„Vulnerable schützen“ – ein Strohmannargument der „Herdenimmunität“? Die „neue Normalität“ und ihre schlechten Vorbilder

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 216

Armin Thurnher
am 18.10.2020

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Noch immer wissen wir über  Corona vor allem, dass wenig aufgeklärt ist. Nur eines ist sicher, sagt Virologe Robert Zangerle von der Meduni Innsbruck: Beschwichtigungen, von wem auch immer, sollten wir nicht glauben. Er empfiehlt konkrete Maßnahmen. Skepsis und Vorsicht bleiben angebracht!

Viele Leser dieser Kolumne werden von den jetzigen Entwicklungen der Verbreitung von Covid-19 wohl genau so wenig überrascht sein wie ich. Auch wenn sich Mathematiker trefflich darüber streiten ob wir im exponentiellen Wachstum sind oder nicht, ist es doch glasklar, dass das exponentielle Wachstum schon seit vielen Wochen greift, aber mit Unterbrechungen. Dann sprechen unsere Beruhiger aus Politik und Wissenschaft immer wieder von stabilen Verhältnissen auf hohem Niveau und dass es gelungen sei „die Situation unter Kontrolle zu bringen“ . Wir sollen endlich „mehr Normalität wagen“. Und, um mit dem Virus leben zu lernen, gelte es mit „relativ einfachen Maßnahmen“ die Menschen bei der Stange zu halten.

Von solchen Positionen ist es nicht weit bis zur Strategie einer Herdenimmunität, die den weniger Vulnerablen „Normalität“ zusichern will und gleichzeitig die Devise ausgibt, dass die Vulnerablen zu schützen seien („focused protection“) . Eine solche Strategie ist eine reine politische Position, ohne irgendeinen wissenschaftlichen Hintergrund und auch ethisch unhaltbar. Ganz abwegige Stellungnahmen, wie, der ganze Staat werde lahmgelegt, nur um „die wenigen, die es betreffen könnte, zu schützen“, richten sich von selbst, das wird selbstverständlich auch von der Medizinischen Universität Wien als Arbeitgeber so gesehen.

Wenn alle sich schützen und geschützt werden, sind auch die Älteren am besten geschützt, keine Gesellschaft hat das anders hinbekommen. Wie gut wurden ältere Menschen in den letzten Wochen geschützt? Bereits Ende September konnte ich zeigen, dass innerhalb weniger Wochen, ausgehend von einer stärkeren Verbreitung der SARS-CoV-2 Infektion in der jüngeren Bevölkerung, sich zunehmend Ältere infizieren. In der folgenden Grafik werden die 7-Tages Inzidenzen mit einem Abstand von einem Monat verglichen, dabei wird die zunehmende Ausbreitung in die ältere Bevölkerung besonders deutlich.

Quelle: AGES

Zur wirklichen Beurteilung der Fallzahlen von Infektionen mit SARS-CoV-2 fehlt immer noch die Positivitätsrate für die verschiedenen Altersgruppen (Länder ringsum machen das!). Wir wissen nicht, ob Jüngere jetzt weniger getestet werden und Ältere mehr, oder umgekehrt. Ältere, und Vulnerable zu schützen mag oft gut gemeint sein, der Schutz dieser Personengruppen über eine längere Zeit hinweg ist kaum, extrem schwierig, oder nur mit harschen Maßnahmen, erreichbar. Nicht selten stecken hinter Schutzmaßnahmen bloß rigide Besuchsrestriktion oder gar Besuchsverbote. Rufe nach FFP2 Masken für diese Personengruppe verhallen ungehört.

Wenn man die Gesamt 7-Tages-Inzidenz der Bundesländer vor einem Monat der 7-Tages- Inzidenz bei 85-Jährigen und Älteren von heute gegenüberstellt, sieht man eindrucksvoll, wie gerade die Ältesten in relativ kurzer Zeit vom Virus betroffen wurden. Allein ein Dutzend größerer Cluster in Pflegeheimen wurden im letzten Monat beobachtet. Vorarlberg fällt in dieser Zusammenstellung besonders auf, weil dort die Ältesten von der derzeitigen „Welle“ verschont bleiben. Ich bin im unklaren ob in Vorarlberg besonders viel und lange anhaltendes Glück dazu beigetragen hat, dass unter den Ältesten so wenige Infektionen zu finden sind, oder ob sie doch in der Lage waren, diese Altersgruppe effektiv zu schützen. Noch wird eine Antwort gesucht.

Quelle: AGES

„Offenbar besteht bei manchen der Eindruck, die aktuell rapide steigenden Infektionszahlen hätten, anders als vor einigen Monaten, keine Auswirkungen auf die Spitals- und Intensivkapazitäten. Diese Annahme wäre aber ein fataler Irrtum“, sagt der Intensivmediziner Klaus Markstaller (Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Anästhesiologie ÖGARI). Als Argument wird angeführt, dass die Behandlungsmöglichkeiten heute besser seien (stimmt marginal) und dass das Virus weniger gefährlich geworden sei (stimmt nicht) .

