Die Gefährlichkeit der „britischen“ B.1.1.7 Variante

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 380

Armin Thurnher
am 31.03.2021

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Der Wiener Bürgermeister als Epidemiologe, auch etwas Neues. Worin besteht im Ernst die Gefährlichkeit der „britischen Variante“? Ist sie an sich harmlos? Oder gefährlich? Was wird unter-, was überschätzt? Epidemiologe Robert Zangerle klärt auf und hat dazu noch wichtige Informationen über Intensivstationen. A.T.

»Die „britische“ Variante, zu oft auch „Briten-Virus“ genannt, erinnert an das „China Virus“ von Donald Trump, vielleicht lassen Sie mir diese Bezeichnung mit Anführungszeichen durchgehen. Wir sollten aber solche Bezeichnungen vermieden, sie führen nur zu Missverständnissen und letztlich zu kontraproduktiven Stigmatisierungen. Als ob es nicht schon genug Missverständnisse ob der vielen Verständnisprobleme gäbe, meinte zuletzt Bürgermeister Michael Ludwig , das „Beispiel Bures zeigt, wie aggressiv die Mutation ist“. Damit betritt Ludwig ein epidemiologisches Terrain, das solche Aussagen erst nach eingehenden Analysen erlaubt. Wenn sich ältere Personen oder Personen mit Erkrankungen und Merkmalen für einen schwereren Verlauf besser schützen als andere und ein Teil dieser „Vulnerablen“ auch schon geimpft ist, dann trifft es natürlich relativ mehr jüngere und solche, die man als weniger oder kaum für schwerere Verläufe prädestiniert sah. Aber nähern wir uns dieser Fragestellung Schritt für Schritt an

Von Anfang an war diese Diskussion um die neuen Varianten von Missverständnissen und Verzerrungen geprägt, vor allem war viel zu oft, auch von Experten, zu hören, dass die „britische“ Variante zwar ansteckender, aber nicht gefährlicher sei. Ein schwerer Fehler. Ende Dezember versuchte die Seuchenkolumne das aufzugreifen und darauf hinzuweisen, dass bei exponentieller Ausbreitung eine 50% Steigerung der Übertragbarkeit (also der berühmten „R“ Zahl) „tödlicher“ ist, als eine um 50% erhöhte Sterblichkeit. Der Reviewer dieser Kolumne Niki Romani, ein Naturwissenschaftler, fand dies „counterintuitive“ und rechnete ein Beispiel des Epidemiologen Adam Kucharski selber nach  – „dodelsicher“, wie er es nach eigenen Angaben gerne hat. Dieses Beispiel geht von 10 000 Personen aus; das zugrunde liegende Infektionsgeschehen wurde mit dem effektiven Reproduktionsfaktor R = 1,1 angenommen (also sehr realistisch für die derzeitige österreichische Lage) und für die Berechnung von Todesfällen innerhalb von 30 Tagen wurde eine Sterblichkeit von 0,8% angenommen. Die Generationszeit ist die Zeit, in der eine erste Person („The primary case“) ansteckend ist bis zum Beginn der ansteckenden Zeit einer zweiten Person („The secondary“), die von dieser ersten Person angesteckt wurde. Das serielle Intervall hingegen ist die Zeit vom Auftreten der Symptome der ersten Person bis zum Auftreten von Symptomen der zweiten Person. Nachdem man bekanntermaßen bereits vor Auftreten der Symptome ansteckend ist, sind diese beiden Perioden zeitlich um etwa 2 Tage versetzt.

Szenario 1 – “Alte” Varianten des Virus:

10000 x 1,1 = 11000 Infizierte nach den ersten 6 Tagen „Generationszeit“

11000 x 1,1 = 12100 Infizierte nach den zweiten 6 Tagen „Generationszeit“

12100 x 1,1 = 13310 Infizierte nach den dritten 6 Tagen „Generationszeit“

13310 x 1,1 = 14641 Infizierte nach den vierten 6 Tagen „Generationszeit“

14641 x 1,1 = 16105 Infizierte nach den fünften 6 Tagen „Generationszeit“, d.h. nach einem Monat Verbreitung)

0,8% der Infizierten werden sterben = 129 Todesfälle.

