Massentests: Mythen, Fehlinformationen, falsche Erwartungen und krauses Zeug

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 274

Armin Thurnher
am 15.12.2020

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Heute ist wieder Robert Zangerle am Wort, klinischer Epidemiologe der MedUni Innsbruck. Er erklärt uns, was wir alles über Massentests nicht wussten, etwa über jenen in der Slowakei, warum Massentests einen Lockdown weder verhindern noch ersetzen, und was sonst noch für Fehlannahmen und krauses Zeug über sie verbreitet werden. Teil 1 eines Zweiteilers, Teil 2 folgt morgen hier.   A.T.

»Armin Thurnher, mein Seuchenheiliger, schrieb mir: „Mein Massentest gestern: sehr professionell, wenig Leute, Freude, dass sie es im Dorf so gut organisiert haben, nach 1h das SMS.“ Ich hatte schon festgehalten: „Geographisch umschrieben, durch hohe Inzidenz begründete Massentests, wie sie gerade in Annaberg, Tennengau, anlaufen, sind jedoch zielgerichtet (aktuelle 7-Tagesinzidenz 519,5/100 000!) und zu begrüßen!“ Generell gab es viel berechtigtes Lob ob des Krisenmanagements vor Ort.

Flächendeckende Massentests ganzer Länder sind jedoch anders zu sehen, sie werden in der Epidemiologie sehr kontrovers diskutiert. Wenn schon so ein Experiment, dann ist es ganz entscheidend, wie die Bevölkerung darüber informiert wird. Schauen wir uns ein Beispiel an:

  1. „Die Testung ist freiwillig. An der Testung können alle Personen ab zehn Jahren teilnehmen.

  2. Allerdings wird sie denjenigen Personen nicht empfohlen, die älter als 65 Jahre sind und die sich die meiste Zeit in ihren Häusern aufhalten, oder allen Bürgern mit eingeschränkter Mobilität oder gesundheitlichen Einschränkungen, die auf natürliche Art soziale Kontakte vermeiden.

  3. An der Testung werden die Kunden der Seniorenheime und Krankenhauspatienten nicht teilnehmen, die direkt in ihren Einrichtungen getestet werden.

  4. Die Testung findet an zwei aufeinanderfolgenden Wochenenden statt. Es wird empfohlen, beide Tests zu absolvieren. Zugleich wird empfohlen, den sozialen Kontakt zwischen den Testungen – wie bisher – möglichst gering zu halten und die festgelegten epidemiologischen Maßnahmen einzuhalten.“

Sie kennen diesen Text in dieser Form vermutlich nicht. Wie auch, ist er doch eine Information des Amtes des Regierungsvizepräsidenten der Slowakischen Republik. Ich hätte mich über eine solche Information gefreut, und wäre, weil betroffen, mit gutem Gewissen nicht hingegangen, obwohl Landeshauptmann Günther Platter, mein Alter und mein Verhalten außer Acht lassend, mich dazu eingeladen hatte.

Rücksicht auf Gehbehinderung oder Gebrechlichkeit wurde in Österreich nirgendwo kommuniziert, ganz im Gegenteil. „Nicht zuletzt aufgrund dieser Altersverteilung wollen wir Teilnahme bei Älteren erhöhen. Deshalb keine Voranmeldung in der Messe Wien. Wir haben 80 Rollstühle zur Verfügung gestellt, damit auch weniger mobile Menschen sicher zur Teststation gebracht werden“, ließ das Büro von Gesundheitsstadtrat Peter Hacker wissen. Auf der diesbezüglichen Webseite wird eine Frage wegen eingeschränkter Mobilität seit Corona gar bizarr selbst beantwortet (FAQ).

„FRAGE: Ich bin wenig mobil und benütze seit dem Beginn der Covid Krise keine öffentlichen Verkehrsmittel mehr. Wie kann ich mich schützen? Kann ich mich auch woanders testen lassen?