Die Argumentation, dass jetzt alles anders sei, wurde weltweit monatelang bis zum Überdruss ständig wiederholt. Selbst jetzt, wo klar wird, dass die Versorgung auf Intensivstationen bereits im Laufe des November kritisch zu werden droht, hört man noch solche Verharmlosungen. Die vorerst niedrigere Rate an Hospitalisierungen und Todesfällen konnte durch die Altersstruktur erklärt werden.

Die kürzeste Verdoppelungszeit an Hospitalisierungen betrug Ende März 5 Tage, ebenso der Belag der Intensivstationen. Ende September betrug diese Zeit bei den Hospitalisierungen 15 Tage und bei den Intensivstationen 16 Tage, aktuell liegen beide Zeiten bei knapp 28 Tage, sodass Luft für die Planung der Allokation  bleibt.

Weil die Verunsicherung der Bevölkerung bei hohen Fallzahlen auch für die Gesellschaft lähmend wirkt, wurden wir alle aufgefordert, endlich das Starren auf die täglichen Falzahlen gefälligst einzustellen. In der Kolumne wurde das immer so gehandhabt, hier wurden sogar Vorschläge gemacht, welche Zahlen vernünftig wären, um beurteilen zu können, ob alles „unter Kontrolle“ sei. Tatsächlich gibt die Rate der Hospitalisierung einen guten Überblick über die Versorgung und hilft, die Fallzahlen einzuordnen.

Quelle: Erich Neuwirth

Bei den Todesfällen sind gleich mehrere Verzögerungen zu berücksichtigen, bei sehr hohen Fallzahlen fallen auch Hospitalisierungen von „Jüngeren“ ins Gewicht, ihre Sterblichkeit bleibt aber vergleichsweise niedrig, der Tod tritt durchschnittlich ein bis zwei Wochen nach der Aufnahme ins Krankenhaus auf, und nicht zuletzt gibt es bei den Todesfällen im Vergleich zu den SARS-CoV-2 positiven Fällen eine größere Verzögerung beim Melden (durchschnittlich einige Tage bis eine Woche). Deshalb darf die jetzt noch niedrige Rate an Sterbefällen nicht täuschen. In den letzten vier Wochen wurden trotzdem 113 Covid-19 Todesfälle erfasst.

Worin die jetzigen Fallzahlen und das daraus wachsende Risiko, dass die Lage plötzlich kippen kann, begründet sind, kann nicht eindeutig beantwortet werden. Folgende Hypothesen sind zu diskutieren:

  • ab einer gewissen Zahl von Fällen häufen sich Superspreading-Events

  • das kühle Wetter, das die Leute nach drinnen treibt, und/oder

  • ein Contact-Tracing, das zunehmend an den Anschlag kommt

Je weiter zugewartet wird, umso drastischere Maßnahmen müssen später ergriffen werden und umso teurer wird es. Für diesen Winter für alle Regionen längst dringlich fällig:

  • generelle Maskenpflicht in allen Innenräumen – auch in Büros und in Schulen (auch während des Unterrichtes).

  • Arbeit im Home Office wo immer möglich.

  • Das Contact-Tracing sollte unbedingt beibehalten werden und sollte auch durch den Zivildienst verstärkt werden.

  • Vermehrtes Lüften und Adaptierung von Lüftungsanlagen bei Einsatz von CO2-Meßgeräten

Seien sie skeptisch, wenn wieder einmal behauptet wird, dass es da – „da“ kann überall sein – „noch nie einen Cluster gegeben habe“. Als ob das der Wahrheit entspräche! Fast die Hälfte der Ansteckungen ist unaufgeklärt, nicht 35 Prozent wie von der Corona Kommission verlautbart. Die 35 Prozent sind bloß eine Schätzung, weil Wien das Privileg hat, diese Zahl schätzen zu dürfen.

Ein italienischer Abgeordneter weigerte sich am 15. Oktober, eine Mundschutzmaske zu tragen. Daraufhin schnappten mehrere Parlamentarier ihren Kollegen und trugen ihn – auf allen Vieren liegend – rasch aus dem Saal des Senates. . Gleichzeitig bleiben im österreichischen Parlament Abgeordnete, die Maske tragen eine Minderheit, offenbar die meisten tief beeindruckt von den teuren, aber eher nutzlosen Plexiglasscheiben („Spucknäpfe 2020“). Und dann sollen wir uns wundern?

Weiterhin: keep distance, wash hands, stay human!

Ihr Armin Thurnher

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