Bericht eines Überlebenden vom Pariser Achtelfinale Thiem – Gaston
Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 203
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Das Herz macht was durch, wenn man Dominic Thiem zuschaut. Gestern spielte die Nummer 3 der Welt gegen Nummer 239, gegen den französischen Newcomer Hugo Gaston (20), der zuvor den Schweizer Stan Wawrinka geschlagen hatte. Mit 6:0 im fünften Satz, es war unglaublich. Der kleine Franzose, keck und sympathisch, hat ein paar gute Schläge, der frechste ist der Stopp. Damit zog er dem 35jährigen dreifachen Grand-Slam-Turniergewinner Wawrinka den Nerv, der wusste nicht mehr, was er tun sollte. Schlug leichte Bälle ins Netz, die Hand versagte, der Schlumpf war da.
Gegen diesen Gaston sollte Thiem spielen. Er hatte Wawrinka erwartet. Nun kam der kleine Franzose, den würde er verjausnen. Er trat an und begann ihn zu verjausnen. Zuvor konnte man auf Eurosport besichtigen, wie der 19jährige Südtiroler Jannik Sinner Sascha Zverev abfertigte, Thiems Finalgegner von New York. Sinner schlug derart coole, regelmäßig druckvolle lange Bälle, dass der Deutsche, durch eine Erkältung gehandicapt, wenig dagegensetzen konnte. Starker Wind beeinträchtigte das Spiel. Begann hier ein Zwergenaufstad?
Dann kam Thiem. Er begann unsicher, bei Wind. Regenpause, das Dach wurde geschlossen, damit herrschten ideale Bedingungen für ihn. Er spielte jetzt wie in den Runden zuvor, kontrollierte jeden Ball, druckvoll, präzise, gewann ohne mit der Wimper zu zucken Satz eins und zwei. Da und dort versuchte der Franzose, einen Stopp einzustreuen. Aber Thiem servierte kontrolliert, mit seinen Grundschlägen konnte Hugo Gaston nichts anfangen, noch nie war er mit solcher Wucht konfrontiert, er spielte mit einer Wildcard das erste Mal bei einem Grand Slam Turnier. Die Sache schien gelaufen.
Und wieder so ein Stopp, den er ins Aus schiebt…
Foto APA © Martin Bureau
Dann kam Satz Drei. Plötzlich gelang Gaston jener Schlag, mit dem er Wawrinka entnervt hatte. Der Stopp. Aus jeder möglichen und unmöglichen Situation spielte er ihn, über zwanzigmal. Und achtzehnmal hatte er damit Erfolg. Weil bei Thiem plötzlich der Schlumpf im Arm saß. Er erlief die meisten Stopps, was normalerweise bedeutet, er macht den Punkt. Diese Bälle schupfte er nicht cross zurück, mit Unterschnitt, wie gegen Nadal vor einem Jahr beim unvergesslichen Halbfinale in New York. Er schob sie, und er schob sie ins Aus. Immer wieder. Man sah, wie der Schlumpf ihm erst in den Arm fiel und dann am Ellenbogen lähmte. Hinaus, zu lang, auf die Seite. Kein einziger Gegenstopp. Dann ließ er sich am Netz ausmanövrieren. Dann spielte Gaston hohe Bälle, die immer wieder an der Grundlinie zu Boden fielen. Wie Lobs, ohne jemanden zu überlobben. Und Thiem schlug sie hinaus. Den ersten Satzball von Gaston nahm er mit seinem Sicherheitsschlag, dem Backhandslice. Und säbelte ihn ins Aus.
Man konnte von seinen Lippen etwas wie „kein Gefühl“ lesen. Er wirkt platt, sagten die Eurosport-Kommentatoren. Dreizehn unerzwungene Fehler gegen vier des Gegners. Schnell verliert Thiem Satz vier.
Das erste Spiel im fünften Satz beendete Thiem bei eigenem Aufschlag mit einem Stopp. Aber im nächsten Spiel verlor er den ersten Punkt wieder mit einem Stopp des Gegners, Wenigstens schob er ihn ins Netz und nicht hinaus. Dann erlief er einen und brachte ihn mit Topsin ins Feld. Dann erlief er wieder einen, aber Gaston passierte ihn mit vollem Risiko. Dann noch einer. Stopp, Lob, das hatten wir früher mit Gegnern gespielt, die wir häkeln wollten. Dass so etwas mit Thiem geht, hätte niemand gedacht. So ein frecher Hund, dieser kleine Franzose.
