Corona: Je später Maßnahmen gesetzt werden, desto ungerechter werden sie. 

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 228

Armin Thurnher
am 30.10.2020

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Virologe Robert Zangerle von der Med-Uni Innsbruck schreibt in dieser Kolumne regelmäßig Beiträge, etwa einmal die Woche. Alle seine Aussagen haben sich bisher als richtig erwiesen. Hier sein Update zur Lage. Das Imperial College London hat übrigens die Corona-Sterblichkeit neu berechnet, schreibt er mir. Die von John Ioannidis kolportierte Zahl von 0,23 Prozent trifft zwar zu. Aber nur, wegen deren Altersstruktur, auf Entwicklungsländer (low income countries). In Industrieländern, zu denen auch Österreich gehört, beträgt die Sterblichkeit bei Corona 1,14 Prozent.

»Es ging im vergangenen Sommer darum, die Fallzahlen tief zu halten (unter 100), damit wir mit einem guten Polster in die kühle Jahreszeit gehen könnten. Das war die hier lange vorgeschlagene Strategie. Leider ist dies nicht gelungen. Der exponentielle Anstieg seit Juni hat eine klare Gesetzmäßigkeit, und dass die Epidemie OHNE umfassendere Maßnahmen wieder außer Kontrolle geraten wird, war spätestens im September klar (>500 Fälle, Testpositivität >5%).

Dass die Situation genau anfangs Oktober entgleiste, sagte zwar niemand so voraus, aber eine Überraschung war es nicht.

Besonders verhängnisvoll waren die verharmlosenden Stellungnahmen aus Politik und Wissenschaft in der scheinbar „stabilen Phase“ zwischen 21. und 28. September, weil unsere Beruhiger immer wieder von stabilen Verhältnissen auf hohem Niveau sprachen und davon, dass es gelungen sei „die Situation unter Kontrolle zu bringen“. Wir sollten endlich „mehr Normalität wagen“. Und, um mit dem Virus leben zu lernen, gelte es mit „relativ einfachen Maßnahmen“ die Menschen bei der Stange zu halten.

Das Problem mit den hohen Fallzahlen bei Covid-19 Maßnahmen ist in vielen Köpfen noch nicht angekommen. Maßnahmen beeinflussen die Ansteckungsrate, nicht die absolute Zahl an Ansteckungen. Um die Anzahl der Ansteckungen stabil zu halten, brauchte es bei 40 Ansteckungen pro Tag die gleichen Maßnahmen wie bei 4000 pro Tag. Wenn mit Maßnahmen zugewartet wird, landen wir deshalb auf einem höheren Ansteckungsniveau. Mit den gleichen Maßnahmen, später gesetzt, werden auf lange Sicht mehr Leute pro Tag sterben, als hätte man mit den gleichen Maßnahmen früher begonnen. Wenn man – wie jetzt – Fallzahlen aber herunterbringen will,  weil mit den derzeit erwartbaren Fallzahlen die Kapazität der medizinischen Versorgung gefährdet ist, muss man strengere Maßnahmen treffen, als nötig gewesen wäre, hätte man sie früher schon auf auf tieferem Niveau getroffen und die Fallzahlen konstant gehalten. Damit Fallzahlen schrumpfen, braucht es einschneidendere Maßnahmen, als um sie konstant zu halten. In der jetzigen Phase zählt jeder Tag. (Dieser Absatz zitiert großteils wörtlich die Schweizer Gesundheitsökonomin Dina Pomeranz, Link oben.)

„Die Maßnahmen, die erfolgt sind, sind nicht die, die ich mir erhofft hatte“, so ähnlich stand es zwar öfters in dieser Kolumne, das Zitat stammt aber vom Immunologen Michael Meyer-Hermann, Helmholtz-Zentrum in Braunschweig, anlässlich der matten Maßnahmen vom 14. Oktober in Deutschland. Auch Angela Merkel war sehr enttäuscht. Zwei Wochen später wurden einstimmig wesentlich schärfere Maßnahmen beschlossen. Deutschland hat bei Fällen, Krankenhaus- und Intensivbettenbelag weniger als die Hälfte Betroffene als Österreich. Bei den Todesfällen verlieren wir gerade die letzten Vorteile, die wir im Frühling noch hatten.

Österreichs Regierung fehlt jetzt ihr „Glück“ vom 12. März (Tag der Sitzung), wo die Bilder aus Italien gemeinsam mit dem Druck der vielen Warnungen aus den nordischen Ländern eine Puntklandung von harten Maßnahmen ermöglichten. Und langsam dämmert es allen, dass die Einschätzung über den Bedarf von Krankenhaus- und Intensivbetten schon wieder falsch war. Während die Überschätzung im März/April nachvollziehbar war, kommt jetzt Ärger auf, wenn die wöchentliche Vorausschau daneben liegt. Die Prognose vom 21.10. sagt für 28.10. etwa 970 Covid-19-Patienten in Normalbetten und knapp 200 in Intensivbetten voraus. Tatsächlich standen wir am 28.10. bei 1345 in Normalbetten und 224 in Intensivbetten.

Politiker stehen vor der schwierigen Aufgabe, Maßnahmen zu finden, welche „wirken“, aber gleichzeitig die gesellschaftliche Disruption minimieren. Statistiken der Nachverfolgung (Contact Tracing) werden immer wieder verwendet, um für oder gegen den Einsatz von bestimmten Maßnahmen zu argumentieren.