ANTWORT: Sollte es sich bei Ihnen um einen Verdachtsfall handeln, kann nach Anruf unter der Gesundheitshotline 1450 ein Test mittels unseres Partnerunternehmens Veloce durchgeführt werden. Sollten Sie grippeähnliche Symptome verspüren, können Sie nach Voranmeldung auch zu einem Checkbox Standort in ihrer Nähe kommen.“

Alles in allem, ein kaltes technokratisches Mega-Krisenmanagement, keine Public-Health-orientierte gemeindenahe Versorgung. Die Slowakei hatte übrigens 5 000 Teststationen, Vorarlberg 80, Wien 3.

Auch nicht „gemeindenah“ Public-Health-orientiert war die persönliche Einladung von LH Günther Platter, der einen Vorarlberger mit „Liebe Tiroler und Tirolerinnen“ anspricht, was natürlich wurscht ist. Aber andere, die ebenfalls das schöne Tirol bewohnen, werden sich vermutlich gar nicht angesprochen fühlen. Darüber hinaus lockte die Einladung zum Massentest mit „Weihnachten soll so in Tirol zumindest im kleinen Kreise möglich werden“. Da ich Weihnachten in Vorarlberg verbringen werde, war ich also schon wieder nicht gemeint. Und bei jenen Leuten, die als wenig informiert eingeschätzt werden, steht Weihnachten vielleicht ebenfalls nicht ganz oben auf der religiösen Festliste.

Aber wie mir dünkt, ist die Bundesregierung gerade dabei, die unhaltbare, als Versprechen geschmückte Scheinalternative „Weihnachten + Massentest oder Weihnachten allein“ irgendwie kaschierend zu versenken. Darüber hinaus scheint die Regierung im Augenblick ein weiteres Tauschgeschäft zu wieder herstellen zu wollen, nämlich die oft unangebrachte Wahl zwischen „Abstand oder Maske“, die durch eine Ausweitung der Maskenpflicht minimiert wird.

Wenn die Regierung für Weihnachten oder Neujahr Zugeständnisse macht, dann entfernt sie eine Scheibe Käse . Das kann nur dann gut gehen, wenn dafür eine andere Scheibe eingelegt wird. Zu Weihnachten beispielsweise die etwas löchrige Scheibe der „(Selbst)-Quarantäne“ und/(oder) ein täglicher Test morgens, von geschultem Personal durchgeführt, also nur sehr selten ein gangbarer Weg, siehe hier  oder hier .

Die nächste, leider wissenschaftlich nicht haltbare Versprechen: „Massentests verhindern einen weiteren Lockdown“. Das behaupten nicht nur Landeshauptleute wie der Vorarlberger Markus Wallner wortwörtlich in der ZiB1 vom 7.12. Aufhorchen lässt auch Kärntens Landeshauptmann Peter Kaiser mit einer kuriosen Meldung: „Aber es war die klare Präferenz der Landeshauptleute für diesen Termin (Anm. 8.-10. Jänner) erkennbar bei der derzeit prognostizierten Weiterentwicklung der Fallzahlen.“  Er erfindet quasi freihändig eine Prognose, die es so nicht gibt. Dabei müsste er von den Videokonferenzen mit der Regierung genau wissen, dass der zeitliche Horizont der Prognosen 7 Tage bei den Fallzahlen und 14 Tage bei der Belegung der Krankenhaus-, insbesondere Intensivbetten, nicht übersteigt.

Ganz direkt wird da eine Spezialistin, nämlich für Kommunikation, die ehemalige Familienministerin Sophie Karmasin. Sie bemängelt in der Fernsehsendung Politik Live (ORF III) vom 10.Dezember, dass nicht mit mehr Nachdruck vermittelt wurde, „… dass die Menschen verstehen, das jetzt diese Testung (Anm. Massentestung) das richtige Instrument ist und nicht nur weil es die Slowakei macht, sondern weil es uns vor einem weiteren Lockdown schützt, weil es meine Familie schützt, weil es mich schützt, weil es einfach für unsere Gesellschaft richtig ist“.