Szenario 2 – Sterblichkeit (Infection Fatality Risk) steigt um 50% (0,8% x 1,5 = 1,2%):

10000 x 1,1 = 11000 Infizierte nach den ersten 6 Tagen „Generationszeit“

11000 x 1,1 = 12100 Infizierte nach den zweiten 6 Tagen „Generationszeit“

12100 x 1,1 = 13310 Infizierte nach den dritten 6 Tagen „Generationszeit“

13310 x 1,1 = 14641 Infizierte nach den vierten 6 Tagen „Generationszeit“

14641 x 1,1 = 16105 Infizierte nach den fünften 6 Tagen „Generationszeit“, d.h. nach einem Monat Verbreitung)

1,2% der Infizierten werden sterben = 193 Todesfälle.

Szenario 3 – Übertragbarkeit = “R” (transmissibility) steigt um 50% (1,1 x 1,5 = 1,65):

10000 x 1,65 =   16500 Infizierte nach den ersten 6 Tagen „Generationszeit“

11000 x 1,65 =   27225 Infizierte nach den zweiten 6 Tagen „Generationszeit“

12100 x 1,65 =   44921 Infizierte nach den dritten 6 Tagen „Generationszeit“

13310 x 1,65 =   74120 Infizierte nach den vierten 6 Tagen „Generationszeit“

14641 x 1,65 = 122298 Infizierte nach den fünften 6 Tagen „Generationszeit“, d.h. nach einem Monat Verbreitung)

0,8% der Infizierten werden sterben = 978 Todesfälle.

Wenn da noch – wovor fallweise der liebe Gott abhüten möge – zur erhöhten Übertragbarkeit eine erhöhte Sterblichkeit käme….

Szenario 4- Übertragbarkeit = “R” (transmissibility) steigt um 50% (1,1 x 1,5 = 1,65) und Sterblichkeit (infection fatality risk) steigt auch um 50% (0,8% x 1,5 = 1,2%):

10000 x 1,65 =   16500 Infizierte nach den ersten 6 Tagen „Generationszeit“

11000 x 1,65 =   27225 Infizierte nach den zweiten 6 Tagen „Generationszeit“

12100 x 1,65 =   44921 Infizierte nach den dritten 6 Tagen „Generationszeit“

13310 x 1,65 =   74120 Infizierte nach den vierten 6 Tagen „Generationszeit“

14641 x 1,65 = 122298 Infizierte nach den fünften 6 Tagen „Generationszeit“, d.h. nach einem Monat Verbreitung

1,2% der Infizierten werden sterben = 1468 Todesfälle.

Die ersten 3 Szenarien sind dieser Grafik dargestellt 

Dieser Illusion einer verminderten Sterblichkeit im Herbst (die eh überhaupt nicht stimmte) sind in Österreich vermutlich viele erlegen. Darob wurde das hohe Infektionsgeschehen mit exponentieller Verbreitung außer Acht gelassen. Jetzt wird die Gefährlichkeit („Sterblichkeit“ im obigen Beispiel) der „britischen“ Variante überbetont und die Gefährlichkeit einer exponentiellen Ausbreitung dieser Variante unterschätzt, hier und hier. Vor allem für die jüngeren Bevölkerungsgruppen. Die erhöhte Ansteckbarkeit gilt für alle Altersgruppen, einschließlich Kinder. Es ist aber nicht so, dass Kinder mit diesen Varianten besonders leicht angesteckt würden oder in dieser Gruppe besonders krankmachend wären. B 1.1.7 ist per sekrankmachender und führt zu mehr Krankenhausaufenthalten. Alles klar? Hauptbotschaft: etwas, das exponentiell wächst (Übertragbarkeit) kann verheerenderes Ausmaß annehmen, als etwas, das proportional wächst (Sterblichkeit). Wenn beides zusammenfällt, eine wirklich furchterregende Situation.

Situation auf den Intensivstationen: Ein neuerlicher Versuch, Ihnen das „Funktionieren“ von Intensivstationen ein wenig näher zu bringen. Beginnen wir mit Grafiken, die am 24. März in der ZIB 1 gezeigt wurden, wo anhand von Prognosen des Prognosekonsortiums vom 23. März die Überschreitung der „kritischen Grenze von 33%“ illustriert wurde.

