Drama Epos Physis. Dominic Thiem verliert im Pariser Viertelfinale

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 205

Armin Thurnher
am 07.10.2020

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Dominik Thiem ist ein supernetter Typ. Der einzige von den aktuellen Superstars, der es annähernd verdient, Roger Federers Nachfolger genannt zu werden. Sie schlagen alle unglaubliche Bälle, aber kein anderer erreicht die Wucht und das Tempo, mit der Thiem Vorhand wie Rückhand übers Netz treibt. Keiner außer Roger hat so wenig Ticks, Macken und Flausen.

Antiklimax. Thiem wird Paris wieder nicht gewinnen. Gestern verlor er im Viertelfinale. Man hatte bei der Gratulation wirklich das Gefühl, der freut sich für seinen Freund, den Argentinier Diego Schwartzman, der nach mehr als fünf Stunden den harten Fünfsatzfight gewann. Schwartzmans Glamour ist entwicklungsfähig. Beim Fußball wäre er der krummbeinige Außendecker, Typus Stefan Lainer, bestenfalls der beinharte knorrige Mittelfeldmann, der seinem Gegner klettenartig anhängt und ihn bissig abmontiert. Thiem hingegen: der elegante Spielgestalter, der auch Tore machen kann.

Dominc Thiem gratuliert seinem Freund Diego Schwartzmann

Foto APA-AFP © Thomas Samson

Schwartzmans Outfit erinnerte an die Biene Maya. Dementsprechend fleißig spielte er. Diese Bosheit gibt mir der Unmut über Thiems Niederlage ein. Sie war verdient, weil man das ganze Match über das Gefühl hatte, ihm fehlte die letzte Kraft. Zwar mochte man Ende des dritten Satzes meinen, sie kehrten zurück, die Kräfte. Aber Thiem hätte ein schnelleres Ende gebraucht. Und sie verließen ihn. Natürlich störte ihn der Wind, es war zu sehen, dass die eine Seite günstiger war, mit dem Wind wurden mehr Punkte gemacht, und am Ende verlor Thiem das Match mit einem Stopp gegen den Wind und ins Netz.

Wenn er zu seiner sonst übliche Länge der Schläge fand, zwang er Schwartzman dazu, Fehler zu machen; sonst wehrte sich der geschickt, setzte seine Angriffe gut genug, um mit beachtlichen Volleys zu punkten, und verteidigte so zäh, dass man das Gefühl hatte, Thiem müsse jeden Ball dreimal töten, wenn man das heute noch sagen darf (ich spiele seit Jahrzehnten nicht mehr).

Wäre es nicht Schwartzmann gewesen, wäre Thiem schneller auf den Punkt gegangen; die vielen hinübergesäbelten Backhandslices wären ihm von Nadal oder Djokovic um die Ohren geflogen, er hätte mehr riskieren müssen und wäre in jenen Risikobereich gegangen, den er jetzt zu selten erreichte. Nichtsdestrotrotz gelangen ihm einige seiner unwahrscheinlichen Bälle, die geradeaus gezogene Backhand longline, die Vorhand Inside Out, die kurze Vorhand Cross oder einmal aus der Defensive eine Vorhand so genau die Longlineecke, dass Schwartzmann, der an fast alles herankam, nur verwundert nachschauen konnte.

Der Wind war vielleicht mit Schuld daran, dass Thiems erster Aufschlag nicht regelmäßig kam; Schwartzmanns Aufschlag verdient es ja nicht gerade, eine Waffe genannt zu werden. Der Wind sorgte für häufige Rahmentreffer, die den Ball unters Dach steigen ließen. Nieselregen zwischendurch machte die Bälle nicht schneller. Thiem unterliefen viele unerzwungene Fehler. Weil Schwartzmanns Nerven nicht hielten, gab er Satz zwei und drei an Thiem ab, aber als er sich den vierten holte, obwohl auch Thiem seine Chancen hatte, war es vorbei. Thiem gewinnt in vier, hatten die Experten des ORF noch im dritten verkündet; die Experten bei Eurosport wussten, was es bei Thiem physisch geschlagen hatte. Die Art, wie er eine Backhand weit neben die Linie legte, die Art, wie Schwartzmann eine lange Powerrallye mit einem gefühlvollen Volleystop abschluss, ließ nichts Gutes ahnen.

