Wir bezahlen unsere Sommerferien mit Winterlockdowns!

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 237

Armin Thurnher
am 09.11.2020

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In Teil 2 seiner Miniserie zu Lockdown Zwo (hier Teil 1) beschreibt Virologe Robert Zangerle heute, warum es so kommen musste, und warum die Konzeptlosigkeit unserer Regierung sehr wohl mit schuld ist an der gegenwärtigen Misere.

»Wir bezahlen unsere Sommerferien mit Winterlockdowns! So beschrieb Devi Sridhar, Direktorin von Global Public Health an der Universität in Edinburgh, am 14. August in der New York Times den europäischen Sommer mit Massentourismus. Zu diesem Zeitpunkt hielt ich das für übertrieben, erst Anfang September dämmerte mir, dass ein „normaler Wintertourismus“ ohne vorigen Lockdown wohl kaum möglich sein werde.

Und als Rapid am 11. September vor 10.000 Zuschauern spielte, war ich zutiefst davon überzeugt, dass Österreich unfähig sein wird, rechtzeitig adäquat auf Covid-19 zu reagieren. Meine Freunde und Bekannten reagierten durchwegs von der Anti-Lockdown Rhetorik geprägt: niemals, das kann unsere Wirtschaft nicht verkraften. Verblendet durch diese politische Propaganda, wurde eine mögliche Überschreitung der Kapazität in der medizinischen Versorgung als allerletztes Warnzeichen ausgeblendet und in der Ampel unverschämt locker gehandhabt .

Manchmal habe ich diese Einschätzung in den Witz verpackt, dass der Lockdown eine Forderung von Ischgler Hoteliers werden wird, damit hatte ich wenigstens ein paar Lacher auf meiner Seite. Mich erinnerte das fatal an Anfang März, als niemand bereit war, rechtzeitig vor den Virusschleudern in den Skigebieten zu warnen.

Und jetzt haben wir den 2.Lockdown, weil offensichtlich die totale Überschreitung der Kapazität in der medizinischen Versorgung doch abschreckte. Unsere Verantwortlichen hatten/haben keinen wirklichen Langzeitplan, sie wollen nur das Schlimmste vermeiden („konzeptloses Köchelkonzept“). Aber Reagieren, wenn die Intensivstationen sich zu füllen beginnen oder die Todesfälle ansteigen, ist halt definitiv zu spät!

Die Verdoppelungszeiten der Belegung von Normalbetten, Intensivbetten und Todesfällen haben sich einander angenähert und betragen am 5. November rund 10 Tage und nicht 14 Tage, wie in der Zib1 vom Direktor des Complexity Science Hub Vienna geäußert. Möglicherweise wurden seine Modelle durch die vor 10 Tagen noch wesentlich längere Verdoppelungszeit, isoliert für die Belegung der Intensivbetten, vor Rätsel gestellt. Jedenfalls schreit die in den letzten 5-6 Wochen von den anderen Indikatoren abweichende und schwankende Verdoppelungszeit für Intensivbetten förmlich nach einem nationalen Intensivregister unter der Leitung der hierfür zuständigen Fachgesellschaften, um einheitliche Standards zur Vermeidung solch abweichender Erfassungen zu gewährleisten (Landespolitiker haben das im Frühjahr ohne erkenntliches Gegenargument abgelehnt). Eine Überlastung der Intensivstationen ist jetzt nicht mehr abzuwenden, ja, Sie haben richtig gelesen, „nicht mehr abwendbar“, aber eine folgenschwere Überschreitung der Kapazität der medizinischen Versorgung sollte durch einen ordentlich durchgeführten 2. Lockdown abgewendet werden können. Noch sind aber dringlich Defizite in der Bewältigung eines ordentlichen Lockdowns zu erledigen, vor allem, damit er nicht allzu lange verlängert werden muss.

Was alle wahrnehmen: wieso tragen die Handwerker keine Maske im Haus, wieso trägt ein Teil des Personal in Geschäften und anderswo die Maske so lässig unter der Nase, wieso verwenden viele sehr schlecht sitzende Masken, wieso haben so viele am letzten Wochenende noch Ausflugslokale dicht bevölkert und wieso waren am 2.November noch städtische Dampfbäder geöffnet? Wir wissen es nicht.

Ich würde den Sozialpartnern und der Regierung hier einen ordentlichen Teil der Verantwortung zuschieben und nicht einfach nur der allgemein beklagten Müdigkeit gegenüber Maßnahmen . Statt einer generellen Maskenpflicht plädiert die Industriellenvereinigung Ende August in einer gemeinsamen Erklärung der Sozialpartner für Eigenverantwortung und Freiwilligkeit . In den Gesprächen Ende Oktober mit der Bundesregierung konzentrierte man sich auf anderes: „Sozialpartner fordern mehr Staatshilfen“  und erst nach Beginn des Lockdown werden Einigungen, die eigentlich schon seit April Gültigkeit haben sollten, bekannt gegeben: „Sozialpartner adaptierten Baustellen-Corona-Schutz-Katalog“. Man vermisste ein klareres Bekenntnis der Sozialpartner zur direkten Verantwortung der Eindämmung der Pandemie. „Dort, wo Menschen im Büro arbeiten und es möglich ist, haben wir mit den Sozialpartnern vereinbart, auf Home-Office zu setzen“, so Bundeskanzler Sebastian Kurz, ohne aber ausreichend Hilfestellung und gesetzliche flankierende Maßnahmen beizusteuern, damit dies auch leichter geschehen könnte.

