Die Weihnachtswürde des Kanzler Kurz und der Schlamm von Lesbos

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 279

Armin Thurnher
am 20.12.2020

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Die Anstrengungen der letzten Wochen haben Wirkung gezeigt. Mittlerweile haben wir in Österreich niedrigere Ansteckungszahlen als in fast allen unserer Nachbarländer. Dadurch können wir das Weihnachtsfest halbwegs würdevoll begehen.

(Tweet des Bundeskanzlers Sebastian Kurz, 18.12.2020, 20:20 h)

Message Control hat einen Vorteil. Man braucht keine langen Reden anzuhören, man braucht keine knechtischen Interviews anzuschauen und keine servilen Pressestunden zu durchleiden. Die Rede ist immer die gleiche, die Phrasen kommen in kompakten Kotzbrocken. Eine genügt, irgendwo fallengelassen, in einer Zeitung, einem Fernsehstudio, in einem Tweet, und man kennt sie alle. Schon hört man die Ministerinnen sie nachlispeln und die Ministranten sie nachbeten.

Weihnachten. Würdevoll. Halbwegs.

Ein einziger Tweet des Bundeskanzlers, 232 Zeichen, 29 Wörter, fast alle unerträglich. Im Message-Salon aufgepickt, schnell verdaut und dem Volk ins Nest gekotzt – dieses Kanzler-Gewölle sollen wir fressen?

Nein. Das fressen wir nicht. „Die Anstrengungen der letzten Wochen“ – welche Anstrengungen sollen das gewesen sein? Die eines verspätet und in unangemessener Form von Ihnen, Sebastian Kurz, verordneten Lockdowns? Die einer Massentestaktion, auf Ihre Veranlassung durchgeführt, mittels von Ihnen überteuert gekauften Testkits, die am Infektionsverlauf genau nichts ändert? Außer dass sie bei einigen negativ Getesteten das Bewusstsein falscher Sicherheit hervorruft und einige andere sich dabei vielleicht sogar infizieren?

Die Anstrengungen der letzten Wochen „haben Wirkung gezeigt“, schreiben Sie. Angestrengt hat sich wer? Die Bevölkerung, die Wochen, oder Sie, der Angestrengteste von allen? Ja, die Infektionskurve geht etwas hinunter. Sie wird, wie Sie wissen, wieder hinaufgehen. Aber das Zeigen von Wirkung, diese von Ihnen dem Boxkampf entlehnte Phrase verweist auf etwas anderes. Sie meinen wohl, die Wirkung bestehe darin, dass „man“ – sprich von Ihnen mit viel Steuergeld gefügig gemachte Medien – Ihnen die hohen Sterberate in Österreich nicht dauernd im die Ohren haut. Diese Wirkung hat sich gezeigt, und indem sie sich zeigte, hat sie anderes verborgen.

Die Sterberate in Österreich lässt sich mit jener Deutschlands nicht vergleichen, sie ist nämlich dreimal so hoch (neun statt drei Coronatote pro Million Einwohner). Wer, wenn nicht Sie, der für alles verantwortlich ist, wäre denn dafür verantwortlich zu machen? Der Nachbar Deutschland sollte doch unser Maß sein, und nicht slawische Länder, aus denen Unglücksrouten zu uns führen, die Sie gnädigerweise dauernd schließen, vor allem, wenn Sie Wirkung zeigen wollen.

Es steckt noch viel mehr in Ihrer dürftigen Botschaft, und seien Sie sicher, ich komme darauf zurück.

Lassen Sie mich jedoch heute nur von dem sprechen, was Ihr Außenminister Schallenberg, den man irrtümlich einst für einen Mann von Weltkenntnis und Verstand hielt, Ihre „klare Linie“ nennt.

Es geht um Härte gegenüber den Flüchtlingen auf Lesbos. Nein, sagen Sie, wir werden keine aufnehmen. Das ist Ihre klare Linie.

Aber Ihre Idee eines „halbwegs würdigen Weihnachten“ tragen Sie sie uns auf allen Kanälen vor. Halbwegs würdig – eine schärfere Offenbarung Ihrer kalkulierenden Gedankenlosigkeit hätte Ihnen ihre Meinungsfabrik kaum zusammenschustern können!

Menschenwürde ist nämlich immer die eigene Würde und die Würde der anderen, Herr Bundeskanzler. Zusammen. Es gibt keine geteilte, keine halbe und keine halbwegige Würde. Wer seine Beliebtheit auf unwürdigem Verhalten aufbaut, braucht nicht von Würde zu reden.

Wer wie Sie die Zustände auf Lesbos in Kauf nimmt, Kinder im Schlamm, frierend, vergewaltigt, von Ratten angeknabbert, ausgesetzt, und das auf europäischem Boden, wer sich nicht nur weigert, etwas gegen diese Schande zu unternehmen, wer vielmehr meint, seine Popularität auf ihr gründen zu können, der hat das Recht verwirkt, je mit dem Begriff der Würde zu hantieren.

Herr Bundeskanzler, schämen Sie sich. Sie haben kein Recht, von Würde zu sprechen. Nicht zu Weihnachten, nicht zu Ostern, nicht zu Pfingsten und auch zu keinem anderen christlichen Feiertag.

Hören Sie auf, ein Land in die Geiselhaft Ihrer Würdelosigkeit zu nehmen. Helfen Sie endlich jenen vielen betroffenen, bestürzten und mutigen Österreicherinnen und Österreichern, die den Flüchtlingen auf Lesbos helfen oder ihnen helfen wollen, indem sie sie bei uns aufnehmen.

Weichen Sie ab von Ihrer klaren Linie. Sie führt klar und geradewegs in die Inhumanität.


Weiterhin: keep distance, wash hands, wear masks, stay human!

Ihr Armin Thurnher

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