Etwas verwunderte mich, dass der international sehr anerkannte (und von mir sehr geschätzte) Thomas Czypionka, Leiter der Abteilung Gesundheitsökonomie am Institut für Höhere Studien (IHS), in der gleichen Sendung ebenfalls so argumentierte: „Es war ein Versuch, den man machen kann, allerdings war dazu der Zeitpunkt nicht besonders gut gewählt, weil diese Massentests so wie in der Slowakei den Sinn haben, einen Lockdown zu verhindern“.

Offensichtlich ist die Information zum Ablauf der Massentestung in der Slowakei nicht wirklich angekommen. Diese Massentestung wurde auf höchstem Niveau wissenschaftlich begleitet, auch in Kooperation mit der London School of Hygiene & Tropical Medicine. Ihr umfassender Bericht liest sich sehr interessant (sehr anspruchsvoll!). Unser Nachbarland begann mit einer Pilotphase am 23. Oktober in den 4 Bezirken mit der höchsten Inzidenz (140.000 Tests, Positivitätsrate 3,9%). Es folgte eine erste Runde am 31. Oktober/1. November in allen 79 Bezirken des Landes (3,6 Millionen Tests, Positivitätsrate 1,0%) und – entscheidend wichtig! – eine zweite Runde am 7./8. November mit nur mehr jenen 45 Bezirken mit den höchsten Inzidenzen (2 Millionen Tests, Positvitätsrate 0,6%).

Die Autoren berichten einen eindrucksvollen Rückgang der neuen Infektionen von 60% innerhalb einer Woche. Sie finden zwar, dass die Massentestung einen wichtigen Beitrag dazu geleistet hat, können es aber nicht formal beweisen und „auseinanderdividieren“, welche Rolle diese Massentestung, der gleichzeitige Lockdown (!), und zusätzlich die vorbildliche Isolation (großzügig zur Verfügung gestellte kostenlose Unterkunftsmöglichkeiten, um Ansteckungen innerhalb betroffener Haushalte zu vermeiden) samt der Quarantäne der Haushaltsangehörigen jeweils gespielt haben. Es war das ganze Paket! Vorbildlich! So auch der Tenor wissenschaftlicher Kommentare dazu und hier. Zwei Drittel der Gesamtbevölkerung haben jeweils an den verschiedenen Etappen des Massentests teilgenommen, das entspricht jeweils 85% der infrage kommenden (siehe oben) 10-65-Jährigen.

Vorgeworfen werden den Verantwortlichen unzumutbare Repressalien gegenüber der Bevölkerung, wie die Androhung einer Einschränkung der Bewegungsfreiheit bei Nicht-Testen und hohe Strafen bei Verletzung dieser Regel. Aus „epidemiologischer“ Sicht war es eine gelungene Massentestung, ganz im Gegensatz zu Österreich. Trotzdem hat der slowakische Ministerpräsident Igor Matovic  am 9. Dezember eingestanden, dass die Massentestung ungenügend wirksam war und bekanntgegeben, dass neuerlich über Weihnachten ein 3-wöchiger Lockdown verhängt wird. Was also will das irrlichternde Österreich genau?

Was war in Österreich los? Nicht wenige rechneten aufgrund der Art der Organisation und der Krisenkommunikation mit einer mageren Beteiligung. Das ist „bei vielen Screenings so, dass die Informierten, Motivierten hingehen, während wichtige Zielgruppen nicht erreicht werden. Aber wir reden uns den Mund fusselig, dass es eine zielgruppendifferenzierte Kommunikationsstrategie benötigt“, sagte Thomas Czypionka.  . Auch das so genannte Inverse Care Law kann hier zur Anwendung kommen. Dieses Gesetz der Pflege besagt, dass die Verfügbarkeit einer guten medizinischen oder sozialen Versorgung tendenziell umgekehrt zu den Bedürfnissen der zu versorgenden Bevölkerung steht. Julian Tudor-Hart, von dem dieser Begriff stammt, erklärte es später anschaulicher: Wenn die medizinische Versorgung zur Ware wie Champagner wird, dann können sich Reiche eben mehr leisten als Ärmere.