Was hat es mit der kritischen Grenze von 33% auf sich? Am 14. September stand folgendes in der Seuchenkolumne: „Schockiert war ich von den Signalwerten zum Systemrisiko (Auslastung Intensivstationen). Die Auslastung beträgt im Regelbetrieb unter 90% , der höchste jemals gemessene Wert im Epidemie Verlauf in der österreichischen Bevölkerung wurde in Tirol mit einer Auslastung von 35% gemessen (so wortwörtlich im alten Manual der Corona Kommission).“ Wieso ist dann erst bei >33% Auslastung rot? Will man wieder die Situation vom April 2020 in Tirol? Damals wurden die chirurgischen Eingriffe zurückgefahren, das gesamte Bundesland war in Quarantäne, es gab also kaum Auto-, Sport oder Bergunfälle. Ist man also wieder bereit, die medizinische Versorgung massiv zu kürzen, damit etwas funktioniert?“

Diese 33% sind also ein willkürlicher Wert, der von nicht sozialmedizinisch-epidemiologisch orientierten Krisenmanagern definiert und von Politikern abgesegnet wurde. Diese „brutale“ Einschätzung des von der Corona Kommission so genannten Systemrisikos zieht auch unbeabsichtigten Schaden nach sich. Das Prognosekonsortium orientiert sich an dieser Grenze, es bringt sich damit ungewollt in Bedrängnis, weil so ihre Warnungen immer zu spät zu kommen scheinen und damit indirekt und unberechtigt auch an deren Glaubwürdigkeit kratzten. So sind halt die Vorgaben.

In meiner Tätigkeit als AIDS-Arzt habe ich oft ein Bett auf einer Intensivstation gesucht. Es war oft ein sehr schwieriges Unterfangen. Die große Mehrheit der von unserer Abteilung einer Intensivstation zugewiesenen Patienten hat diesen Aufenthalt überlebt. Gut erinnern kann ich mich noch an einen Patienten, der 1993 wegen einer für AIDS typischen Lungenentzündung, der Pneumocystis-jiroveci-Pneumonie fast drei Wochen auf der Intensivstation maschinell beatmet wurde. Das war die typische Situation: die HIV Diagnose im Rahmen einer akuten Erkrankung erstmalig gestellt, und eine dramatische Entwicklung in kurzer Zeit. Im August 2008 ein ähnlicher Fall. Ein peripheres Bezirkskrankenhaus ruft uns an, sie hätten einen damals 66-jährigen Patienten, bei dem im Rahmen einer schweren Lungenentzündung gerade HIV diagnostiziert worden sei. Sie würden den Patienten gerne transferieren, weil er aufgrund der extrem mangelnden Sauerstoffsättigung einer Intensivstation bedürfte, sie aber kein Bett auf der Intensivstation mehr frei hätten. Eine Suche in Innsbruck verlief ebenfalls ergebnislos. Da wir einige Erfahrung mit spontaner CPAP Beatmung hatten, sagten wir eine Transferierung auf unsere „Normalstation“ zu. Wir waren schon in Sorge, ob der Patient das wohl das über eine längere Zeit tolerieren würde. Der Patient wurde dann mehr oder weniger 24/7 über drei Wochen mit CPAP Beatmung versorgt. Er überlebte. Der Aufenthalt zog sich allerdings über fast 4 Monate hin. Beiden geht es heute sehr gut, beide sind gegen Covid geimpft (mRNA Impfstoffe). Ebenfalls erinnern kann ich mich an ein vor ein paar Jahren gehäuftes Unterbringungsproblem an der Innsbrucker Intensivstation für Neugeborene und Säuglinge, die Patienten dann immer wieder nach Rosenheim transferierten, also vom Universitätsklinikum ins bayrische Bezirkskrankenhaus (meine Verschwörungstheorie dazu: Ministerpräsident Edmund Stoiber hat seinen eigenen Landkreis großzügig ausgestattet).

Die obigen Beispiele sollen illustrieren, dass eine Intensivstation ihren Funktionen im normalen Alltag, also lange vor einer außertourlichen Auslastung von 33% nicht mehr so nachkommen kann, wie das erwartet wird. Walter Hasibeder, Präsident der österreichischen Gesellschaft für Anästhesiologie, Reanimation und Intensivmedizin (ÖGARI) versuchte, dass in einem Interview mit Die Presse am 25. März auch zu verdeutlichen: „Intensivstationen sind auch ohne Pandemie zu 80 bis 90 Prozent belegt, in ganz guten Zeiten zu 70 Prozent, andernfalls würde es nicht so viele geben. Sie gehören zu den teuersten Ressourcen im Gesundheitssystem.“ Deshalb kann und muss eine Auslastung von 10% aller Intensivbetten mit Covid Patienten bereits als ernste Warnung und die Überschreitung von 20% kritisch gesehen werden. Das ist auf der folgenden Grafik eingezeichnet, die die offizielle Belegung durch die Corona Kommission zeigt (jetzige Woche wurde selber berechnet).

