Rousseaus Idee, Misiks Verdacht, mein Vater und die Türkisen. Notizen zum Bürgerlichen.

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 339

Armin Thurnher
am 18.02.2021

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Ich schrieb im Falter einen Kommentar über das Bürgertum. Die Idee: Das Bürgertum wird durch die Türkisen erledigt. Robert Misik wandte (nicht wörtlich) auf Twitter ein, das Bürgertum bestehe eh nur mehr aus Halunken. Früher, als ich noch nicht auf Twitter war, dachte ich, man debattiere dort solche Sachen. Das geht aber gar nicht, weil da gleich lustige Bildchen eingeworfen werden und Kurztrolle ums Blocken betteln.

Also sage ich hier noch ein paar Dinge dazu. Es gibt Bürgertum in vielen historischen Erscheinungsformen. Ohne Bürgertum hätten wir keine bürgerliche Freiheit. Ich verstehe es als jene Idee, die sich gegen die irrational begründete Herrschaft der wenigen, des Adels und des Klerus richtete und die rational begründete Herrschaft der vielen forderte.

Vorgetragen wurde die Idee von Jean-Jacques Rousseau und anderen. Es war eine der wenigen Ideen, die zur Tat wurden. Gleich rollten Köpfe, das heißt, die Freiheitsidee zeigte ihre eigene Dialektik, als sie in den Terror mündete. Was die Feinde der Freiheit den Freuden der Freiheit stets gerne vorhalten.

Die Ideen, die das Bürgertum als Forderungen vortrug, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, wurden naturgemäß sofort zu Phrasen. Die Menschenrechte, die das Bürgertum in der französischen Revolution gleich einmal deklarierte (und nach dem Sieg über Nationalsozialismus und Faschismus noch einmal) wurden wie alles Recht Papier, unter Umständen einklagbar.

Postbürgertum. Türkishemden adorieren ihren Clanführer in der Stadthalle Foto © Christian Fischer

Jeder weiß das, und jeder weiß auch, dass solche Ideen sich nie leben lassen, sondern immer an der Realität des Menschen scheitern. Die vom Soziologen Max Weber formulierte Idee der protestantischen Ethik als bürgerliche Lebensform wurde schon in seinem eigenen Leben und an seiner eigenen Erfahrung zuschanden.

Immer war alles zwiespältig. Die Großbourgeoisie bildete ihre unheilvollen Monopole aus, befeuerte überall Kriege, um ihren Profit zu maximieren, unterstützte Hitler, weil sie dachte, ihn im Griff zu haben. Zugleich waren Angehörige des Bürgertums, des kleineren wie des größeren für die höchsten Kulturleistungen verantwortlich. Nicht nur, indem sie sie finanzierten, wie einst der Adel. Sie leisteten selbst. Vom genannten Weber bis zu Sigmund Freud, von Thomas Mann bis zu Karl Kraus, von Marie Curie bis Virgina Woolf, um nur wenige zu nennen.

Es ist richtig, die bürgerliche Klasse bestand aus Kriegsgewinnlern, Halunken, miesen Spekulanten, Ausbeutern; der heute hochgerühmte und als Verfasser von Sinnsprüchen und Namensgeber renommierter publizistischer Auszeichnungen in Journalistenkreisen angesehene Joseph Pulitzer war ein mieser Boulevardverleger und Kriegstreiber; die zweite Eigenschaft teilte er mit dem legendären Neue-Freie-Presse-Chef Moriz Benedikt.

Aber ebenso bestand das Bürgertum, wie gesagt, aus Philanthropen, Dichtern, Widerständlern, moralischen Vorbildern. Und nicht einmal die größten moralischen Vorbilder sind so rein, wie wir es gerne hätten. Vielleicht ist das Reine, wie es heute identitätspolitisch schrill gefordert wird, selbst die größte Dystopie.

Ich behaupte, dass es ein gewisses Bild ziviler bürgerlicher Redlichkeit gibt, dem viele Menschen auch in unserer Lebenszeit zu entsprechen trachteten und trachten. Man mag es Anstand nennen, Haltung, Aufrichtigkeit. Vielleicht, um etwas Persönliches zu sagen, bin ich diesbezüglich durch meinen Vater geprägt. Dessen von mir im jugendlichen Alter heftig als bürgerlich-reaktionär angegriffenes Vorbild wurde zwar in der Familie durch gewiss ehrenwerte Verwandte konterkariert, die sich augenzwinkernd die eine oder andere Unkorrektheit genehmigten. Das ärgerte ihn, aber es irritierte ihn nicht.

