Es ist Zeit, dem Kanzler einmal für seine Leistung zu danken.

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 229

Armin Thurnher
am 01.11.2020

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Sonntagsmilde gestimmt, kommen mir Bedenken. Gehe ich mit der Krisenkommunikation des Sebastian Kurz zu streng ins Gericht? Habe ich vielleicht alles falsch verstanden? Nachdenklich sah ich seiner TV-Rede zu, und auf einmal wurde mir klar: er entschädigt uns. Für all die Kultur und Gastronomie, die er uns nun nehmen muss. Niemandem tut das mehr weh als ihm. Also schenkt er uns sich selbst als Aufführung. Gestern durften wir wieder einer Premiere beiwohnen, wo er in seiner Paraderolle als Kanzler Kurz glänzte. Sofort fielen mir brennheiß meine Invektiven vom frühen Morgen ein, und bitter und schnell wurde mir klar, was für eine monumentale Ungerechtigkeit ich an dem Mann begangen habe.

Er und alle anderen Kulturschaffenden haben es verdient, gerade in Zeiten wie diesen ihrer Leistungen wegen gewürdigt zu werden. Sie sind es, die uns zusammenhalten in finsteren und in hellen Zeiten, ihre Erscheinung durchzieht unsere finsteren, zugesperrten Tage mit dem hellen Nougat des Lichts am Ende des Tunnels, ihre Mimik macht uns froh, wenn wir verzagen, ihre Krawattenknoten lassen uns hoffen, wo uns alles hoffnungslos verknotet erscheint, ihre makellos schimmernden Firmlingsanzüge malen uns eine glänzende Zukunft aus, während man uns Kleinmütigen schon das letzte Hemd bügelt.

Man muss bewundern, wie diese vier bis fünf Seriendarsteller aus dem immergleichen Material und der immergleichen Besetzung, dem immergleichen Text, den immergleichen Kostümen und dem immergleichen Bühnenbild eine variantenreiche Aufführung zu machen verstehen, die uns immer wieder aufs neue berückt und entzückt. Ja, diese Inszenierung ist sogar in den Nebenrollen präzise durchgearbeitet.

Die Bilder mögen schrecklich sein, so sind sie doch auch schrecklich schön in der Monotonie dieses Einmarschs, im unerbittlichen, fast spanischen Zeremoniell der Wortmeldungen, im Mut, das Gleiche immer gleich zu sagen und uns Variantensüchtigen damit unser Schicksal vorzuführen, das uns alle gleiche menschliche Los.

Nord- und südliches Gelände. Ruht im Segen deiner Hände. TV-Ansprache, Sebastian Kurz als Kanzler Kurz

Foto @ ORF

Und jetzt das TV-Solo! Allein die Eröffnungsgeste! Als hätte Goethe nur ihn im Sinn gehabt, als er schrieb „Nord- und südliches Gelände. / Ruht im Segen deiner Hände“. Allein diese sanfte gestische Öffnung, die uns alle aufnimmt, ans Herz hebt, ohne übertrieben einladend zu wirken, er ist ja der Kanzler und steht über uns, was auch der Blickwinkel der Kamera unterstreicht, aber doch, er lädt uns zu sich, er weist uns nicht ab, er ist einer von uns, er leidet mit uns, er gibt uns Ruhe, er segnet uns.

Glauben Sie mir, sagt er, und der Ernst seines Blicks zeigt zugleich, wie beinahe kokett diese Bitte formuliert ist. Wie könnten wir ihm nicht glauben? Ihm, dem wir alles glauben, allein weil wir ihn immer und immer wieder als ersten sprechen sehen, sodass wir glauben, und bitte, das glauben wir wirklich, er sei der einzige, der befugt sei, uns zur Krise etwas zu sagen, und das ist er ja, wir haben ihn befugt, wir haben ihn gewählt und jetzt zeigt er uns, was er aus dieser Befugnis gemacht hat. Euer Unfug ist vorbei, soviel sagt er auch, der ernste Blick, leicht über die Schulter herab zu uns, und so erklärt er uns die Rätsel der Wissenschaft, sei es infektiöse Exponentialität oder exponentielle Infektiosität, so infiziert er uns mit seinem Wissen, seiner Verantwortung und seiner Fürsorge.

