Die Gesellschaft der Verantwortungslosigkeit und ein Licht am Horizont

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 313

Armin Thurnher
am 23.01.2021

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Je tiefer man in eine Materie eindringt, desto intensiver ruft sie zurück. Die Lyrik bei der Inaugurationszeremonie des US-Präsidenten hat naturgemäß weniger aufgrund ihrer dichterischen Qualität, sondern wegen ihrer Trägerin derart stark eingeschlagen: das ikonische Gelb des Kostüms der jungen Frau, die mit solcher Begeisterung für die Demokratie deklamierte, vereinte sich mit ihren Worten und ihrer Körpersprache zu etwas Ergreifendem. Es berührte sogar einen Inbegriff an Nüchternheit wie Armin Wolf. Er twitterte, er sei gespannt, wer die beste deutsche Übersetzung von Amanda Gormans Gedicht vorlegen würde.

Nun, ich habe da etwas Zeit, und einige andere Übersetzungen gehen vor. Ich verkneife es mir heute, weiter in die Poesiegeschichte der Inaugurationen einzudringen, obwohl es da genug zu erzählen gäbe. Weil ich gestern über John F. Kennedy und Robert Frost und deren „Goldenes Zeitalter von Poesie und Macht“ schrieb, sei wenigstens nicht verschwiegen, dass es poetische Opposition gegen Frosts mit „vaguely realizing westward“ angedeuteten Suprematismus gegenüber der indigenen Bevölkerung gab. Der Dichter Paul Muldoon bezog sich auf Frost, als er in seinem Gedicht einen amerikanischen Ureinwohner (solche kommen bei Frost nicht vor) sprechen ließ, der als Geschenk von den „westward“ drängenden Engländen sechs Angelhaken und zwei Decken entgegennahm, „bestickt mit Pocken“. Der Dichter Michael Robbins gehörte zu einigen Poeten, die der Webdienstleister Yahoo aufforderte, zu Obamas zweiter Inauguration 2012 etwas beizusteueren. „Drone Vaguely Realizing Eastward“ nannte er sein Gedicht, mit deutlicher Geste gegen Frost und mit wütender Kritik an Obamas rechtsverachtender Drohnenkriegspraxis.

Dies alles, die räudige Kritik und die festliche Bekennerfreude zeigen, wie es um die amerikanischen Selbstheilungskräfte steht. Aber wir befinden uns hier noch im Bereich der Soft Power. Die Formatfüllung des gefüllten Orangutans mit dem Orangenteint ist gewichen, die Luft ist draußen, das Twitterfenster von @realdonaldtrump bleckt öd und leer aus dem Tweetdeck heraus.

Nicht, dass ich den Verlust beweinen würde, denn die Verwüstungen, die der Mann angerichtet hat, sind nicht so schnell aus der Welt zu schaffen. Die Schlüsselfrage für Selbstheilung nicht nur der amerikanischen Gesellschaft lautet: wird man ihn zur Verantwortung ziehen können?

Um den Begriff Verantwortung kreisen viele unserer Probleme. Verantwortung ist ein Nullwort, jeder übernimmt sie jederzeit, und es bedeutet nichts. Andererseits wird sie – vielleicht gerade dieser Nullwertigkeit wegen – oft hysterisch bis ins siebte Glied hinein eingefordert. Die unverschämte öffentliche Gewissheit, unverantwortlich, straflos handeln zu können, kennzeichnet die Regimes und die Konzerne unserer Tage, von Trump bis Putin, von Zuckerberg bis Larry Fink.

Deswegen empfand ich es als eine gute Nachricht, als ich gestern in der Zeitung Die Welt las, „dass jetzt eine Grundsatzentscheidung des Obersten Gerichtshofes die Verbreiter von Trumps großer Lüge (dem Wahlbetrug, Anm.) bedroht: ,Citizens United v. Federal Election Commission‘ (2010) – eine Grundsatzentscheidung, die von Konservativen heftigst bejubelt wurde. Der Oberste Gerichtshof stellte damals fest, dass Firmen im Hinblick auf das Recht auf Meinungsfreiheit wie Personen zu behandeln seien. Sie können also, nur so zum Beispiel, Verleumdungsklagen anstrengen. Trumps Anhänger verbreiteten nach dem November 2020 die völlig wahnsinnige Behauptung, Wahlmaschinen, die von der Firma Dominion gefertigt wurden, hätten Joe Biden Millionen von Wählerstimmen zugeschanzt, wobei der tote venezolanische Diktator Hugo Chávez irgendwie aus dem Grab heraus geholfen habe.

Jetzt hat Dominion Voting Systems, Inc. den rechten Fernsehsender Fox News, Rudy Giuliani und Trumps Ex-Anwältin Sidney Powell verklagt – Powell etwa auf 1,3 Milliarden Dollar. Der Geschäftsführer von Dominion hat angekündigt, er strebe keinen Vergleich an, sondern wolle die Streitfälle vor Gericht verhandelt sehen. Aus Prinzip. Seither sind Fox News und andere trumpistische Organe – etwa die Zeitschrift American Thinker – sehr kleinlaut geworden. Sie ringen die Hände und bitten um Entschuldigung, ganz ohne weinerliche Aggressivität. Das ist ein Anfang.“

Darauf bin ich wirklich gespannt: wie der US-amerikanische Rechtsstaat, den Trump mit seinen Richterinnenbesetzungen zwar prägen, aber nicht abschaffen konnte, wie die Bestätigung des Wahlergebnisses zeigte, nun auf die Latte von Grenzüberschreitungen und Verfehlungen reagiert, die Trump hinterlassen hat. Trumps Aufhetzung zur Besetzung des Kapitols wird im Impeachment-Verfahren behandelt; dieses wird im Februar fortgesetzt, und es kommt darauf an, ob im Senat sich ausreichend viele Republikaner vor einer erneuten Kandidatur Trumps im Jahr 2024 schützen und ihm das Diktat über die Partei entwinden wollen.

Aber Klagen wie jene von Dominion Inc. sind in dieser Lage besonders bedeutungsvoll. Das Zensurproblem von Twitter und Facebook ist nämlich keines. Es wäre klarer sichtbar, dass es keines ist, wenn diese Konzerne es dem Rechtsstaat leicht machen würden, Menschen zu ihrem Recht kommen zu lassen. Accountability, also die Möglichkeit, jemanden zur Verantwortung zu ziehen, weil man seinen Namen und seine Adresse kennt, ist dafür die Voraussetzung. Viel Nebel in den digitalen Verwirrungszonen würde sich lichten, könnte man die Lügenverbreiter rechtlich zur Verantwortung ziehen.

Verantwortung ist zum Nullwort geworden. Es bedeutet nichts. Wer übernimmt nicht die Verantwortung für alles, meinetwegen oder seinethalben, wie man will. Man muss aber Menschen zur Verantwortung ziehen können, darauf kommt es an, sonst lösen sich Rechtsstaat und Gesellschaft auf.

Wünschen wir uns Glück, dass es den USA gelingt, über rechtsstaatliche Verantwortlichkeit auch wieder zivile Maßstäbe wie Mäßigung beim Lügen, beim Abgreifen und auch beim Impfvordrängen wiederherzustellen. Man ist bescheiden geworden im Goldenen Zeitalter.


Distance, hands, masks, be considerate!

Ihr Armin Thurnher

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