Die Wiener Krankheit, einst und jetzt

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 252

Armin Thurnher
am 24.11.2020

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Auf das größte Problem sind wir in der Krise nicht vorbereitet, auf uns selbst. Mit sich selbst eingesperrt zu sein, der Lockdown aller Lockdowns, wer mag das schon. Ich zum Beispiel, wenn die Umstände passen. Ich darf diese Kolumne schreiben, dafür bin ich der Seuche wirklich dankbar. Ich brauche mich nicht an vorgegebene Längen zu halten, kann Thema und Format frei wählen und sogar zum Reim greifen, Kochrezepte bringen oder Sportberichte, wie es mir gerade passt.

Diese Kolumne ist eine Übung in Freiheit, außer – größtmögliche Unfreiheit – dass ich mir vorgesetzt habe, sie ein Jahr lang jeden Tag erschienen zu lassen. Danach sehen wir weiter. Ihr Hauptthema ist natürlich die Seuche, das Virus, die Krankheit. Wussten Sie übrigens, was die Wiener Krankheit ist? Medizinhistoriker wissen es natürlich, und als Abonnent der London Review of Books weiß ich es jetzt auch, von der in Oxford lehrende Historikerin Patricia Clavin. Sie schrieb dort einen Artikel über The Viennese Disease.

Die Bezeichnung Wiener Krankheit stammt von Siegfried Rosenfeld, Leiter der Gesundheitsstatistik im Volksgesundheitsamt. Gemeint war die Tuberkulose; fast jeder vierte Tote fiel ihr zu Beginn unseres Jahrhunderts zum Opfer. Tuberkulose und Typhus beschäftigten damals die Öffentlichkeit mehr und länger als die Spanische Grippe.

Die Umstände bei der Bekämpfung von Infektionskrankheiten bleiben lehrreich. Die hygienischen Entdeckungen des Ignáz Semmelweis, den Clavin umstandslos einen „ungarischen Arzt“ nennt, unseren Semmelweis, werden von der Weltgesundheitsorganisation noch immer als grundlegend angesehen. Sein praktischer Dreischritt „Erkennen-Erklären-Handeln“ bleibt das Modell für Strategien zur Verhinderung von Infektionen.

Außerdem war Semmelweis der mit der Handhygiene. Wenn Sie am Ende dieses Textes wie immer „wash hands“ lesen, denken Sie kurz an unseren ungarischen Arzt.

Ansteckung mit und Verbreitung von Krankheit war immer ein Krisenthema, und die vielen klugen Leute, die jetzt schon die Konsequenzen der Seuche kennen (und sich damit schon nach kurzer Zeit blamieren) sollten sich am ehesten Gedanken darüber machen, wie virale Kommunikation und emotionale Pest aller Arten auf eine Weise gebändigt werden können, die unsere Freiheit nicht beschädigt.

Verwundete 1914 vor der Rotunde

Foto: Wiener Stadt- und Landesarchiv

Seuchen kommunizieren. Die Kommunikation der Tuberkulose verlief über Verkehrsmittel. Clavin: „Revolution, Bürgerkrieg und Aufbau von Nationen führten zu einer Vertreibung der Massenbevölkerung, während die mitteleuropäischen Armeen nicht demobilisierten, sondern sich auflösten. Moshe Fuchs, ein jiddischer Schriftsteller und Journalist in Wien, beschrieb, wie das Kriegsende die Eisenbahnlinien und Bahnhöfe Mitteleuropas in Krankheitsüberträger verwandelte. Dicht gepackte Züge, Bahnsteige und Hallen waren mit den Körpern der Erschöpften, Verletzten und Sterbenden gefüllt, die Kleider der Ärzte und Krankenschwester, die sie betreuten, waren von Blut und Schweiß rot und schwarz befleckt.“

Vor Clavin hat der österreichische Historiker Wolfgang Maderthaner in seinem Aufsatz „Eine Stadt stirbt“ auf Rosenfeld und die Wiener Krankheit hingewiesen; er stellt heraus, dass die Lebensbedingungen in Wiener Arbeiterviertel so katastrophal waren wie jene in Internierungslagern.

Unter den Zeitgenossen griff der deutsche Medizinstatistiker Friedrich Prinzing das Thema auf, wie Soldaten und Verkehrsmittel die Seuche verbreiteten. Sein Buch „Epidemics resulting from Wars“ erschien in 1916 Oxford, wurde von der Carnegie Friedensstiftung weltweit verbreitet, trug 1920 zur Gründung der Internationalen League Epidemic Commission bei und 1921 zur Gründung der League of Nations Health Organisation, in gewisser Weise der Vorläuferorganisation der WHO.

Seuchen wurde damals durch Kriege verbreitet, heute eher durch Wirtschaft, Sport und Tourismus. Sie müssen deshalb in internationaler Zusammenarbeit bekämpft werden. China, da hat Trump einmal recht, erwies durch seine Intransparenz am Anfang dieser Sache einen sehr schlechten Dienst. Trumps Versuche, das Virus als „Chinese Virus“ umzubenennen, waren nicht besser. Vielleicht ahnte er schon, dass ihn Corona die Präsidentschaft kosten würde.

Ist es nicht tröstlich, dass der Wiener Arzt Rosenfeld gar nicht auf die Idee kam, die Tuberkulose zum Beispiel „russische Krankheit“ zu nennen? Er nannte sie nach dem Ort, wo sie schlimm wütete, wo er und andere gegen sie kämpften, nicht nach dem Ort der vermuteten Herkunft.

Man muss die staatlichen Coronabekämpfer erstens danach einteilen, ob sie international denken oder national. Zweitens danach, ob sie versuchen, für sich Rosinen herauszupicken, oder die eigenen Interessen hintanzustellen und gemeinsam zu lernen.

„Erkennen – Erklären – Handeln.“ Könnte gut sein, dass sich bei uns der Akzent so sehr auf das Erklären verlegt hat, auf mediales Brimborium, Message Control und Aufmerksamkeitsprofit, dass Erkennen und Handeln schweren Schaden nahmen. Das wäre keine neue Wiener Krankheit, dafür ist diese Seuche zu weit verbreitet, aber in Wien gedeiht sie zur Zeit besonders gut.

Weiterhin: keep distance, wash hands, wear masks, stay human!

Ihr Armin Thurnher

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