Der einzige, der wie immer nichts ahnte, war der Kommentator des österreichischen Fernsehens. Er bleibe heute ungenannt, aber er ist in jeder Sportart ein Ärgernis aufgrund seines hurrapatriotischen Feldwebeltons, kombiniert mit fachlicher Sehschwäche. Hier erklärte er uns im Dialog mit dem Experten, Thiems Fitnesstrainer werde viel zu tun haben nach dem Spiel, um ihn gegen Nadal fit zu bekommen. Mehrfach nannte er – stolz über seine intimen Kenntnisse – den Namen des Fitnesstrainers, eine zu diesem Zeitpunkt völlig irrelevante Information. Dann wieder bewarb er einen Doppelkurs, den der Experte demnächst anbietet. Er zwang diesen, den peinlich berührten Doppelspezialisten Alex Peya, in ein Pläuschchen, während Dominic und die Biene Maya um die ersten Games im Entscheidungssatz kämpften. Dass Thiem verlieren könnte, was sich für jeden abzeichnete, der zusah, kam dem Kommentator nicht in den Sinn. „Es bleibt spannend“, bellte er, als Thiem gerade seinen Aufschlag verlor. Wenig später: „Thiem steht mit dem Rücken zur Wand“. Er stand mitten im Platz. Und als Krönung aller Spannungsaufbaukünste kam der unvermeidliche Ruf: „Wie schwierig ist das jetzt?“

Es war nicht schwierig, es war beim Zustand von Thiems Physis unlösbar. Er legte leichte Bälle ins Aus, suchte zu frühe Lösungen, schlug auch den letzten Ball als Stopp von hinten ins Netz, was man beim Matchball so eher nicht täte, wäre man bei Kräften.

Aber lassen wir das. Gratulieren wir Diego Schwartzmann zu seiner Leistung. Und gratulieren wir Dominic Thiem zu seinem fairen Auftritt. Dem Gegner ohne Maulen Punkte zu geben, die gut waren, auch wenn es der Linienrichter nicht sah, das war, als ich Tennis spielte, normal. Heute mutet es außergewöhnlich an. Bei vielen Ungustln an der Spitze dieses Sports wird man es nicht sehen. Thiem und Schwartzmann behandelten einander wie feine Kerle, und die Gratulation Thiems fiel am Ende freundschaftlich und herzlich aus.

Anders als viele kann er nicht nur gewinnen, sondern auch verlieren.

Ich sage das nicht ganz gern, aber vielleicht fehlt ihm im Vergleich zu Nadal noch der fanatische Wille, wirklich jeden Punkt zu machen. Bei manchen Rallyes hatte man gestern das Gefühl, er lasse sich fast ins Schupfen zwingen; das war gegen Zwerev im Finale von New York so, das war gegen Stoppkönig Gaston so, und das war – auf anderem Niveau – auch bei mancher Rallye mit Schwartzmann so. Dabei bewundern wir gerade seinen Mut, bei entscheidenden Schlägen entschlossen draufzuhauen. Lag’s am Wind, an der Fitness, an der Geistesfrische, am verstimmten Magen? An der Überstunde mit Ügo, Le Roi du Stopball?

Egal, er wird auch das verbessern und hoffentlich unter normalen Umständen einmal Paris gewinnen (oder öfter). Denn er ist nicht nur ein feiner Kerl, er ist möglicherweise zu Zeit der beste Tennisspieler der Welt. Aber er muss weitermachen. Schon kommt Jannik Sinner.

Weiterhin: keep distance, wash hands, stay human!

Ihr Armin Thurnher

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