Mein Vater, ein Aufsteiger aus kleinsten Verhältnissen, war mittelbürgerlich korrekt und wählte lebenslänglich ÖVP, bis zu Schüssel-Haider. Er trieb seine Auffassung österreichischer Staatsbürgerpflicht so weit, dass er in den 1950er und 60er Jahren Einkäufe in der Schweiz als unmoralisch empfand, vom Kaffeeschmuggel nicht zu reden (getrunken hat er ihn dann doch, aber missbilligend). Er meinte, Steuergeld in die Schweiz zu tragen liefe der Pflicht zuwider, den österreichischen Staat aufzubauen. Als ehemaliger Finanzbeamter war ihm Steuervermeidung nur im Rahmen des Gesetzes möglich, alles andere verachtete er. Im Großen und Ganzen war das vielleicht außergewöhnlich, aber als Rollenauffassung nicht einzigartig. Man war eben in der Mittelklasse auf sich bedacht, aber gemeinwohlorientiert. Was ihn empörte, wie viele seinesgleichen, war die Ungerechtigkeit, wenn aus Parteiräson weniger fähige fähigeren Leuten bei der Besetzung von Posten vorgezogen wurden. Eine massenhafte bürgerliche Erfahrung, die den Haiderismus in Österreich stark beförderte.

Selbst wenn man einer Partei oder Wertegemeinschaft oder der Kirche oder allen dreien verpflichtet war, stellte man diese Verpflichtung doch nicht über alles. Das meine ich mit bürgerlicher Mentalität. Vielleicht drücke ich mich unklar aus. Dieses Bewusstsein war blind für ungerechte Geschlechterverhältnisse, nahm Klassenverhältnisse teilweise als gottgegeben hin, war national ziemlich borniert und hatte von Umweltproblemen keinen Schimmer. Aber es besaß ein Gefühl für jene Grenzen des Individuums, die ihm Gesellschaft und Gemeinschaft abverlangten. Man wusste, was man tut und lässt. Dieser soziale Typus existiert noch immer, und vielleicht wieder neu in anderer Form, aber er dominiert nicht mehr. Es waren die alten Schwarzen und die alten Roten und bald schon die alten Grünen, die ihn repräsentierten, also ist bürgerlich nicht das richtige Wort; vielleicht staatsbürgerlich?

Jedenfalls änderte der Wertewandel, der nach 1989 weltweit einsetzte und ungenau mit dem Sieg des neoliberalen Paradigma bezeichnet wird, das alles und verwischte genau die selbst und gemeinschaftlich gezogenen Grenzen der Einzelnen.

Ab sofort raffte man für sich allein, auch im Amt. Karl Heinz Grasser bot dafür das österreichische Rollenbild. Man konnte auch deswegen für sich selbst raffen, weil die Partei sich selbst diskreditiert hatte und nichts mehr galt. Auch auf der linken Seite äußerte sich das so, dass jeder, der in ein Spitzenamt kam, dies als Sprungbrett für eine Karriere als Kapitalist oder als Topmanager sah (dass der Staat seinen Ex-Spitzen nichts adäquat Würdiges und Einträgliches anbietet, zeigt mangelndes Bewusstsein des Problems).

Und jetzt die türkisen Boys and Girls. Sie raffen nicht für sich selber, sie raffen nur Macht. Alles, was als Anstand, Wahrhaftigkeit oder Grenze gegolten hatte, andere nicht zu beschädigen, ist bei ihnen nur mehr lästiger Zierat. Die bösclownhafte Verachtung derer, die sie an  bürgerliche Selbstverpflichtung erinnern, prägte ihre öffentliche Aufführung: Sobotka, Blümel, Edtstadler.

Die Parteibuchdiktatur war Gold, verglichen mit dieser substanzlosen Tyrannei der Loyalität, mit diesem Personenkult, der sich nicht scheut, mit Mitteln der Lügenpropaganda alles anzugreifen, auf dem bürgerliche Gesellschaft beruht: Rechtsstaat, Öffentlichkeit, Parlamentarismus. Das alles wird mit einer Unverfrorenheit attackiert und niedergemacht, für die es in der Geschichte nach 1945 keinen Vergleich gibt. Selbst Jörg Haiders Demagogie war noch getränkt mit dem Gift seiner rechtsnationalen Weltanschauung. Bei Türkis ist nur mehr Clanloyalität.

Nein, die Türkishemden, die zu Andachten scharenweise und in Formation antreten, sind keine Braunhemden, und es gibt keine bewaffneten Formationen. Nicht nötig, beim Ausmaß der Medienkorruption. Aber es gibt eine kollektive, entschlossene, charakterlose Offensive, die allein schon deswegen gefährlich genug ist, weil sie ihrer Machtergreifung und ihrem Machterhalt alles unterordnet und keine Grenze respektiert. Das ist nicht mehr bloß schlaue, disziplinierte Herrschaftstechnik. Das ist gefährlich.


Distance, hands, masks, be considerate!

Ihr Armin Thurnher

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