Gesichert unter 10% ist lediglich Vorarlberg. Kärnten, das an dieser Grenze schrammt, zählt anders; dort verliert man den Status „Covidpatient“ früher als anderswo, deshalb wäre ich vorsichtig Kärnten auch in der „sicheren Zone“ zu wähnen. Das Problem von Wien und auch Niederösterreich war der „Wasserstand“ vor dem Ausbruch der dritten Welle. Wie absurd die Rückstufung Wiens von Rot auf Orange am 5. Februar doch war, bei einer Auslastung der Intensivbetten von 20% ! Apropos überraschende Entwicklung, in der Sitzung der Corona Kommission vom 25. Februar wurde der Repräsentant der Stadt Wien in der Corona Kommission nicht nur gewahr, dass Ende März die „Schallmauer“ von 33% deutlich überschritten sein würde, er wurde auch darauf hingewiesen, „dass demzufolge eine Einleitung dämpfender Maßnahmen Ende März zu spät wäre, um eine Überlastung der Intensivstationen zu verhindern“. So viel zum seit Februar geltenden Motto „Wir nehmen Risiko“. Solchen frivolen Sprüchen wurden durch konkrete Patientenbeispiele, die der Intensivmediziner Wolfgang Hagen öffentlich machte, Grenzen aufgezeigt. Er hat einen wichtigen Beitrag zum Einlenken der Wiener Politik geleistet. Chapeau!

 

Die Erfahrungen der zweiten Welle und jetzt der dritten zeigen, dass jeder Anstieg der Fallzahlen auch einen Anstieg der Hospitalisierungen und Todesfälle zur Folge hat. Wie aus den einleitenden Bemerkungen zu entnehmen ist, werden die Folgen aus den Fallzahlen nicht 1:1 jenen der zweiten Welle entsprechen. Die Todesfälle werden trotz der bisher erst spärlich verabreichten Impfungen relativ weniger die Ältesten und Bewohner der Pflegeheime treffen. Dieser Einfluss könnte auch dafür verantwortlich sein, dass die Zahl der Normalpflegebetten im Vergleich zu den Intensivbetten tiefere Werte als im November zeigt und langsamer ansteigt, siehe obige Grafik.

Ständig ins Gedächtnis gerufen werden muss auch die Tatsache, dass die relativ hohe Zahl von schweren Verläufen (typischerweise auf Intensivstationen), über die immer und jetzt fast ausschließlich gesprochen wird, von einer enorm hohen, häufig vergessenen Zahl an milden und mäßig-schweren Erkrankungen begleitet wird. Auch diese Menschen sind krank! Und wichtig, auch diese Verläufe können in ein belastendes Long-Covid münden. Während COVID-19 im Durchschnitt etwa 2 Wochen andauert, leidet schätzungsweise eine von zehn Personen länger als 12 Wochen an den Symptomen, was oft als „Long-Covid“ bezeichnet wird. Derzeit bleiben Long-Covid und Behinderungen, die mit schweren Fällen einhergehen, in Berechnungen und Modellen oft unberücksichtigt. Ihre zukünftigen Auswirkungen könnten jedoch erheblich sein, da die Symptome, einschließlich Müdigkeit, Angstzustände, Gelenk- oder Muskelschmerzen und mehr, einen deutlichen Einfluss auf die körperliche und geistige Gesundheit der betroffenen Person sowie auf ihre Fähigkeit zur Teilnahme am alltäglichen Leben, einschließlich dem Arbeitsleben, haben könnten.

Können wir dem „konzeptlosen Köchelkonzept“ nur das Konzept des Stoizismus entgegen stellen? Gewiss. Ein Niedrig-Inzidenz Konzept würde viel von den Menschen verlangen, aber noch viel mehr von der Politik.« R. Z.


Distance, hands, masks, be considerate!

Ihr Armin Thurnher

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