He, ihr da unten, sagt er, ihr kennt mich, ich wäre nicht hier, hätte ich euch nicht Unpopuläres und Unangenehmes auch zu sagen. Ich bin, glaubt es mir, euer angenehmer Mann fürs Unangenehme. Ich bin nicht euer Wohlfühlkanzler. Ich fühle mich nicht wohl. Ich tue bloß alles, damit ihr euch wohlfühlt, ich schließe Routen, spare bei Europa, sammle Silbersteine für euch, privatisiere das euch alle doch bloß belastende gemeinsame Eigentum, versorge die Notdürftigen mit Posten und halte die Unnötigen wie den Nationalratspräsidenten, auf dass auch sie nicht Not leiden. „Und glauben Sie mir, das alles ist nicht immer leicht“, sagt der zentrale Satz seines Texts.

Aber bei sich denkt er, lieber würde ich Sobotka und allen diesen Flaschen um mich herum, vor allem diesen flaschengrünen Flaschen zurufen, was wirklich in meinem Herzen brennt, nämlich ein herzhaftes: YOU ARE FIRED! Aber, um ein Lieblingswort seines genialen Librettisten Fleischmann zu verwenden, das wäre zu massiv. Onkel Donald und der Darsteller des Kurz sind zwar aus gleichem Holz geschnitzt, aber die kulturellen Umstände sind zu verschieden. Dieser Kurz mag zwar denken und fühlen wie sein ferner Onkel, aber er handelt und redet anders. Wir hier packen das Virus nicht by the pussy, wie jener sagen würde. Wir sind keine sinnlichen Allesfresser wie ER. Wir leisten Verzicht.

Und auch jetzt werden wir wieder auf vieles verzichten müssen, was unser Leben ausmacht, auf Freizeitgestaltung, Kultur, Sport, aber auch auf die Gastronomie. Ja, meine Damen und Herren, lautet Kurz’ Text, Sie alle sind gefeuert, aber nur gefegefeuert, wir sind ja in Österreich, nur auf Zeit, aus dem Fegefeuer im Tunnel holen mein Vater und ich Sie ja bald wieder heraus.

Man verliert sich in Einzelheiten, versucht man die vielfältigen Andeutungen und Insinuationen dieses Spitzenmannes zu beschreiben, aber seine Mimik ist so reich, dass man all das und mehr aus ihr lesen kann. So tapfer sich die Chargen auch bemühen, ihren Rollen Kontur zu verleihen, sie haben es einfach schwer gegen die Charakterisierungskunst dieses Stardarstellers, dieses Krisenriesen, dieses Sängers des Verzichts. Er spielt sie an die Wand und treibt das Publikum zur Raserei.

In der Höhe schwächelt seine Stimme manchmal ein wenig, gewiss, aber diese Kickser sind vielleicht nur ein dramatischer Kunstgriff, uns in Spannung zu halten, uns mitbangen zu lassen, ob dem Kanzlerdarsteller die Stimmbänder vor Spannung, Verantwortungsschwere und Dramatik den Dienst versagen. Herzenswärme und Leichtigkeit seines Konversationstons helfen uns über die bangen Momente hinweg.

Bühnenbild und Kostüm halten sich dezent zurück, das Grooming ist perfekt wie immer, nichts lenkt uns ab vom klaren, festen Blick dieses Darstellers, der uns innehalten und auch an jene anderen denken lässt, die noch viel schlimmere Krisen erleben als wir, die Kinder im Schlamm von griechischen Inseln, die im Mittelmeer ersaufenden Flüchtlinge, die abzuschiebenden Asylsuchenden. Ja, das alles anklingen zu lassen, aber nicht anzusprechen, uns klarzumachen, wie gut es uns geht, weil wir nämlich ihn haben, der uns das alles vom Leib hält, der dafür sorgt, dass alles weiterhin so bleibt, auch wenn nichts so bleiben kann, das ist eine große Leistung.

Die Abschließung von allem Bösen entschädigt uns für die Schließung aller Bühnen des Landes mehr als man es sagen kann. Vor allem auch, weil wir wissen, diese Vorstellung geht immer weiter. Dieses Theater bleibt offen bis zuletzt. Wir haben abzubitten und zu danken.

Weiterhin: keep distance, wash hands, wear masks, stay human!

Ihr Armin Thurnher

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