Politik dem Recht unterzuordnen, was Herbert Kickl legendärerweise eben nicht so meinte. Er vertrat die geradlinige Idee aller Diktatoren, wer regiert, schafft an. Gottseidank wurde noch nicht viel Diktator aus Kickl.

Verrechtlichung ist also eine prima Sache. Zwar sprießen die Rechtsanwaltsbüros aus dem Boden, ihre Konzentration zu größeren und kleineren Rechtsmultis produziert auch ein Rechtsanwaltsproletariat, das sich keine Kanzleikraft leisten kann, die Durchschnittsbürgerin kann sich ihr Recht sowieso nicht leisten, die Regelspezialisten werden gut dafür bezahlt, das Böse gelten und das Gute nicht zu üppig werden zu lassen. Aber der Rechtsstaat funktioniert, auch wenn einen gewisse Symptome beunruhigen könnten. Es ist ja Mode geworden, die Brodajustiz der Kreisky Jahre mit türkisen Zuständen gleichzusetzen. Der neue Stil erweist sich als der türkise Zeigefinger „ihr habt es ja genauso gemacht“. Ja, die Kreisky-Ära hatte ihre Sümpfe, die erst spät zutage traten, die Lucona-Affäre des Schiffversenkers, Mörders, Künstler- und Ministerfreunds Udo Proksch der größte. Etwas anderes waren das politischen Ziel der Ära, das die Sozialisten, unvorstellbarerweise hießen sie noch so, offen vertraten und durchsetzten: eine Modernisierung der Gesellschaft.

Was ist die türkise Agenda? Irgendetwas bekannt außer der stillen, straflosen Ausweitung des Multifunktionarismus, des „seichten Staats“ der Türkisen, einer Art österreichischen Variante des tiefen Staats? Wohin zeigt der Finger, als auf den Splitter im Auge des Feindes?

Bei Kreisky und Broda mag es politische Moral gewesen sein, die eine Humanisierung des Strafvollzugs, eine Entkriminalisierung von Homosexualität und Abtreibung, eine Befreiung der Frau aus ihrer patriarchalen Unterdrückung und noch mehr bezweckte. Aber ihre Moral wurde zur Politik.

Was hingegen geht jetzt vor? Die öffentliche Abschaffung moralischer Grundlagen. Mag sich der Kanzler darüber amüsieren, dass sein Lieblingsaufsichtsratspostensammler einen Kirchenfunktionär zum Schlottern bringt, weil andere Kirchenfunktionäre Kanzlers Inhumanität zu kritisieren wagten. Es zeigt nur, dass die Kirche als moralproduzierende Instanz für die Türkisen ausgefallen ist. Sebastian Kurz selbst natürlich sowieso.

Der Nationalratspräsident wiederum fühlt sich berechtigt, den Vorsitz des Ibiza-Ausschusses zur Untersuchung von Käuflichkeit zu führen, obwohl das von ihm geleitete Alois-Mock-Institut Zahlungen des Glücksspielkonzerns Novomatic erhielt. Die Salzburger Nachrichten haben den Vorhabensbericht der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft. Zu zwei Zahlungen von 30.000 und 20.000 Euro in den Jahren 2013 und 2014 von Novomatic an das von Wolfgang Sobotka geleitete Mock-Institut schreibt die WKStA, „dass den Zahlungen kein adäquater Gegenwert gegenüberstand und es sich tatsächlich überwiegend um ‚Spenden‘ handelte, die ‚Vorteile‘ im Sinne des Korruptionsstrafrechts darstellen können … Welchen konkreten Hintergrund die Zahlungen hatten, ist nicht bekannt“. Es habe sich aber eher um Parteispenden denn um das „Anfüttern“ eines konkreten Amtsträgers gehandelt, was nach fünf Jahren ohnehin verjährt wäre.

Fazit: der Nationalratspräsident kann einer Tat wegen nicht mehr verurteilt werden, die er offenbar begangen hat. Späteres sei „strafrechtlich nicht fassbar“.

Glück gehabt, Sobotka ist durchgekommen, er fühlt sich weiterhin berechtigt, sein hohes öffentliches Amt auszufüllen. Er ist es natürlich nicht, nach altmodischen moralischen Kriterien wäre er disqualifiziert. Aber die sind selber disqualifiziert, und so geht es in schwindliger Spirale hinab. Indem Sobotka ostentativ im Amt gehalten wird, schädigt er dieses, nicht nur für seine Person, sondern auch für die ihm Nachfolgenden.

Die Lehre: alles geht, wenn nur wir es machen. Die anderen dürfen nicht, die haben es ja genauso gemacht. Was richtig und was falsch, was gut und was böse ist, entscheiden wir, nicht mit Argumenten, sondern mit Macht. Die Wahrheit ist auch nur so nur eine Machtfrage, sie ist, wie ein alter Kämpe der einst schwarzen türkisen Vorläuferorganisation ÖVP zu sagen pflegte, eine Tochter der Zeit. Jetzt wird mit Macht gelogen. Die Zerstörung der Moral läuft unter dem Projekttitel „Verantwortungsethik“ unter missbräuchlicher Verwendung Max Webers.

Ich habe jetzt nur zwei der auffälligsten türkisen Moralbulldozer erwähnt. Aber sie schaffen ganz schön freie Fläche. Mit Ethikunterricht wird man diese Brache nicht mehr zum Grünen bringen. Es sind Vorbilder, die uns bilden und leiten. Deren Versagen ist mit ein Grund für die wachsende Irritation in unserer multiplen Krise. Mit Moralisieren (was die Politik allzuoft versucht) ist ihnen nicht beizukommen, mit begeistertem Mitmachen bei der Abschaffung jeder Moral (der Lieblingsausweg unserer Publizistik) noch weniger. Politische Begründungen sind wieder gefragt.


Distance, hands, masks, be considerate!

Ihr Armin Thurnher

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