Als die Lyrik-Lady und der Boxer gemeinsam dichteten

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 212

Armin Thurnher
am 14.10.2020

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Heute nehme ich mir die Freiheit, nichts zum parteiischsten, unmöglichsten, untragbarsten Nationalratspräsidenten dieser Republik zu sagen. Von dem lasse ich mir den Ö-1-Feiertag der Lyrik (75 Jahre Du holde Kunst) nicht versauen. Lesen Sie zum Beispiel hier und hier und hier, was ich vor kurzem zu ihm sagte. Demnächst wird er sicher wieder in meine Gasse stolpern. Heute verschonen wir uns mit diesem Ärgernis.

Als der amerikanische Dichter Ben Lerner in der Schule ein Gedicht zum Auswendiglernen auswählen musste, wählte der Schlaukopf das kürzeste Gedicht, das er finden konnte. Es war das Gedicht „Poetry“ der amerikanischen Modernistin Marianne Moore, einer sehr speziellen Dame, von der man am wenigsten erwarten würde, dass sie als Baseball-Fan in die Geschichte einging. Im Jahr 1968, als ich New York ein Jahr lang mit meiner kaum bemerkten Anwesenheit beehrte, warf sie im Alter von 81 Jahren den Ball zur Eröffnung der Baseball-Saison der New York Yankees. Ein gern dokumentierter  Event. Sie selbst verglich Baseball mit Schreiben:

Fanaticism? No. Writing is exciting

and baseball is like writing.

You can never tell with either

how it will go

or what you will do;

generating excitement

Falls jemand glaubt, Lyrik sei ein zurückgezogenes, weltabgewandtes Geschäft, so mag das zutreffen, was den Akt des Schreibens betrifft. Die Lyriker und Lyrikerinnen selbst sind es ganz und gar nicht. Baseball war auch die Passion von Donald Hall, der diesem Sport berühmte Baseball-Gedichte widmete, in denen er Baseball-Innings mit den Stufen des Alterns gleichsetzte.

Moores kurzes, auswendig zu lernendes Gedicht ging so:

Poetry

I, too, dislike it.

Reading it, however, with a perfect

contempt for it, one discovers in

it, after all, a place for the genuine.

Der junge Lerner hatte sich schwer verrechnet. So kurz es war, so schwer ließ es sich merken. Er brachte es nicht zustande, es korrekt vorzutragen, denn das sperrige „it“, die „Poesie“ stellt sich in diesem Gedicht dem Poesiehasser in den Weg, sie stellt ihm ein Haxl, und so konnte er, der seine Verachtung zum Ausdruck bringen wollte, nicht anders als über dieses Haxl zu stolpern und am Ende selber zum Dichter werden.

Gedicht

 Auch ich mag es nicht.

Jedoch, es lesend, mit völliger

Verachtung für es, entdeckt man,

es enthält einen Ort für das Echte.

Man sieht, was in Übersetzungen alles verlorengeht. Doch sind sie eine wichtige Übung. Was Dichtung unter anderem attraktiv macht, ist die Möglichkeit, sich in ihr einen Überblick über die Weltliteratur zu verschaffen. Man kann ein Lebenswerk an einem Tag studieren, in einem Monat man mit einem Land fertig sein. Mit Romanen ginge das überhaupt nicht.

Andererseits merkt man bei Lyrik schmerzlicher als bei Prosa, wieviel bei der Übersetzung verloren geht und wie wenig man dazu gewinnt. Lost in Translation. Am Schlimmsten soll es aus dem Russischen sein; man hört diese Dichter ihre Verse bellend deklamieren und wird von einem Feuergeist erfasst, der sich in der Übersetzung als lahmes Flämmchen darstellt. Zu Unrecht natürlich. Puschkin, Achmatowa, Mandelstam, Pasternak, Brodsky! Was einem da entgeht. Man lernt immerhin, dem Entgangenen nachzuspüren.

Ben Lerners Essay heißt „On disliking Poetry“ und handelt vom notwendigen Scheitern aller Dichtung. Naturgemäß lässt sich von dieser Perspektive niemand abhalten, es dennoch zu versuchen.

Marianne Moore und Muhammad Ali im Winter 1967 in New York

Foto © John Lindsay AP

Wenn ich schon Marianne Moore und den Sport genannt habe, sollte ich erwähnen, dass der Gründer der Zeitschrift Paris Review, George Plimpton, ein großer Sportreporter und Sportschriftsteller war. Er brachte Moore und Muhammad Ali zusammen und schrieb darüber einen legendär gewordenen Bericht. Vor allem aber geschah es bei diesem Zusammentreffen, dass Moore und Ali gemeinsam ein Gedicht schufen, eine Art Sonett, jeder eine Zeile. Es ging um den kommenden Gegner Alis, den Schwergewichtler Ernie Terrell, und das kam dabei heraus:

The Annihilation of Ernie Terrell

After we defeat Ernie Terrell

He will get nothing, nothing but hell,

Terrell was big and ugly and tall

But when he fights me he is sure to fall.

If he criticize this poem by me and Miss Moore

To prove he is not the champ she will stop him in four,

He is claiming to be the real heavyweight champ

But when the fight starts he will look like a tramp

He has been talking too much about me and making me sore

After I am through with him he will not be able to challenge Mrs. Moore.

Lesen Sie mehr Lyrik!

Weiterhin: keep distance, wash hands, stay human!

Ihr Armin Thurnher

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