Wawrinka hatte im fünften Satz den Verstand an die Schlümpfe abgegeben. Thiem zweifelte an sich. Aber er spielte weiter, suchte seinen Druck, fand ihn. Schlug besser auf, machte schnelle Punkte. Zu schnell fast. Bei 15:40 stoppte er einen hohen Ball aus der Luft mit gefühlvoll dem Rist und gaberlte ihn ein paarmal auf, als wollte er zeigen, He!, die Schlümpfe sind um mich herum, aber ich lasse sie nicht aufkommen.
Inzwischen musste ich meine Nerven mit Bier beruhigen. Endlich einmal schupft er den Stop nicht lang ins Nirgendwo, sondern spielt ihn cross als Gegenstopp und fetzt dann statt zu passieren dem Gegner auf den Körper. So ginge es! Dann wieder schiebt er den dritten Stoppball hintereinander, den er locker erlaufen hat, hinten hinaus. Ohne Drall, ohne Schnitt. Schlumpfig. 2:2. Thiem lockt Gaston vor, und statt ihn zu überlobben, schlägt er den Ball ins Netz. 50 zu 25 Winner für Thiem zu diesem Stand, aber die unerzwungenen Fehler … Dann wieder Powertennis. Ein erster Aufschlag, und er führt 3:2. Aber auch Gaston kann Tennisspielen, greift an, Thiems Backhand longline kommt nicht. Dann schlägt er einen Ball unerzwungen ins Netz. Greift er sich an die Leiste? Ein Return geht ins Aus. Es steht 3:3.
Das siebente Game, man mag darüber lachen. Wir hielten es immer für wichtig, zumal bei 3:3. Thiem serviert stark. Durchquälen, um weiterzukommen, sagt der Kommentator, und Thiem quält mich mit dem ersten Rückschlag ans Netzband. Hat er es zu eilig, geht’s ihm schlecht? Dann wieder eine Vorhandrakete ins Eck. Und wieder ein Stopp von Gaston. Thiem läuft gar nicht mehr hin, er würde ihn eh rausschieben. Clever. 30:30. Mit einem ersten Aufschlag macht er den Punkt. Dann hechtet Gaston in den zweiten Aufschlag und macht einen Winner draus. Und Thiem antwortet mit einem Gegenstopp, dem 44. Endlich. Den 45. fetzt er Backhand longline rein. Endlich. Kann der kleine Gaston nicht Nerven zeigen? 4:3 Thiem.
Dann wieder Stopp, Gegenstopp, aber ohne Spin. Den kriegt Gaston leicht an Thiem vorbei. Schon wieder einer, es ist Nr. 47, und Thiem tötet ihn nicht, dafür wird er locker überlobt. Nr. 48 ist ein schlechter Stopp, und Thiem haut ihn weit raus. Nie im Leben würde ihm das sonst so passieren. Dann hetzt er Gaston hin und her. Mit dieser Grundschlagwucht kann der dann doch nicht mit. Einstand. Die Vorhand inside out ins Eck. Vorteil Thiem.
Stopp Nr. 50 fällt ins Netz. Break zum 5:3. Thiem serviert aufs Match. Zwei Smashes braucht er für einen Punkt. 15:0, Gaston attackiert wieder im Kampfsprung per Backhand den Zweiten. Sein nächster Stopp fällt ins Netz. 30:15. Alles geht doch nicht. Zweiter Aufschlag. Ein Doppelfehler Thiems führt zum Breakball. Ich lüge nicht, ich habe das gespürt. Schlumpf pur. Dann 1. Aufschlag, inside out Vorhand, ins Eck, Matchball. Es folgt kein schlechter Angriff, aber Gaston passiert Thiem longline auf die Linie. Unfassbar. Der Kleine spielt wie in Trance. Zweiter Matchball. Gaston schlägt ihn ins Netz. Das war’s.
Eine Tonne fällt von Thiem ab. Und von mir und von Tennisösterreich. Thiem kann auch gewinnen, wenn er zu verlieren scheint. Gibt nie auf. Ich hatte große Angst, es verschrieen zu haben, wie man sagt. Auf Twitter hatte ich ihn „den vermutlich besten Tennisspieler dieser Tage“ genannt. Ich bleibe dabei.
„Thiem hat eine Stunde zu lange gespielt“, sagte Boris Becker. Fand ich auch. Hauptsache, er spielt weiter. Im Viertelfinale wartet Diego Schwartzmann. Wir schauen jetzt von Spiel zu Spiel.
Weiterhin: keep distance, wash hands, stay human!
Ihr Armin Thurnher