»Die westliche Welt hat 2020 in der Pandemiepolitik und im Seuchenmanagement großteils versagt.« (Bernd Marin)

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 374

Armin Thurnher
am 25.03.2021

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Heute gibt die Seuchenkolumne eine Buchempfehlung ab. Dies ist der erste ihrer Art, und sie bedarf gleich einer Klarstellung: das empfohlene Buch ist im Falter Verlag erschienen. Der Soziologe Bernd Marin legt unter dem Titel „Die Welt danach. Leben, Arbeit und Wohlfahrt nach dem Corona-Camp“ vor allem eine Bilanz der Pandemie vor, eine differenzierte und materialreiche Zusammenschau, wie man sie knapper, und, bei aller Tragik der Ereignisse, auch lockerer kaum findet.

Marins Motiv war, so schreibt er, gewissermaßen magisch, nämlich den Versuch einer „ein bisschen leichtsinnigen Selbstvergewisserung (zu wagen), sich in einer vervirten Welt als überlebensfähig zu erweisen.“

Darin fühlt sich der Autor der Seuchenkolumne dem Autor des Buches verwandt. Der Moment des ersten Lockdowns, die Erkenntnis, dass es sich um eine globale Pandemie handelt, stellte einen neuen Bewusstseinszustand her. Marin verspricht im Vorwort: „Das Buch bemüht sich um eine leicht fassliche ,Pop-Science‘ zu einer Jahrhundert-Pandemie-Krise – in der Quarantäne und danach. Hier ist zu finden, was anderswo fehlt ‒ nämlich eine empirisch vergleichende Analyse zum Seuchenmanagement in einem globalen Europa. Wie können Leben, Arbeit und Wohlfahrt nach der akuten Gesundheits- und Wirtschaftskrise nachhaltig erneuert werden?“ Der Autor löst sein Versprechen ein. In leicht lesbaren, kurzen und knackigen Kapiteln durchmisst er breites Spektrum interessanter Fragen.

Nehmen wir Marin in Bezug auf die der vergleichenden Analyse des Seuchenmanagements beim Wort. Es gibt ja kaum etwas Nervigeres als den Versuch, mittels Position in irgendeinem Ranking das eigene politische Handeln als einzigartig darzustellen. Vom „Impfweltmeister“ zu „Europas Corona-Klartext-Kanzler“ weiß man, wie schnell solche (Selbst)zuschreibungen an der Sonne der Zeitgeschichte welken. Aber wie steht es um die Einschätzung der gesamten Seuchenpolitik Österreichs?

Bei Marin lesen wir dazu zum Beispiel (und es ist wirklich nur ein Beispiel von vielen zum Thema): „Das ,Bloomberg-COVID-Resilienz-Ranking‘ (vom 21.12.2020, Anm.) basiert auf Daten über Infektionen, Todesfälle, den Anteil positiver Testergebnisse, den Zugang zu Impfung, Lockdowns und andere Beschränkungen sowie die wirtschaftliche Entwicklung. Hier ist Österreich nicht mehr unter den Allerletzten weltweit, aber an 41. Stelle unter 53 untersuchten Ländern. Spitzenreiter ist wiederum Neuseeland vor Taiwan, Australien, Norwegen, Singapur, Finnland, Japan, Südkorea, China und Dänemark als Top Ten. Es folgen Kanada, Vietnam, Thailand, Hongkong und Irland, die Emirate vor Israel (17.), Russland 18., den Niederlanden 19. und Deutschland 20. Die Schweiz findet sich auf Platz 23, Schweden 27, Vereinigtes Königreich 30, Spanien 33, Frankreich 34, USA 36. Hinter Österreich kommen in Europa nur noch Tschechien auf Rang 42, Belgien 44, Türkei 45, Polen 46, Rumänien 48, Italien 49 und Griechenland 50 sowie Peru, Argentinien und Mexiko als globale Schlusslichter. Hingegen wurden Länder wie Bangladesch, Ägypten, Irak, Pakistan, Nigeria, Brasilien, die Philippinen, Südafrika und Indien noch vor Österreich gereiht, was man mitunter aber wohl nicht durchwegs auf die Datenqualität des erfassten Infektionsgeschehens zurückführen kann.“

Bernd Marin

Marin stellt das Versagen der Regierung, vor allem des Kanzlers gnadenlos bloß, schätzt aber auch deren richtiges Reagieren am Anfang korrekt ein. Eine nüchterne Betrachtung kleinerer asiatischer Staaten, die aus verschiedenen Gründen auf eine Pandemie eingestellt waren und weit besser als Österreich durch die Krise kamen, schärft das Gesamtbild.

Mehrere Studien aus verschiedenen Zeitphasen widerlegen diverse, in porpagandistischer Absicht vor allem von der türkisen Regierungspartei vorgebrachte österreichischen Mythen. Die Rolle der EU wird differenziert nachgezeichnet. Man hat damit neben allem anderen auch ein gutes Argumentarium für politische Debatten mit Leuten in der Hand, die noch immer behaupten, in Österreich sei eh immer alles richtig gemacht worden. Aber das ist nur einer der vielen Aspekte des Buchs.