Je später Maßnahmen gesetzt werden, desto ungerechter werden sie. „Kürzlich im angesagten Restaurant: Der Laden ist gerammelt voll, Adressangaben sind wohl nicht nötig, draußen stehen die Gäste Schlange. Innen ist es eng, der Abstand zum Nachbartisch dezent. Gelten in dieser badischen Kleinstadt andere Regeln? Der Abend mit den Verwandten wurde heiter, doch eigentlich hätte man gehen müssen. Hinterher Reue über die eigene Unvernunft; zum Glück hat sich niemand angesteckt. Einige Tage zuvor war in einem anderen Restaurant zu sehen, wie es richtig geht: Name und Telefonnummer mussten eingetragen werden, Tische im Abstand von mehr als zwei Metern, Kellner trugen Mundschutz, es gab Spender mit Desinfektionsmitteln, immer wieder öffnete jemand ein Fenster. Die beiden Beispiele zeigen, wie unterschiedlich Gaststätten und Restaurants mit den Zumutungen der Pandemie umgehen“, schreibt die Süddeutsche Zeitung. Ähnlich weit auseinander liegende Beispiele gibt es zuhauf aus vielen Freizeit- und Kultureinrichtungen. Die deutsche Regierung hat jedoch erklärt, viele dieser ungerechten Schließungen finanziell auszugleichen. Anders geht es nicht.

Das Robert-Koch-Institut hat soeben seine Cluster Analyse vorgestellt, und schon wird sie als Grundlage genommen, um gegen bestimmte Maßnahmen zu argumentieren. Restaurants und Gaststätten hätten nur einen minimalen Anteil am Ausbruchsgeschehen. In seinem Lagebericht nennt das RKI vielmehr private Haushalte, den Arbeitsplatz und Freizeitaktivitäten, zudem Altersheime und Kliniken.. Aber vergessen wir nicht, diese Statistiken sind unausgewogen, zuweilen verzerrt, beim RKI ganz besonders, weil nur etwa ein Viertel der Covid-19 Fälle einem Ausbruch zugeordnet werden kann.

Unsere Grundlagen sind Clusteranalysen der AGES, wo bekannte Übertragungsszenarien aufgeschlüsselt sind, in denen die Haushalte für einen großen Anteil der Übertragungen verantwortlich sind.

Quelle: AGES

Dabei ist jedoch zu bedenken, dass die Haushalte am leichtesten nachzuverfolgen sind. Hingegen ist es praktisch unmöglich, zuverlässiges Tracing im öffentlichen Verkehr, beim Einkaufen usw. durchzuführen. Infektiologe Christoph Wenisch am 28.10. in der ZiB2: „Ansteckung war im Privaten, das bedeutet nichts anderes, als ich weiß es nicht“.

Ob Übertragungen in Restaurants, Bars, bei privaten Versammlungen, Familienfesten etc. erfasst werden, hängt sehr stark von der Strategie der „test-and-trace“ Verfahren und von der Stärke des Bemühens ab („recall bias“, „conformation bias“). Während die Haushaltskontakte wichtig und leicht nachverfolgbar sind, so sind sie aber auch – einleuchtendereweise – sehr schwer zu vermeiden. Jede Haushaltübertragung beginnt mit einer Infektion außerhalb des Haushalts!

Dieses Argument darf deshalb nicht als Vorwand für Untätigkeit verwendet werden. Wir kennen doch viele Faktoren, die die SARS-CoV-2 Übertragung erleichtern: hohe Dichte (Menschenansammlungen), Innenräume, schlechte Be- und Entlüftung, lautes Sprechen und Singen. Diese Faktoren sind wahrscheinlich bessere Leitlinien als die Tracing Statistiken (zumindest in vielen Ländern.)

Die Grafik täuscht nicht nur wegen des vorher Gesagten ein scheinbar klares Bild vor. Dieses Bild hat noch einen entscheidenden zusätzlichen Haken: nicht einmal die Hälfte der gemeldeten Covid-19 Fälle können in Wien einem Ausbruch zugeordnet werden. Auch nach vielen Wochen heißt es ganz euphemistisch: „in Abklärung“.

Quelle: AGES

Quelle: AGES

Und für ganz Österreich ist es nicht viel besser: Die Vorstellung, dass es einen Zielkonflikt Gesundheit – Wirtschaft gebe, hält sich hartnäckig. Empirische Studien und theoretische Überlegungen (mit all den Unsicherheiten inmitten einer Pandemie) zeigen, dass es einen solchen Zielkonflikt vielleicht kurz-, nicht aber mittel- und langfristig gibt. Eine gesunde Wirtschaft setzt gesunde Menschen voraus. Kurzfristige Zielkonflikte werden immer mehr zum Gegenstand von Tauschgeschäften (Tradeoffs).

Nehme wir das Beispiel Schule. Bei hoher Verbreitung in der Bevölkerung können Schulen immer wieder zu Orten der starken Verbreitung von SARS-CoV-2 werden. Ganz abgesehen davon, dass sich zwischen Schulschließung und normalem Schulbetrieb ein großes Feld erstreckt (häufig nicht optimal genutzt!), gibt es ganz andere Strategien: Um Schulen nicht schließen zu müssen, benötigt es andere, sehr starke Maßnahmen, um die Verbreitung der Infektionen zu bremsen. Etwas, was Irland schon vor längerem gemacht hat, und was jetzt Deutschland macht. Sind wir in Österreich für solche Tauschgeschäfte gerüstet? Eher nicht, wenn man sich die trotzige Entscheidung der Sozialpartnerschaft gegen Masken am Arbeitsplatz in Erinnerung ruft , die auch die Basis für die katastrophale, weil viel zu halbherzige Auslagerung ins Home Office bildete.«

R.Z.

Weiterhin: keep distance, wash hands, stay human!

Ihr Armin Thurnher

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