Erster Geburtstag auf Twitter. Meine Geburt war lustiger.

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 218

Armin Thurnher
am 21.10.2020

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Was mache ich in dieser Kolumne? Ich schreibe gegen den Tod. So sinnlos, wie das meiste, das man im Leben tut.

Vorgestern hatte ich ersten Geburtstag. Ein Jahr auf Twitter, wie kann man sein Leben so verpfuschen? Als ich vor ein paar Wochen bei meiner 101 Jahre alten Mutter in Begenz auf Besuch war, sprachen wir beim Frühstück über meine Geburt. Sie löste nebenbei das Kreuzworträtsel der Vorarlberger Nachrichten, ich twitterte ein bisschen und fotografierte sie, ohne dass sie es merkte.

Ich kam im Schlafzimmer der Eltern zur Welt, in einem Wirtshaus, dem Gasthaus Zoll an der Lauteracher Brücke in Bregenz. Es war ein schönes Fachwerkhaus aus mariatheresianischer Zeit mit radiziertem, also im Grundbuch eingetragenen Gastgewerbe.

Der Großvater hatte es gepachtet und erwarb es in den 1920er Jahren auf Kredit von der Stadt Bregenz. Die Inflation war sein Glück, denn wenn er mit seinen Kollegen auch aus der Eisenhandlung Pircher, wo er untertags arbeitete, mit dem Lohn über die Gasse rannte, um beim Metzger Umundum Hartwurst zu kaufen, weil das Geld eine Stunde später nur mehr halb so viel Wurst wert war, so schwand doch die der Stadt geschuldete Summe wie nichts, und er war stolzer Eigentümer eines Wirtshauses.

Dort arbeiteten die Großeltern jeden Tag, Großmutter kochte und kellnerte, Großvater fuhr in der Früh mit dem Fahrrad in die Stadt, kam nach 18 Uhr die vier Kilometer aus der Stadt geradelt, zog die Schürze an und stand hinter der Schank, bis um Mitternacht zugesperrt wurde. Kein Ruhetag.

Manchmal kamen Dornbirner Fabrikanten spätnachts aus Bregenz und wollten etwas essen. Sie klopften und mussten, wenn die Großeltern aufstanden und aufsperrten, Champagner trinken. Der war ausschließlich für diesen Zweck im Keller in Stroh gelagert. In diesem Stroh brachten die Katzen ihre Jungen zur Welt, deswegen hieß der Champagner im Wirtshaussprech „Katzenjüngler“.

Eine Geburt war ein Ereignis, das sich die Stammgäste nicht entgehen ließen. Sie saßen in der Stube und warteten auf mich. Lange mussten sie warten, fast zwölf Stunden. Während mein Vater oben meiner Mutter das Kreuz massierte, spielten sie unten Karten, tranken und rauchten. Es ging sich nicht aus, dass ich ein Sonntagskind wurde. Knapp daneben. Ich kam am Montag um Ein Uhr früh.

Arzt war keiner zugegen, dafür aber die Hebamme, das sogenannte Agathle (auf der ersten Silbe zu betonen). Das Agathle wiederum war eine Tochter des Vetter Alewise (ebenfalls auf der ersten Silbe), des ältesten Bruders meines Großvaters (er hatte elf Geschwister). Alewise war ein respektgebietender Patriarch. Er trug einen weißen Silberbart, der in meine Kindheit hineinglänzte wie die Bärte von Kapuzinern, die Säcke voller Ringlein dabei hatten, aus denen Kinder sich eines aussuchen durften, wenn die Eltern spendeten, oder der Bart des Thomas Meier, eines entfernten Verwandten in St. Gallen, der ebenfalls manchmal besucht wurde.

Sie hingen in hölzernen Kammern herunter, diese Bärte, in die von oben Sonnenstrahlen brachen und um ihren Silberglanz Staubpartikel tanzen ließen wie einen Flor, und rundum war warmes Dunkel, unheimlich-heimeilig wie diese Silberbärte, Alptraumfährte, ungewohnt gewohnt wie der Mond, Alewise, was soviel hieß wie Alois, aber im Dialekt bedeutend besser klang, wie eine silberne Mondlichtwiese. Ein Original warst du, Alewise, auch Angst machte dein silberner Bart ein bisschen, und nie hattest du auch nur ein einziges Ringlein in deinem Sack, nicht einmal ein unknuspriges Kekslein, einen diese lahmen Neapolitaner, die man von anderen Alten bekam. Meine Erinnerung klebt an diesen Bärten wie ein Speiserest.

Das Agathle war eine stattliche Frau, gesucht als Hebamme. Alle wollten das Agathle, wenn es ans Gebären ging. Dass es zu meiner Mutter kam, war klar, man war verwandt. Das Agathle erschien in der Früh, als die Wehen einsetzten, lachte und sprach, es gehe gleich wieder und komme dann am späten Nachmittag. Da sei Zeit genug. Das Agathle wusste, wovon es sprach. Der Vater blieb geduldig, er war bei der Geburt dabei, Arzt gab es keinen, das machte man damals so, und die Minna Krepper, die Frau vom Richter Krepper, von dem ich später ein paar Strindberg-, Stendhal- und Krausbände erbte, Klaviernoten von Schumann und Brahms und ein schönes Geschirr mit kobaltblauem Rand von Villeroy & Boch, war auch in der Nähe. Die Minna war sehr neugierig, lief als erste hinauf ins Zimmer, als die Nachricht da war und rief, als sie mich sah: Das Kind hat ja ein richtiges Gesicht! Na hoffentlich, sagte meine Mutter, selbst im Kindbett nicht aufs Maul gefallen.

So war das bei meiner Geburt, erzählt die Mutter. Bei meiner Twittergeburt hängten sich am ersten Tag mehr als tausend neugierige Follower an meinen Account an, sodass ich kurz dachte, bald bin ich so groß und stark wie Armin Wolf. Ich bin aber nicht einmal in der Nähe von Florian Klenk, Barbara Tóth, Nina Horaczek oder Claus Pándi. Gerade einmal Hazeh Strache habe ich geschnupft. Soeben retweetete er etwas Stumpfsinniges von Roger Köppel.

Muss man den Geburtstag von so etwas feiern? Früher, als ich mich von derlei fernhielt, erklärten mir Wohlmeinende, Twitter sei ein Debatten- und Informationsmedium, wer nicht dabei sei, sei nicht. Das zweite stimmt. Aber sie verschwiegen, dass, wer dabei ist, nicht mehr bei sich ist.

Meine Mutter ist übrigens nicht auf Twitter. Aber jedesmal, wenn ich ein Foto von ihr poste, habe ich durchschlagenden Erfolg. Über das Foto mit dem Kreuzworträtsel wird sie sich beschweren, wenn sie es auf ihrem iPad sieht. Sie schaut wirklich viel besser aus! Deshalb gebe ich ein zweites dazu, von ihrem Geburtstag heuer. To be born again. There you go.

Weiterhin: keep distance, wash hands, stay human!

Ihr Armin Thurnher

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