Es behandelt Themen wie die ökonomische Hilfe in der Seuche, wie auch sie von Experten falsch eingeschätzt und an den Forderungen der üblichen Klientel (Tiroler Seilbahnbetreiber) orientiert wurde. Bei einem Soziologen versteht es sich, dass gesellschaftliche Aspekte nicht ausgeblendet werden. Etwa die Frage, ob das staatliche Gewaltmonopol in Zeiten der Pandemie in Gefahr gerät, wie es der Sturm aufs Kapitol in den USA andeutete; eine Frage, die und auch da und dort bei Corona-Demonstrationen in Europa aufblitzt. Umgekehrt wird autoritäres Potential dort mobilisiert, wo es gerade nichts zu suchen hat: „Was bedeuten Lehnwörter aus Seuchenbekämpfung und Kriminalistik, wie das oft in aller Unschuld, inzwischen aber fast bedenkenlose Gerede von ,Verdachtsfällen‘, ,Gemein- und Lebensgefährdern‘, von ,Absonderung‘, ,Pfleglingen‘, ,Vergreisung‘, ,abgeernteten Toten‘ und anderen makaber verstörenden Slangwörtern und zynischem Jargon? Können wir nicht einfach sachlich und präzise von ,Hochbetagten‘, ,Klärungsfällen‘ oder ,Quarantäne‘ sprechen und nicht so, als würde es beim Infektionsgeschehen um kriminelles, verantwortungsloses, schuldhaftes oder bestenfalls unzurechnungsfähiges Verhalten gehen?“

Manches Detail kann man kritisieren. Der von mir befragte – und im Buch mehrfach zustimmend zitierte, bekanntlich in der Seuchenkolumne publizierende Epidemiologe Robert Zangerle etwa fand die Darstellung Italiens als Gesamtbild nicht befriedigend. Weil Italien die Flüge aus China im Alleingang strich, „könnte dies paradoxerweise die italienische Bevölkerung nicht nur nicht geschützt, sondern ihre Gesundheit sogar zusätzlich gefährdet haben“, schreibt Marin. Denn die Geschäftsleute wählten Umwege über andere europäische Destinationen. Also hätte wohl weniger der italienische Fehler, sondern das Versagen der EU hervorgehoben gehört. Und im Fall Bergamo wäre zu bedenken, dass dort, wo es die meisten Toten gab, ein hypermodernes Spital steht. Aber es wurde, wie andere Spitäler in der Lombardei, nach fragwürdigen Prinzipien modernisiert : herkömmliche Abteilungen wurden ihrer Funktionen beraubt, die Infektiologie ganz an den Rand gedrängt und oft aufgelöst. So wurden die Covid-Patienten über „klasische Abteilungen“ hinweg innerhalb des Krankenhauses verteilt. Dieses moderne, neoliberale Krankenhausmanagement wurde in den 1990er Jahren von der Lega getragen. Das große Sterben in Bergamo ist damit noch immer nicht ganz erklärt, aber einen Hinweis auf diese Problemlage hätte Marin geben sollen.

Einzelheiten trüben das ganze Bild aber keineswegs. Allein über Italien erfahren wir hier jede Menge Dinge, die wir nicht wussten, vom Patienten Null, von Superspreadern, von den schrecklichen Bildern. Der analytische Teil des Buchs ist weit größer als der prophetische. Gut so, Marin macht nicht den Zukunftsforscher. Seine Voraussage, es gebe keine Zeit nach Corona, nur eine mit Corona (wie mit Grippe und anderen Seuchen), scheint risikolos. „Die westliche Welt hat 2020 in der Pandemiepolitik und im Seuchenmanagement großteils versagt, sowohl im globalen Vergleich mit asiatischen Ländern wie auch in der EU, bemessen an eigenen stolzen Maßstäben des Europäischen Sozialmodells. So bleibt als künftiger Vorteil nur die Chance auf rasches und nachhaltiges Lernen aus der Analyse gescheiterter Bemühungen und vergangener Misserfolge. Langfristige Frühwarnsysteme und rechtzeitige Präventionspläne, korrekte Risikobewertung und verständliche Krisenkommunikation sowie ein ‚vereinteres Europa‘ sind Voraussetzungen erfolgreicher Seuchenbekämpfung und einer Minimierung unvermeidlicher, aber eben nicht wie bisher ganz unverhältnismäßiger Kollateralschäden.“

Denkt man an den Zustand der EU, scheint Optimismus unangebracht. Aber, das lehrt uns dieses Buch, man muss nicht alles nur aus österreichischer Perspektive sehen. Ebenso wenig ist dann am Platz, was Marin „Pessimismus aus Prinzip“ nennt. Nein, wir werden diese Seuche irgendwann bewältigen. Die Frage ist nur, wieviel Schaden wir dabei genommen haben. Das Buch ist zweifellos ein hevorragender Versuch, solchen Schaden abzuwenden. Und vor allem – es ist gut zu lesen. Tun Sie’s!

Bernd Marin: Die Welt danach. Leben, Arbeit und Wohlfahrt nach dem Corona-Camp. Falter Verlag 140 Seiten, € 12,00


Distance, hands, masks, be considerate!

Ihr Armin Thurnher

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