Nach Nehammergate: die Grünen sitzen in der türkisen Falle. Müssen sie da heraus?

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 319

Armin Thurnher
am 29.01.2021

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Wie lange ist es her, dass man Sebastian Kurz den „Mozart der Politik“ nannte? Wer war so frivol, diesen Mann, dessen Beschränkungen mit jedem Tag deutlicher hervortreten, mit einem der großen Genies der Menschheitsgeschichte zu vergleichen?

Vorgestern hatte Mozart 265. Geburtstag, am gleichen Tag wurde das Konzentrationslager Auschwitz von der Roten Armee befreit: es war auch Holocaustgedenktag. Einen Tag später schob die österreichische Regierung zwei in Österreich geborene, bestens integrierte Mädchen, eine zwölf, die andere fünf nach Georgien und Armenien ab.

Es war alles rechtens, alle Proteste waren vergeblich. Alle Hinweise, man hätte, ohne das Recht zu verletzen, auch anders handeln können, verhallten. Der Bundespräsident schwieg. Falsch, er schwieg nicht. Ausgrenzung, Sündenbockdenken und Menschenverachtung dürften , „niemals wieder als politisches Instrument eingesetzt werden“, schrieb er auf Facebook. „Niemals wieder“ bedeute aber auch, „dass wir uns jeglichem Versuch der Zerstörung des Rechtsstaates und der liberalen Demokratie entgegenstellen und die Grund- und Freiheitsrechte entschieden verteidigen“. Menschenrechte von Kindern exklusive? Es war das Feierwort zum Holocaustgedenktag.

Die grüne Parteispitze fand nach einer Schrecksekunde Worte und meinte, die Sache müsse rückgängig gemacht werden. Innenminister Karl Nehammer, der Ramatamer des Bundeskanzlers, sagte, er habe dem Rechtsstaat zum Durchbruch verholfen. Man dachte bei diesem Bild sofort an die Spaß-Videos von Lastwägen, die serienweise in Schaufenster von Geschäften krachen, während das aufgeschreckte Personal gerade noch in Deckung springt. Durchbruch.

Kurz und Nehammer mit zwei ungenannt bleiben wollenden grünen Koalitionspartnern Foto © BKA, Arno Melicharek

Es geht Nehammer und Kurz einen Dreck um den Rechtsstaat. Es geht ihnen nicht einmal darum, ein Exempel zu statuieren. Was wäre das für ein Exempel, das ein paar Rechtextremen gefällt und dafür Hunderttausende zum Kernpublikum der ÖVP Gehörende vor den Kopf stößt?

Es ist leider so primitiv, wie man es nur befürchten kann. Die türkise Dilettanten-Seilschaft muss von ihren Debakeln ablenken. Vom BVT-Debakel. Vom Postenschacher-Korruptionsdebakel. Aschbacher-Debakel. Vom Köstinger-Schramböck-Raab-Debakel. Vom Sobotka-Debakel. Vom Blümel-Gedächtnisdebakel. Vom Shredderdebakel. Vom Digitalisierungsdebakel, das sich nicht nur im Verhöhnungsfall des Kaufhaus Österreich zeigt, sondern in der Unfähigkeit, Coronatransparenz herzustellen. Bis zum Impfdebakel.

Sichtbar wird die Unfähigkeit, im Angesicht kommender ökonomischer Verwerfungen, um es milde auszudrücken, krasses Unglück zu verhindern. Stattdessen sichert man nach rechts ab. Die vielen Rechten in Polizei und Militär, die überall in präfaschistischen Krisen aufpoppen, von USA bis Germany, gibt es auch bei uns. In der Abschiebungsnacht wurden sie laut, und sie wurden zufriedengestellt. Von Kurz und Nehammer, ihren Partnern.

Nichts, was man von einer voraussehenden Regierung erwarten könnte, haben die Kurz-Leute geschafft. Nicht einmal eine vernünftige Corona-Kommunikation haben sie zustande gebracht, mit ihren fünf Dutzend Kommunikationsleuten allein im Kanzleramt. Die sind nicht für Kommunikation da, nur für Kanzlerwerbung.

Das alles ist so offensichtlich, dass man sich fast genierte, seinen Unmut zu äußern, über den Inhumanitätsdilettantismus, den hundeschnauzenkalten Abschiebezynismus, der mit dem Schicksal junger Mädchen, ja von Kindern spielt. Das Letzte, das Allerletzte, das Hinterletzte. „Zum einen macht es mich persönlich auch betroffen, wenn man sich mit den Schicksalen auseinandersetzt, und gleichzeitig hat das Innenministerium, die Polizei, die Aufgabe, höchstgerichtliche Entscheidungen auch tatsächlich umzusetzen.“ Solch zynischer Schmonzes, wie ihn der Innenminister hier äußert, verdient die tiefste Verachtung. „Auch betroffen“, wirklich, Herr Nehammer? Sie haben keinen Charakter, aber Sie spielen Schicksal. Mäßigen Sie wenigstens ihre Hohnreden danach!

Warum ist das alles so verrückt geworden? Will die Mehrzahl im Land von Unfähigen regiert werden? Von gefühllosen Zynikern? Von herzlosen Dilettanten?

