Husten, Heilung und Fußball. Alfred Brendel zum 90. Geburtstag

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 295

Armin Thurnher
am 05.01.2021

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Es ist eine beliebte Unsitte, Jubilare durch ausgiebiges Erzählen über sich selbst zu erfreuen. Darüber weiß man andererseits am besten Bescheid, und ich denke nicht daran, Alfred Brendel zum 90. Geburtstag zuzurufen, wer er ist, wie er heißt und dass er es ist.

Dieser Pianist und Schriftsteller, einer der bedeutenden Künstler unserer Zeit, vermag in vielen Menschen Tiefstes zu berühren. Vielleicht erfreut ihn, der zeitlebens im Konzert unter den Hustern und Scharrern litt und ihnen in Chicago zurief „I can hear you, but you can’t hear me!“, oder sie in Köln zweisprachig mit Schmähgedichten bedachte, vielleicht erfreut ihn die Botschaft eines Arztes, der mir kürzlich, weil ich von einem epileptischen Anfall berichtet hatte, den Brendel mit seinem Spiel auslöste, seine Theorie des Hustens anhand eines Erlebnisses bei den Salzburger Festspielen (etwa 2006) mitteilte:

„Er begann Schuberts B-Dur-Sonate D 960 mit einem besonderen Pianissimo, als links vor mir im Parterre ein gruppenkollektives, besonderes Husten im Mezzoforte ausbrach. Brendel unterbrach, stand auf, ging in Richtung festspielunreifes Publikum, deutete mit ausgestrecktem Arm zu den Störern und sagte sehr energisch: So geht das nicht!‘

Statt hinauszugehen, setzte er sich wieder zum Steinway und begann die B-Dur von Neuem im pp. Das Erstaunliche war, dass er dann die ganze Sonate ohne einen einzigen Huster vortragen konnte. Nicht einmal in den Satzpausen.

Damals meinte ich erfahren zu haben, dass Brendels Kunst einerseits ein vielleicht doch besonders anspruchsvolles, konzentrationsfähiges Publikum erfordert und/oder sein Spiel einen Tiefgang zumindest bei diesen Zuhörern bewirkt, ja auslöst, sodass – ich komme auf Ihre Schilderung zurück – sogar ein epileptischer Anfall entstehen kann.

Dies würde mit Forschungsergebnissen im Einklang stehen, wie sie im Buch von Prof. Stefan Kölsch mit dem Titel „Good Vibrations – Die heilende Kraft der Musik“ geschildert werden. Brendels Musik war und ist heilend, gerade bei Schubert. (…) Die geradezu körperliche Übertragungskraft bei Brendel spricht natürlich nicht gegen, sondern für ihn.“

Diesen Brief schrieb mir der freundliche Arzt nach der Ö1-Sendung mit Rainer Elstner, die mir viele, auch unvermutete Reaktionen eintrug: Liebes- und Dankbarkeitsbezeugungen für einen, der nicht mehr öffentlich spielt, aber durch Aufnahmen, Schriften und Vorträge präsent ist. Später Trost für ihn: der Husten des Volkes war eine Folge des von ihm erbrachten Heils!

Der Arzt wurde übrigens durch die Lektüre meines Romans „Der Übergänger“ zum Falter-Abonnenten, auch solche Umwege kann Brendel-Verehrung nehmen.

Alfred Brendel Foto © Benjamin Ealovega

Ich selbst kam über den Fußball zu Brendel. Nach langen, dunklen Jahren des Post-1968-er Sportverbots hatte ich mit meinem Freund, dem Regisseur Hans Czarnik endlich einen Vorwand gefunden, den geliebten Sport wieder aufzunehmen. Das Sportverbot galt übrigens wegen Machismo, dies sei all jenen gesagt, die im Nebel der Geschichtslügen gern auch noch jene verbreiten, die Jahre um und nach 1968 wären ein einziger Exzess der Männerherrschaft gewesen.

Czarnik war es, dem die entscheidende Ausrede einfiel: Wir laufen auf den Demos nicht mehr schnell genug, wir müssen trainieren! Schon waren wir auf der Schmelz, dem Trainingsgelände der Universität, um mit der Mannschaft des 1. Philosophischen Instituts zu kicken.

Dort lernten wir den Philsophiestudenten Hans Zahnhausen kennen, einen hochbegabten Mittelstürmer mit einem Körper, von dem Hans Krankl gesagt hätte, er gliche einer Reitgerte. Später einmal durfte ich bei einem kleinen Verein Hans den entscheidenden Eckball auf das lockige Haupt servieren, der unserem Team in letzter Minute den Aufstieg in die nächsthöhere Klasse bescherte (Hans versenkte ihn zwar mit der Schulter im Tor, aber egal, wir gewannen 1:0).

Mit diesem Hans ergab sich in den frühen 1980er Jahren nach einem Training ein Gespräch über Beethoven und seine Interpreten, was man nach dem Fußball halt so bespricht, und er machte mich darauf aufmerksam, dass Alfred Brendel demnächst alle Beethoven-Sonaten im Musikverein spielen werde. Ich kaufte mir eine Karte. Es wurde die erste von vielen.

Czarnik nahm sich das Leben, auch Zahnhausen starb viel zu früh. Zusammen bilden die zwei Hänse einen Teil der schon viel zu langen Reihe von Menschen, die ich im Alter gern um mich gehabt hätte. Ohne sie wäre meine freundschaftliche Verbindung mit Alfred Brendel nicht zustande gekommen. Wenigstens ihn habe ich noch, zu gelegentlichem Briefverkehr, zu seltenen Telefongesprächen, zu sporadischen Treffen, als musikalischen Partner, dem ich zuhöre und dessen nicht abreißenden, keineswegs mächtigen, aber bedachtsam stetig fließenden Strom von Publikationen ich lese.

Beispiele sind es, die uns lehren, die Sterne schleifen uns nur so dahin. Alfred Brendel ist mir in der wichtigsten Sache zum Vorbild geworden: in der lebenslangen Arbeit an sich, in der Präzision und der Ökonomie seines Ausdrucks und nicht zuletzt in seinem Charakter. Schmerzende Hände und Arme machen es ihm unmöglich, Klavier zu spielen, aber er arbeite, sagt er, weiter an seinen Interpretationen. Sie seien nun besser denn je.

Es ist der nie nachlassende Versuch zur Weiterentwicklung seiner selbst, wofür es sich, in seinen Worten ausgedrückt, „zu leben lohnt“.

Heute feiert Alfred Brendel seinen 90. Geburtstag. Ich danke ihm für alles und wünsche ihm das Allerbeste.

Möge er noch lange, gesund und produktiv leben und an sich arbeiten!


Weiterhin: keep distance, wash hands, wear masks, stay human!

Ihr Armin Thurnher

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