Neulich auf Twitter oder: Dichtexzess in Digi-Wichtelland
Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 246
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Sie werden mir gewiss nicht alle auf Twitter folgen. Ich hoffe ja, die Zahl meiner Bezugspersonen (so nenne ich insgeheim Leute, welche diese Kolumne beziehen) zur Zahl meiner Verfolgerinnen auf Twitter addieren zu dürfen. Bei diesen ich entschuldige mich im vorhinein dafür, dass ich Ihnen etwas erzähle, das sich kürzlich auf Twitter begab. Bei gleicher Gelegenheit begleiche ich eine alte Schuld.
Bekanntlich oder auch nicht bekanntlich (aber spätestens jetzt wissen Sie es) missbrauche ich den beliebten Kurznachrichtendienst, um Gereimtes zu veröffentlichen. Ich infiziere Twitter mit einer Art Lyrik und entwichtige es damit ein Stück weit. Twitter ist ja bekannt als Altar der hyperpersonalen Wichtigkeit, ich nenne es auch den digitalen Ich-Altar. Um nicht überzuschnappen, habe ich mir deshalb dort das Sprechen in der dritten Person verordnet.
Manchmal nenne ich diesen Kurznachrichtendienst auch den Wichtelaltar (sage ich natürlich nur, weil ich selbst dort bloß ein ganz kleiner Wichtel bin). Der berühmteste aller über ihr Maß hinausgewachsenen Twitter-Wichtel ist der Riesenwicht Donald Trump, der jetzt aufgrund seiner geballten Followerkraft damit spekuliert, ein digitales Konkurrenzmedium gegen den TV-Sender Fox-News zu gründen. Fox machte neben anderen Sendern Trump groß, vor allem neben NBC, auf dem die berühmte Show „The Apprentice“ („You are fired!“) lief. Trump regierte mit Hilfe von Fox, sieben Stunden am Tag glotzte er den Sender (im Kalender als „executive time“ geblockt). Und dann verriet ihn Fox und erkannte den Wahlsieg Joe Bidens an, den in Arizona sogar vor anderen Sendern.
Ich denke, die letzten Tage Trumps und seine sture Weigerung, die Wahl Joe Bidens zum Präsidenten zuzugeben, sind nur eine konsequente Fortsetzung seiner Präsidentschaft. Diese hat er ebenfalls nur als Geschäftsunternehmen aufgefasst, zum eigenen Vorteil und zu dem der Verwandtschaft. Die demokratischen Gepflogenheiten der USA sind ihm wurscht, beziehungsweise treibt er sie auf die Spitze und macht jetzt was für seine Marktanteile als digitaler Großwichtel, so bleibt er mächtig, so wird er reicher.
Man muss die amerikanische Politik nicht nur als Demokratiespiel verstehen, sondern vor allem als Business. Medienumsätze inklusive, darum haben auch die trump-kritischen Medien Trump groß gemacht, darum hat er wiederum ihre Gewinne groß gemacht. Naturgemäß auch die des Wichteldienstes. Manus manum lavat.
Wilhelm Busch in seinem bekannten Selbstporträt
Zurück zu Twitter: Als gestern der Verfassungsjurist und Polit-Ötzi Andreas Khol (ÖVP) wieder irgendwo ausaperte und ankündigte, SPÖ-Chefin Pamela Rendi Wagner „eine auflegen zu müssen“, twitterte Claus Pándi als Reaktion darauf „Nicht artig“, ein dreistrophiges Gedicht von Wilhelm Busch. Das traf Herrn Khol recht akkurat und animierte wiederum mich, eine vierte Strophe anzuschließen
Süß wallt der Weihrauch auf zum Segen
Ich reg mich auf, ich wag’s, jawohl,
der frechen Pam eins aufzulegen.
Ich, Kanzlers Anderl aus Tirol.
und eine fünfte. Dann meldete sich der Dichter Konrad Prissnitz und postete ein veritables Spontan-Sonett. Andere reimten sich ebenfalls ein, und am Schluss setzte ich noch ein sechstes Stropherl drauf. Es war ein poetisches Gemetzel, ein Fest des Endreims, ein Fanal der Formbeherrschung (das Sonett ist der Tweener der Dichtkunst, Reimschema zum Beispiel abba abba cdc dcd), sodass der atemlos am Spielfeldrand stehende Kolumnistenkollege Harry Bergmann nur mehr hervorstoßen konnte: „Dicht. Dichter. Am Dichtesten.“
Da hielt ich inne, und mir fiel Zweierlei ein. Zum einen, dass der arme Khol naturgemäß nicht zur Gewalt aufgerufen, sondern bloß metaphorisch gesprochen hatte (auch ich reihte mich lyrikberauscht in den Mänadenschwarm ein und trieb ihn bis zum Kotau, der natürlich – double shame on you, Khol! – prompt in Form einer Entschuldigung erfolgte. Hundertmal habe ich selbst gesagt, ich würde jetzt jemandem eine auflegen, und das nicht physisch gemeint).
Zum anderen erinnerte ich mich daran, dass ich Claus Pándi noch etwas schuldig war: die Übersetzung eines Gedichts der amerikanischen Nobelpreisträgerin Louise Glück. Der gute Mann, den ich einst – nicht zu Unrecht, wie sich nun zeigt – als „Ovid an der Salzach“ in der milden Panade meiner Satire wälzte, allerdings seiner Verbannung und nicht seiner Neigung zur Poesie wegen, entpuppt sich nun im Digi-Wichtelland als lyrischer Mitstreiter. Never say never, ich nehme es gerne hin, Dichtung ist eines jener Dinge, für das es sich zu leben lohnt, und nach denen suchen wir doch alle immer.
Glücks Gedicht ist nicht frohsinnig, man täte sich schwer, in ihrem Werk ein solches zu finden. Es handelt von einer Beziehung, die ein Sohn beschreibt. Telemachs Eltern sind bekanntlich Penelope und Odysseus, und sie stehen hier für jede Ehe, aber auch für jede Art der Fernbeziehung. Genug der Deutung, hier der Text, ich wünsche Ihnen allen einen schönen Tag damit!
Louise Glück
Telemachs Dilemma
Ich kann nie entscheiden
was ich schreiben soll auf
das Grab meiner Eltern. Ich weiß
was er will: er will
geliebt, was es
gewiss trifft, besonders
wenn wir all die
Frauen zählen. Aber
das lässt meine Mutter
im Abseits. Sie sagt mir
das macht ihr
gar nichts, sieht sich
lieber dargestellt
durch eigene Leistung. Mir scheint
es taktlos, beide daran zu erinnern
dass man die Toten nicht
ehrt, indem man ihre
Eitelkeiten verewigt, ihre
Projektionen von sich.
Mein eigener Geschmack erlegt
mir Genauigkeit auf ohne
Schwatzhaftigkeit; sie sind
meine Eltern, also
sehe ich sie zusammen,
manchmal neigend zu
Mann und Frau, dann wieder
zu widerstreitenden Mächten.
(aus: Meadowlands, 1996)
Weiterhin: keep distance, wash hands, wear masks, stay human!
Ihr Armin Thurnher