Das glaube ich nicht. Sie wurde dazu verführt. Die türkisen Zyniker haben die Medien gekauft, wo sie konnten. Sie haben die Verwaltung zu einem Manipulationsapparat umgemodelt. 60 Medienleute allein für Kurz! Aber nicht zur Information der Bevölkerung über Corona oder die Krise, nein, zum persönlichen Polit-Grooming. Der Riss in der ÖVP zwischen christlicher-menschenrechtlicher  und evangelikaler-Neo-Stahlhelm-Fraktion ist nicht geschlossen, nur durch die Wahlsieggarantie von Sebastian Kurz gekittet.

Jetzt fährt der Zug auf das große schwarze ökonomische Krisenloch zu, einen Tunnel ohne Licht, in dem  der Zug droht, all die die schönen ökologischen Projekte zu verlieren. Kurz hat dafür gewiss ein Szenario, aber keinen Plan. Als siegreicher Krisenführer kann er sich nicht präsentieren. Er kann die Koalition sprengen, aber lieber wäre ihm, das tun die anderen, und er wird nicht als Krisenmanager, sondern als Ausländerabweiser beurteilt. Der Zorn im Land ist da, aber er hält sich in Grenzen, lässt sich medial lenken. Dass die Zustimmung zur Kurz-Seilschaft einigermaßen stabil bleibt, ist damit allein aber nicht zu erklären.

Es liegt naturgemäß an der Schwäche des Koalitionspartners und der Opposition. Heute nur ein paar Worte zu den Grünen.

Nein, sie hatten keine Option, sie mussten einmal in eine Regierung. Allerdings gingen sie Kurz und seinem übermächtigen „Kommunikations“-Apparat ohne Not auf den Leim. Gesundheitsminister Anschober fand ein verlottertes Ministerium vor, machte die längste Zeit gute Figur, verfing sich aber in Kompromiss-Fallen und ließ sich die Kommunikation in entscheidenden Momenten vom Kanzler entwinden. Vizekanzler Kogler nahm die Kultur-Agenden nicht ernst, verheizte die brave Ulrike Lunacek und fiel dann auf die „professionelle“ Spitzenbeamtin Andrea Mayer zurück. Rudolf Scholten, den ehemaligen SP-Kunstminister in Ehren, aber dass seine Mitstreiterin die ultima ratio grüner Kulturpolitik ist, zeigt nur, dass es eine solche nicht gibt.

Beim läppischen Theater um die sparsamen Vier, das Sebastian Kurz bar jeder ökonomischen Kenntnis vergangenes Jahr in der EU veranstaltete, spielten die Grünen nicht einmal eine mäkelnde Nebenrolle. Und doch half Kurz dort mit, die Grundlagen des europäischen Impfdebakels zu schaffen. Sparen bei der Bestellung, Sparen beim Bau von Fabriken. Jetzt zahlen wir den Preis des Geizes, und schuld daran wird der grüne Anschober sein.

Alma Zadic scheint vor allem zur Duldung türkiser Frechheit entschlossen, vom Ibiza-Video bis zur Wiederinstallation des Sektionschefs Pilnacek. Untadelig kommt mir Umweltministerin Gewessler vor, die den gewichtigsten Teil der grünen Agenda zu stemmen hat. Wieweit ihr Kogler unter Krisenbedingungen finanziellen Flankenschutz geben kann, ist unklar. Auf den Leim gehen heißt, zuzusehen, wie die Türkisen den Spin gegen die Gründen drehten, von Kurz’ Zurückstufung Anschobers bis zum Abschieben Nehammers, während die Grünen solidarisch das Maul hielten und über die reichlichen Patzer der Türkisen Damen und Herren vornehm hinwegsahen.

Jetzt jammern sie. Um Sachpolitik bemüht, sollten die Grünen beginnen, Machtpolitik zu lernen. Dass sie es nicht mit einem fairen Partner zu tun haben, sollten sie nun kapiert haben. Am Abend nach der Abschiebung wurde auch Frau Maurer, passend dunkel gewandet, ernst. Klubobleute haben die Funktion, politisch zuzuspitzen; Maurer interpretierte den Job bislang als freundiches Image-Wetterfähnchen für Türkis.

Sich auf Alexander Van der Bellen zu verlassen, wird nicht reichen. Der hält sich aus Scharmützeln mit Kurz heraus, um im großen Moment genug Wumms zu haben. Er sprach dann doch, leicht verzögert, er war ein guter, aber nicht der große Moment. Oder ist auch er längst, so mein wie immer ungerechter und vorurteilsbehafteter Eindruck, von Kurz eingelullt? Wie die Regierungs-Grünen? Sind sie jetzt, nach der Nacht- und Nebelabschiebung, aufgewacht? Schaffen sie es nicht, Kurz gegenüber in der Koalition klare Distanz einzunehmen, ohne sich aus der Koalition kicken zu lassen oder sich selbst hinauszukicken (was dasselbe wäre), sind sie von ihm schon gefressen. Vielleicht haben sie ja ihre letzte Chance erkannt. –

Mehr zur Opposition morgen. Oder, falls der Epidemiologe kommt, übermorgen. Wir haben Zeit. Inzwischen, während wir die Kinder zurückholen, sollten wir ein wenig echten Mozart hören.


Distance, hands, masks, be considerate!

Ihr Armin Thurnher

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