Fürchtet sich Österreich mehr vor Reisewarnungen als vor den Gesundheitsfolgen von COVID-19?

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 197

Armin Thurnher
am 29.09.2020

Abonnieren Sie Armin Thurnhers Seuchenkolumne:

Was ist los? Gerät alles außer Kontrolle? Oder ist alles eh ganz harmlos? Alles im Griff, und das Hauptproblem der Fremdenverkehr?

Virologe Robert Zangerle von der Uni Innsbruck hilft, die Pandemie-Lage zu verstehen. Entwarnung kann nicht gegeben werden.

Heute lesen Sie Teil I seines virologischen Doppelpacks; Teil II folgt morgen hier.

»Die Covid-19-Fallzahlen gehen seit vielen Wochen langsam, aber unerbittlich wieder nach oben. Gerät die Pandemie demnächst außer Kontrolle? Werden sich schon bald die Intensiv­stationen wieder füllen? Was wird jetzt passieren, wenn sich das Leben wieder häufig in schlecht belüfteten Innen­räumen abspielt? Das Bedrohungsszenario ist sehr konkret und zappenduster. Politik und Behörden haben in einer seltsamen Mischung aus Hektik und Passivität sehr lange die Dinge ihren Lauf nehmen lassen.

VORSICHT! Wurde die epidemiologische Gefahren­lage vielleicht zu Recht gelassen bewertet? Unterliegen die Reisewarnungen zahlreicher Länder für immer mehr Regionen Österreichs einer Fehleinschätzung? Handelt es sich gar um „moderne Wirtschaftskriegsführung“, wie es der Obmann der Sparte Tourismus in der Tiroler Wirtschaftskammer Mario Gerber  ausdrückte ? Es gehe nicht nur um die Gesundheit der Bevölkerung, sondern auch um die Arbeitsplätze. Der Tourismus sei Teil der Identität des Landes, so Bundeskanzler Sebastian Kurz. „Wir müssen runter mit den Neuinfektionen“, schließlich wolle Tirol auch runter von der deutschen „Liste“, damit „wir eine ordentliche Wintersaison haben“ präzisierte Landeshauptmann Günther Platter .

Die epidemiologische Gefahrenlage wird offensichtlich unterschiedlich bewertet. Das Ausbleiben der Gäste infolge von Reisewarnungen wird als Katastrophe empfunden, während die Gesundheitsgefahren durch den Anstieg der Covid-19 Fälle in den letzten beiden Monaten ganz offenbar nicht als dramatisch eingeschätzt wurden. Der Intensivmediziner Klaus Markstaller (Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Anästhesiologie ÖGARI) sieht das auch so: „Offenbar besteht bei manchen der Eindruck, die aktuell rapide steigenden Infektionszahlen hätten, anders als vor einigen Monaten, keine Auswirkungen auf die Spitals- und Intensivkapazitäten. Diese Annahme wäre aber ein fataler Irrtum.“

Die Zahl der Todesfälle ist wirklich sehr klein, weshalb sich tatsächlich die Frage stellt, wieso momentan die Sterblichkeit so erfreulich tief liegt. Im Wesentlichen gibt es drei Erklärungsansätze:

  1. Die Behandlungsmöglichkeiten sind heute besser

  2. Das Virus hat mutiert und ist weniger gefährlich geworden.

  3. Die Altersstruktur der Covid-19 Fälle ist inzwischen anders als im Frühjahr, sie sind deutlich jünger, und entsprechend tiefer liegt die Sterblichkeit.

Huldrych Günthard, Professor für klinische Infektiologie am Universitätsspital Zürich, „Wir haben keinen Gamechanger“, man sei noch nicht so weit, die Mortalitätsrate auf wirklich einschneidende Weise senken zu können. Zwar senkt Dexamethason (Kortisonpräparat) die Sterblichkeit bei Patienten, die Sauerstoff erhalten oder mechanisch beatmet werden, und Remdesivir verkürzt die Symptomatik bei Patienten im Krankenhaus, die keine mechanische Beatmung benötigen.

