Zur Poetik der Kanzlerschelte oder: Wie ich einmal mit Jacques Derrida zu Abend aß

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 344

Armin Thurnher
am 24.02.2021

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Heute zur abwechselnden Entspannung wieder ein Dialog mit dem klugen Kater. Fortsetzung der Poesiedebatte fast ohne Tante Elfi und eine Erinnerung an ein missglücktes Treffen mit Jacques Derrida in Wien. 

Kater: Du schaust leicht geschmerzt, mein Freund und Meister, wenn ich das sagen darf.

Ich: Es gehört zu meinen bittersüßen Erfahrungen, dass Kanzlerschelte mehr gefragt ist als Poesie. Süß, weil ich ihn selbst gerne schelte und meine einschlägigen Kolumnen unfehlbar einschlagen. Bitter, weil die Poesie keinen Hund interessiert, obwohl sie das schönste Ei ist, das der Koch in Händen hält, wenn auch nicht immer rund und glänzend, so gewiss immer magisch, und doch kommt kein Hund je in die Küche, es dem Koch zu stehlen. Wenn aber vom Kanzler die Rede ist, dann kommen viele Hunde…

Kater: Ich kann zwar nicht verstehen, warum man sich freuen sollte, wenn viele Hunde kommen, aber ich kenne das Lied, auf das du anspielst. Ein Hund kam in die Küche. Hast du das nicht einmal in eine deiner zweifelhaften Parodien verwandelt?

Ich: Mein lieber Freud und Mottenpelz…

Kater: Entschuldige, wenn ich unterbreche. Diesen Ausdruck darf nicht einmal deine Frau für mich verwenden!

Ich: Sie hat ihn erfunden, und wenn du mich ärgerst, schlage ich zurück.

Kater: Doch nicht so! Wie ich dein grobes Gerede verabscheue! Aber mein ist die Rache. Ein Katzenleben mag kurz sein, und ob meiner 16 Jährchen siehst du mich als halbwüchsig an, wiewohl dir die Tierärztin sagte, ich sei in meinen 80ern, menschenlebenvergleichsweise, also bei weitem dein Senior; obwohl es also kurz sein mag, mein siebenfaches Leben, merke ich mir doch alles, was für mich von Bedeutung ist, siebenfach genau, und auch Unbedeutendes, zum Beispiel dieses:

 Ein Kinderlied

Ein Koch kam in Ho’s Küche

und schlug den Koks ins Ei.

Da nahm Herr Ho den Löffel

und schlug den Koch entzwei

Da kamen viele Köche

und hielten Ho auf Trab

und sagten es der Zeitung

worauf geschrieben stand:

Ein Koch kam in Ho’s Küche…

Wer hat’s gedichtet? War das Tante Elfi?

Ich: Ich gebe alles zu!

Kater: Alles?

Ich: Nein, natürlich nicht. Die ÖVP-Frauen müssen erst Prinz Groom abschwören. Aber ich finde es ein traurig, wie in der Frage Lyrik versus Kanzlerschelte dieser sogenannte Diskurs versagt.

Kater: Was für ein Diskurs?

Ich: Man hat mir weisgemacht, Twitter sei ein Diskursmedium. Nicht, dass ich es geglaubt hätte, aber die Frage ist deiner würdig. Sie erinnert mich an das eine Mal, als ich mit Jacques Derrida beisammensaß …

Jacques Derrida Zeichnung: Wikimedia Commons © Arturo Espinosa Seguir

Kater: Du und Derrida? Das sagst du nur, um vor deinem Publikum anzugeben.

Ich: Ich schwöre es. Ich habe sowohl mit Jürgen Habermas als auch mit Jacques Derrida schon zu Abend gegessen.

Kater: Darf ich raten? Mit Habermas im Demel, mit Derrida im Sacher?

Ich: Falsch, ganz falsch. Mit Derrida saßen wir in einem Beisel, das mehr war als ein Beisel. Es war das berühmte Gasthaus Koranda, von eingeweihten Stammgästen nach dem Vorbesitzer andächtig „Sommer“ genannt, einer meiner sentimentalen Wiener Erinnerungsorte. Ein großer, hallenartiger Raum, der L-artig ums Eck ging und am einen Ende, nach der Schank, eine Künstler-Enklave beherbergte, die vom verstorbenen Maler Walter Pichler präsidiert wurde. Heute befindet sich an dieser Stelle in der Wollzeile 38 im Ersten Bezirk das Lokal Plachutta.

Kater: Was hat dich dort hingebracht?

Ich: Christian Reder hat mich mitgenommen, und schon war ich dabei, in diesen kunstvoll wechselnden Runden, deren Dramaturgie des Sich-an-den-richtigen-Tisch-Setzens er auch einmal kunstvoll beschrieben hat. Dort saßen wir also, nachdem wir Derridas Vortrag in einem überfüllten Raum der Angewandten im Heiligenkreuzerhof angehört hatten.

Kater: Wie kamst du neben dem großen Mann zu sitzen?

Ich: Es war eine Buchpräsentation des Passagenverlags, der Verleger Peter Engelmann hatte eingeladen und dem Falter angeboten, die Sache mitzuveranstalten. Ich glaube, es war 1986. Da saß ich also neben Derrida. Auf der anderen Seite des berühmten Philosophen ließ sich ein bekannter Maler nieder, wie ich des Französischen unkundig, aber umso enthusiastischer in seinem Interesse. Er eröffnete das Gespräch überfallsartig mit der kantig vorgebrachten Frage: „Songs amol, Herr Derrida, was heißt eigentlich Diskurs? Ich habe das noch nie verstanden.“

Kater: Der Abend war gelaufen.

Ich: Genau! Es war, als hätte Adorno gerade seinen Vortrag „Parataxis“ gehalten, ein Fan träte auf ihn zu und fragte in reinstem Steirisch: „Songs amoi, Herr Adorno, wer is eigentlich dieser Hölderlin?“ Die Erde tat sich auf, ich versank darin, und der Philosoph wandte sich mit diskretem Grausen. Deswegen kann ich auch nicht mitteilen, was Derrida mir zu den Möglichkeiten einer mutwillig unperfekten, sozusagen schmutzenden, halbabsichtlich dilettantischen politischen Spontanlyrik auf Twitter vielleicht an die Hand gegeben hätte, weil er mir nämlich gar nichts an die Hand gab.

Kater: Dieser Kurznachrichtendienst existierte damals ja noch nicht, wie auch ich nicht existierte.

Ich: Eben. Es war eine leere Zeit, und es ist wirklich lange her. So wird uns nichts übrig bleiben, als über die Sache selbst weiterhin nachzudenken. Für heute, ich sehe es an deiner unruhigen Haltung, ist die Zeit unserer Konversation schon wieder abgelaufen. Sonst hätte ich vielleicht noch von Habermas erzählt.

Kater: Nein, danke. Wenigstens für Zeitverläufe hast du ein gewisses Empfinden. Habermas heben wir uns für ein andermal auf. Jetzt etwas Pute Senior, bitte!

Ich: Die gelbe Packung? Kommt schon.

 

P. S. Alle Beiträge von Epidemiologen Robert Zangerle finden Sie ab sofort unten extra ausgewiesen; Sie können sie auch separat durchsuchen!


Distance, hands, masks, be considerate!

Ihr Armin Thurnher

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