So argumentiert z.B. ein eher vorbildhaftes Unternehmen (deshalb anonymisiert) aus der Sicht der Binnenstruktur: „Da in vielen Bereichen, insbesondere für die in der XY-Straße verortete zentrale Verwaltung, die hygienischen Grundbedingungen (Mindestabstand von einem Meter, Masken tragen in öffentlichen Bereichen, Hände-Desinfektion, Lüften) gewährleistet werden können, möchten wir prinzipiell an der Arbeit am Dienstort festhalten.“ Das blendet die Außenstruktur aus. Während eines Lockdowns gilt es, die Summe aller Kontakte und das Ausmaß der Mobilität soweit als möglich einzuschränken, deshalb müsste hier die Durchführbarkeit, unabhängig von den bestehenden hygienischen Grundbedingungen, in den Vordergrund gerückt werden. Hier muss die Regierung nachschärfen.

Akuter Handlungsbedarf für die Regierung besteht auch in den Vereinbarungen mit den Religionsgemeinschaften. Hier ist der Wildwuchs an chaotischen oder fehlenden Regeln untragbar . Wir wissen nicht, was die staatlichen „Vorgaben“ beinhalten und wann sie zugänglich werden. „Zwischen den Religionsgemeinschaften und dem Kultusministerium wurde jüngst eine weitere Verschärfung der Corona-Schutzmaßnahmen vereinbart. Eine Konkretisierung dieser Verschärfungen für den Bereich der katholischen Kirche ist durch die Bischofskonferenz gerade in Ausarbeitung“, sagte Paul Wuthe, Pressereferent der Bischofskonferenz, Anfang November zum Standard.

Im Frühjahr, als es mehr als zwei Monate lang keine Gottesdienste gab, war dies eine freiwillige Selbstbeschränkung der Religionsgemeinschaften, die auf eine staatliche Vorgabe hin erfolgte. Erst durch eine Sendung Mitte Juni in Ö1 (Was sollen wir opfern in Zeiten der Corona-Angst?) wurde mir bewusst, dass die Verhältnismäßigkeit dieser Regel sehr in Frage gestellt und bitter beklagt wurden. In den kirchlichen Gemeinschaften rumorte es offenbar kräftig.

So erzählte mir ein Pfarrer über konservative Kreise in seiner Gemeinde, die  ein Offenhalten der Kirche im März/April aggressiv einforderten. Ein Teil der Gemeinde fiel sogar einer Verschwörungstheorie anheim, weil die von der Kirche selbst gewählten Verzichte („Maßnahmen“) „Teufelswerk“ seien. Er sah sich gezwungen, die Kirche richtig abzusperren. Doch das blieb immer Angelegenheit der örtlichen Pfarre. Es ist deshalb nachvollziehbar, dass von katholischer Seite nun die Wortmeldung „Die Kirchen bleiben offen. Alles andere wäre ein zu massiver Eingriff in die Religionsfreiheit“ kommt. Dies wird von vielen Kulturschaffenden und auch Journalisten als große Ungleichheit gesehen. Mein Vorwurf an die Regierung ist aber nicht die Ungleichheit. Ich finde den §15 Ausnahmen, Absatz 1, Punkt 4 Veranstaltungen zur Religionsausübung in der COVID-19-Schutzmaßnahmenverordnung akzeptabel, beklage aber sehr die Intransparenz und vor allem die riesige Verzögerung in den Vereinbarungen mit allen Religionsgemeinschaften von Seiten des Kultusministeriums. Es müsste doch möglich sein, epidemiologisch sinnhafte Maßnahmen rasch durchzusetzen.

Gedankensplitter zum Abschluss:

  • Ein Grund, weshalb wir jetzt mit strengen Maßnahmen vorgehen müssen, sind Versäumnisse beim Ausbau von TRIQ (Testen, Rückverfolgen, Isolation und Quarantäne), wo unmittelbar mit massiven Investitionen gegensteuert werden muss, inklusive umgehende Adaptierung des Epidemiologischen Meldesystems (EMS) im Sinne von erweiterten Kriterien, z.B. ob Betroffene(r) beim positiven Test sich bereits in Selbstisolation oder Quarantäne befindet. So kann sowohl das Infektionsgeschehen besser beurteilt, als auch die Qualität von TRIQ gemessen werden.

  • Zur Ermunterung für mehr Zivilcourage gegenüber dem verbohrten (beratungsresistent trifft es ja nicht ganz)  Minister Heinz Faßmann empfiehlt sich als Vorbild die Alexander-Coppel-Gesamtschule in Nordrhein-Westfalen. Dort wurde ein eigenes Konzept – Hybridunterricht – der Zwangsöffnung ihrer Schule, trotz rechtlicher Einschüchterung, entgegen gestellt https://rp-online.de/nrw/staedte/solingen/corona-solingen-schule-testet-hybrid-unterricht-trotz-verbot_aid-54426445.

  • Zur Handhabung von Masken empfiehlt sich der NDR

  • Im Augenblick fällt jeder 5. Test positiv aus (Positivitätsrate 20%). Das ist ein Hinweis auf eine erhöhte Dunkelziffer, was die Beurteilung des Infektionsgeschehens erschwert. Bei der Beurteilung, ob der Lockdown „wirkt“ ist also bei Positivitätsraten über 3-5% große Vorsicht angebracht.«

R.Z.

Weiterhin: keep distance, wash hands, wear masks, stay human!

Ihr Armin Thurnher

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