Fußballgott ist tot. Abschied von Diego Maradona

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 256

Armin Thurnher
am 27.11.2020

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Pele will mit ihm im Himmel spielen. Beckenbauer weint. Der Papst betet für ihn, und auch mir wird eigen ums Herz. Kleines dickes Maradona war ein Zauberfußballer, all die Vergleiche und Abwägungen, wer denn nun der Größte war, interessieren mich nicht, weil die Spieler sowieso unvergleichlich sind. Wer erinnert sich an Jaschin oder Puskas? Di Stéfano, Cruyff, Beckenbauer, Pelé, Messi, Gerd Müller, alles Kandidaten für den Titel „größte Spieler aller Zeiten“ waren Typen eigenen Rechts.

Ihnen allen gemeinsam war, dass sie den Unterschied machten. Jede Mannschaft mit einem solchen Spieler hatte automatisch ein Übergewicht über den Gegner. Aufregend wurde es, wenn zwei solche Spieler einander gegenüberstanden, Cruyff und Beckenbauer zum Beispiel. Oder zwei in einer Mannschaft spielten, wie Beckenbauer und Müller.

Maradona machte vielleicht einen Hauch mehr Unterschied als sie alle. Man sieht es an den Nachrufen. An Nachrufen erkennt man die guten Zeitungen. Den Vogel schoss natürlich die Süddeutsche ab; die New York Times war schneller, nicht ganz so gut, aber ebenso ausführlich. Der Artikel von Javier Cáceres und Holger Gertz, eine Seite Drei, ist bestens informiert, fein gedacht und glänzend geschrieben. Man merkt, das Objekt der Verehrung fordert Besonderes. Hier wird es ihm gegeben.

Maradona nach dem Finale der WM in Mexiko 1986. Im Finale (3:2 gegen Deutschland) schoss er kein Tor, bereitete nur den entscheidenden Treffer vor. Im Viertelfinale gegen England schoss er die sagenhaften zwei Tore. Foto © APA

Die Fallhöhe des Beweinten, der Kern der Tragödie ist beträchtlich. Zahllose Geliebte, Koks, Nutten, Camorra, Doping, Fress- und Medikamentensucht, Verfall bis zur öffentlichen Lächerlichkeit auf der Tribüne bei der WM in Russland , Widersprüchlichkeit im Verhalten – verbal ein Linker, in der Praxis empathieloser Millionär – , die augenzwinkernde Gangsterhaftigkeit, das alles ist bekannt, durchdekliniert und ausgebreitet. Maradona war ein schmutziger Gott, berühmt wurde sein Tor mit der Hand gegen England, dem man im Nachhinein das Attribut „Hand Gottes“ aufklebte, aber viele Götter sind schmutzig, angefangen mit Zeus, dem alten Schwindler und Fremdgänger. Und viele Unterschiedsspieler haben Beziehungen zum Milieu, enden in Alkohol und Drogen.

Dennoch weinen sie über den kleinen Dicken wie über keinen anderen Fußballer, ja fast kann man sagen, keinen anderen Sportler. Warum? Nicht nur, weil Diego Maradona einer war, der etwas mehr Unterschied machte als alle anderen. Vor allem wegen der Art, in der er den Unterschied machte.

Die Geschichte des Fußballs kann man auch so schreiben, dass sein System, seine Art ihn zu trainieren und zu konzipieren, mehr und mehr darauf abzielt, diese Art von Spieler aus dem Spiel zu nehmen. Als ich als Bub begann, Fußball zu spielen, schien es mir nur darauf anzukommen: einer zu sein, der mit dem Ball den Unterschied macht, und alle anderen auf den Wiesen und Äckern sahen das genauso. Es gab sie, die Knochenbrecher, die Zerstörer, die Goikoetxeas (so hieß der Schlächter von Bilbao, der Maradona das Bein brach), aber auch sie waren Besondere, nicht Teil eines System zur Ausmerzung des Besonderen.

Heute kann selbst der dürftigste Sportreporter von einer Taktik berichten, es werde „gut gegen den Ball gearbeitet“. Fußball aber ist ein Spiel mit dem und für den Ball. Der Ball: diese Skulptur der Welt und der Absurdität, der vollendeten Schönheit und des völligen Nonsene.

Maradona war sehr klein, 165 Zentimeter, mit kurzen Hebeln, das gab ihm eine Wendigkeit wie wenig anderen. Er hatte selbst etwas von einem Ball. Kugelblitz pflegt man solche Spieler zu nennen. Manche Unterschiedsspieler ziehen den Ball an, andere halten souveräne Distanz zu ihm, manchen folgt er wie ein Hund, manchen gehorcht er vielleicht wie ein Falke, manchen klebt er am Fuß. Alle haben eine ganz persönliche Art ihn anzuziehen, zu behalten, zu dribbeln, zu passen. Aber keiner war selbst so ballartig wie Maradona.

Es gibt ein Video, wo man ihn aufwärmen sieht, den Ball jonglieren mit Füßen, Kopf, Oberschenkel Schultern. Zwischendurch vibriert sein Körper, seine Hüften, sein Hintern, er tänzelt geradezu obszön, wie eine Nachtclubtänzerin aus vergangenen Zeiten, als sie Quasten an die Brustwarzen klebten und stolz den Hüftspeck zeigten, und immer kommt die Energie aus der Einheit dieses rundlichen, hüftspeckigen Körpers mit dem runden Ball. Alte Videos verzerren den Körper oft genug noch in die Breite, als wollten sie den Eindruck von Ballhaftigkeit unterstreichen. Maradona gaberlt den Ball in immer neuen Varianten auf, es ist mehr als Porno, was wir hier sehen, es ist öffentlicher Sex mit dem Ball, erotisch bläst Maradona die Nüstern auf, bleibt ruckartig stehen, gibt sich eine neue Wendung zu neuen Tanzfiguren.

Er tanzte mit dem Ball, er liebte es auch im Spiel, auf den Ball zu steigen, ihn mit der Sohle zu drehen, ihn zum Teil seiner Drehbewegung zu machen, die mit unnachahmlich ruckartig engen Wendungen den Gegner umspielte, nicht ohne ihn vorher noch per Hüfttäuschung in die falsche Richtung zu schicken. Bei seinem berühmtesten Dribbling, ebenfalls gegen England bei der WM 1986, startete er an der Mittellinie, spielte sechs oder sieben Engländer aus, mit 44 Schritten und zwölf Ballberührungen ließ er sie stehen, sie rannten zwar wie verrückt, er aber, gottgleich, ließ sie stehen, bewegte sich projektilartig wie ein Bouncing Ball, schuf scheinbar Energie aus seiner eigenen Bewegung, die alle anderen erstarren ließ, während er selbst immer schneller wurde. Das hatte etwas Wunschtraumhaftes, Außerzeitliches, Gottgleiches, andere mit seiner Bewegung in Stein zu verwandeln, 44 Sprungballschritte, zwölf Ballberührungen, Tor.

Zu Recht wünschte er sich für seinen Grabstein die Aufschrift: Gracias a la pelota, Danke dem Ball. Diego Armando Maradona wurde nur sechzig Jahre alt, gestern haben sie ihn in Buenos Aires begraben.

Weiterhin: keep distance, wash hands, wear masks, stay human!

Ihr Armin Thurnher

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