Donner, Blitz und Poesie. Und ein Selfie.

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 214

Armin Thurnher
am 16.10.2020

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Man muss sich von sich selber nicht alles gefallen lassen, lautet ein berühmter Satz des österreichischen Psychiaters Viktor Frankl. Man muss die übelfreien, die übelkeitsfreien Zonen in seinem Leben möglichst groß halten. Was bedeutet, österreichische Politik nicht überhandnehmen zu lassen und sich dem zuzuwenden, wofür es sich zu leben lohnt. Musik. Kunst. Dichtung. Menschen, die man mag.

Kollege Klenk stellt unlängst ein Bild auf Twitter und Facebook, es zeigte uns beide, ein Selfie. Das Echo verblüffte ihn. Tausende signalisierten ihre Zuneigung. Zwei Generationen einer Zeitung, Vorgänger und Nachfolger schalkhaft grinsend auf einem Bild. Das brachte, was ich „Narzissmusdusche“ nenne, goldene Schauer von Likes und meist freundlichen Bemerkungen.

Mir fielen zum Bild drei Distichen ein, das sind Strophen, die einen Hexameter mit einem Pentameter kombinieren und gern dazu benützt werden, Wehmut auszudrücken.

© Florian Klenk

Bildnis zweier lächelnder Männer

Rühret der Anblick des lächelnden greisen Hauptes manche?

Vielen scheint fern diese Zeit. Tönungsshampoo, und nie

machet das Schicksal sie weiß oder nimmt ihnen gar den Schopf. Die

Frauen schenken derweil Blicke dem jüngeren Mann.

Was zeigt das Selfie wirklich? Langsam aus der Erscheinung

zieht sich der linke im Bild. Abdrückend vorkommt der andere.

Man sollte sich nie auf die Kraft der Bilder verlassen. Bilder, bewegte oder unbewegte, sind kein Ersatz, nur eine Möglichkeit, die gleiche Geschichte noch einmal anders zu erzählen. Ich hätte auch berichten können, wie das Bild entstand, wo es aufgenommen wurde, wie Wetter und andere Umstände waren.

Irgendetwas in mir will Verse produzieren, und ich sehe keinen Grund, ihm nicht nachzugeben. Mit zunehmendem Alter geht mir nichts so sehr auf die Nerven wie all die Versuche, risikofrei zu schreiben.

Als Kinder saßen meine Schwester und ich in der Küche bei den Großeltern. Die wohnten im ersten Stock. Hatten keinen Fernseher, nur ein Kofferradio, das kaum je lief. Im Winter gab es manchmal, sehr selten eine Orange. Großvater holte sein Taschenmesser heraus und schälte die Orange vorsichtig mit der kleinen Klinge. Er zog die Schale spaltenartig ab, ließ sie aber am Ansatz zusammenhängen, sodass eine Art Blüte entstand. In die Blüte stellte er den Stumpf einer Christbaumkerze. Klappte die Spalten der Schale hoch, zündete die Kerze an und schaltete das Licht aus.

Auf dem Tisch stand ein strahlendes Wunder, das die Gesichter von Großeltern, Mutter und Kindern orange-golden erleuchtete. Es war still und andächtig. Dann begann die Großmutter zu rezitieren. Sie war eine einfache Kellnerin, Köchin und Wirtin, und sie konnte Gedichte auswendig. Wenn sie anfing, nein, anhub zu deklamieren, änderte sich ihre Stimme. Auf einmal schien sie zu singen, zu tremolieren, im Stil von Schauspielerinnen aus dem 19. Jahrhundert, von denen wir keine Ahnung hatten.

Ohne es benennen zu können, merkten wir, da war Bezug, da war Stil, da war Hintergrund, was immer er war (mehr als Volksschulbildung hatte sie nicht). Urahne, Großmutter, Mutter und Kind / in dunkler Stube versammelt sind, sang die Oma. Das Gedicht endete fatal, der Blitz schlug in die Stube, alle waren tot. Es war kein gutes Gedicht. Uns war es gleich. Es war spannend, es hatte einen Knalleffekt. Wir wollten Gereimtes, Gedichtetes, Aufgesagtes hören, und Großmutter und Mutter konnten Balladen genug.

In der Schule riss der Faden. Das müsste nicht so sein, denke ich. Louise Glück, die frisch gekrönte Literaturnobelpreisträgerin, ist ebenso wie Bob Dylan Teil einer poetischen Kultur, die in den USA von Schule über College und Universität in alle anderen Kulturen eindringt, ob Avantgarde oder Pop, Malerei oder Musik, und sich so lebendig hält.

Den schönsten Text über Frau Glück schrieb übrigens Dietmar Dath in der FAZ  „Das amerikanische Englisch der letzten hundert Jahre bis zur Gegenwart war und ist eine Weltsprache, deren lyrische Dimension sowohl lockende Dunkelheit (Djuna Barnes), auratische Rumpelkammern aus Marmor (Ezra Pound), schlecht aufgewärmten, aber toll vorgetragenen französischen Symbolismus (Jim Morrison), kosmopolitische Menschenfresserdämonie (die Lyrik des großen, bösen Frederick Seidel) als auch eleusinisches Genuschel (Bob Dylan) umfasst.“

Weil er gerade erwähnt wurde, stelle ich schnell noch die Übersetzung eines Gedichts von Frederick Seidel hierher, die ich vor ein paar Jahren machte, weil mich sein Gedicht so stark berührte. Spätestens in der letzten Strophe werden Sie merken, warum.

                                   Weiße Schmetterlinge

I

Clematis paniculata süßt die eine Seite der Howard Street.

Weiße Schmetterlinge flattern paarweise über den weißen Blüten.

In weißen Kimonos, glucksend und flüsternd

kichern die Schmetterlinge und wedeln mit ihren Seidenfächern,

Spätsommer-Kohlweißlinge, in weißen Paaren.

Süße Herbst-Klematis füttert Parfüm an diese zarten Seelen.

Ich weiß noch, wie wir uns kennenlernten, so scheu.

II

Vier Monate Dürre auf dem East End enden.

Zehntausend Scheibenwischer wischen die Tränen weg.

Die Straßen sind schwarz.

Der Ozean rennt herum, bellend unter dem köstlichen Regen, so glücklich.

Traditionelle Reinigungsmittel polieren die kaiserlichen Palastböden

des Himmels, fleckfrei. DONNER. Sauberkeit und Ordnung

bringen weltweit Frische und Vernunft ins Reich. BLITZSCHLAG.

III

Nie in meinem Leben hatte ich einen ernsthaften Gedanken in Gibson Lane.

Ein Mann, der sich in seine Brennasche verwandelt, steht am Ufer.

Früher ging ich mit meinem Hund an diesem Ufer.

Heute Nachmittag musste ich ihn einschläfern.

Jimmy, mein Bub, mein süßer Bub, mein Jimmy.

Es ist Nacht, und draußen vor dem Haus, um elf,

schalten sich die Rasensprenger ein im Regen.


Weiterhin: keep distance, wash hands, stay human!

Ihr Armin Thurnher

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