Diese Massentestung erfüllte nicht die Kriterien für ein effizientes Screening, ein solches sollte auf gezieltem Call/Recall-System (Einlade/Wiedereinlade-System) beruhen. Ganz allgemein, nicht auf Covid bezogen, sollten insbesondere jene Personen zu Vorsorgeuntersuchungen eingeladen werden, die sie bislang nicht in Anspruch genommen haben, ansonsten läuft man Gefahr, dass solche Programme, wie die jetzige Massentestung nur von jenen beansprucht werden, die das geringste Risiko haben. Das klingt jetzt alles ein bisschen überladen mit Theorie, aber am Beispiel Wien kann man das erhellen. Selbstverständlich ist auch bei Covid-19 ein Screening nur dann effizient, wenn es ebenso wiederholt wird (RECALL), und zwar ist es hier im Vergleich zu anderen Erkrankungen ein sehr kurzes Intervall von 3-7 Tagen. In Wien hätte aufgrund der Testung vom 4.-12. Dezember dazu die Möglichkeit bestanden, jedoch wurde daran überhaupt nicht gedacht (auch nicht vor Ort!). Man hat also eine zentrale Botschaft eines Screenings gar nicht verstanden. Als ob es darum ginge, dass jede(r) irgendwann im Jahr 2020 einen Test machen sollte. So eine nutzlose Vergeudung von Ressourcen.

Ein solches Call/Recall System läuft ja schon länger in den Pflegeheimen, wo die wiederholte Testung (vor allem von Mitarbeiterinnen) längst umgesetzt wird oder werden sollte, schließlich hat der Bund hier auch eine normierende Verordnung verlautbart.

Wie sehen das die Heime selber? Tests für Besucher und Besucherinnen seien „von den Verordnungen her auch vorgesehen. Die Frage ist immer, ob die Mittel zur Verfügung stehen“, sagte die Direktorin der evangelischen Hilfsorganisation: „Unser Personal ist super ausgelastet.“ Der Betreuungsaufwand sei durch Covid-19 ohnehin schon erhöht. „Da müssten externe Teams zur Verfügung gestellt werden“, erklärte die Direktorin im ORF. Das wurde jetzt bei der Massentestung besonders augenfällig: auf der einen Seite nahezu perfekte Organisation (das IT-Problem des Bundes lassen wir mal außen vor!) und daneben völlig im Stich gelassene Heime. Vom Land Tirol gab es zum Beispiel im Frühjahr kurzzeitig solche externe Hilfe durch mobile Teams. Diese sind nach wie vor dringlich notwendig.

Liebe Opposition im Nationalrat, dafür sind die Bundesländer zuständig. Das nicht ordentlich zu erfassen und zu kommunizieren halte ich für einen handfesten Skandal. Ich stelle in diesem konkreten Zusammenhang also kein „unfassbares Versagen der Bundesregierung“ fest. Als ob die Verunsicherung beim Heimpersonal bezüglich Testen nicht schon groß genug wäre, gibt es dort zunehmend auch Kummer, unaufgeklärt als erste „zwangsgeimpft“ zu werden. Anstatt hier dem Personal entgegen zu kommen, gießen die Landeshauptleute Stelzer und Schützenhofer noch Öl ins Feuer und faseln etwas von Impfpflicht (à la Sobotka zur Corona-App), „muss man manche zum Glück zwingen“, so Schützenhofer . Eine Impfpflicht macht beim Personal auch deshalb keinen Sinn, weil die nun bald beginnenden Impfungen nach dem jetzigen Wissensstand unzureichend vor der Weitergabe einer Infektion an andere schützen (sie schützen vor Krankheit!),

Mit solchen Aussagen und Haltungen verbessert man nicht das Verständnis, speziell die ohnehin schon schlechte „health literacy“ in der Bevölkerung. Beides werden wir aber für die Impfung dringend brauchen.«    R.Z.

Teil 2 folgt morgen hier!

 

Weiterhin: keep distance, wash hands, wear masks, stay human!

Ihr Armin Thurnher

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