Der Vorteil der Bauchlage (12-16 Stunden pro Tag) bei beatmeten Patienten beim akuten Atemnotsyndrom bestätigte sich auch bei Covid-19 . Die Bauchlage wird auch bei Sauerstoffgabe ohne Indikation für eine Beatmung empfohlen. Dies und eine High-Flow Sauerstofftherapie senken vermutlich den Bedarf an mechanischen Beatmungen (keine randomisierten Studien vorliegend). Empfehlungen für die Blutverdünnung orientieren sich vergleichbaren Krankheitsbildern ohne Covid-19 spezifischen Empfehlungen, außer einer gesteigerten Wachsamkeit gegenüber thromboembolischen Ereignissen, insbesondere bei Verschlechterung des Krankheitszustandes. Alle diese Faktoren zusammengenommen haben vor allem in zuvor überlasteten Krankenhäusern eine beträchtliche Senkung der Sterblichkeit nach sich gezogen. Bei Österreichs ohnehin schon hoher intensivmedizinischer Versorgungsqualität wird diese Reduktion der Sterblichkeit gering sein. Ganz ohne Zweifel trifft das für das KH Zams (Tiroler Oberland) zu, dort wo all diese Interventionen bereits beim ersten Patienten implementiert (Primar Hasibeder ist Präsident elect der ÖGARI) worden waren.

Dass das Virus aufgrund von Mutationen weniger gefährlich geworden sei, ist der Epidemiologin Emma Hodcroft von der Universität Basel zufolge leider nicht plausibel. Schon zu einem frühen Zeitpunkt der Pandemie sei in der Schweiz eine sehr hohe Diversität von Sars-CoV-2-Virusstämmen feststellbar gewesen. Dieselbe Diversität liege auch heute noch vor. Es sei also nicht so, dass ein bestimmter Stamm sich durchgesetzt habe. Deshalb hätten alle oder eine Mehrheit der vorhandenen Virusstämme gleichzeitig so mutieren müssen, dass sie weniger tödlich werden. Das ist äußerst unwahrscheinlich. SARS-CoV-2 ist in der Lage, mithilfe des Spike-Proteins der Virushülle an das menschliche Enzym ACE2 zu binden. Offen bleibt, ob die inzwischen weltweit dominierende Variante (Mutation) G614 infektiöser als D641 ist und sich deshalb durchgesetzt hat , oder ob es sich einfach um Zufall („founder effect“) handelt .

Jedenfalls ist diese Variante nicht mit einem veränderten Verlauf der Covid-19 Erkrankung assoziiert. Eine mildere Erkrankung findet man bei einer Virenmutante, bei der 382 RNA-Basen in einem als „Open Reading Frame 8“ (ORF8) bezeichneten Genomabschnitt verloren gegangen sind. Diese Δ382-Variante des Coronavirus wurde bislang nur in Singapur und Taiwan nachgewiesen – und auch das nur im Frühjahr 2020.  Seither ist sie nicht wieder aufgetreten. Der Nobelpreisträger für Chemie (2013) Michael Levitt sah sich in seinen Spekulationen bestätigt, weil er seit Anfang des Jahres davon ausging, dass das Virus sich schnell abschwächen würde, so lange es keine „Lockdowns“ gebe. Er ist einer der prominenten Vorkämpfer gegen einschränkende Maßnahmen und erinnert mich an Kary Mullis, der 1993 den Nobelpreis für Chemie für die Entdeckung der PCR erhielt und HIV als Verursacher von AIDS leugnete. Sich auf Nobelpreisträger zu berufen kann in die Hose gehen!

Zur weiteren Illustration der im Vergleich zum Grippevirus und HIV geringeren Mutationsrate, ein Auszug aus einer privaten Mail an mich: „Die Cluster-Analysen (Österreichs, Anm.) fand ich – bei allen Vorbehalten – doch sehr interessant und gut präsentiert. Phylogenetische Analysen, bei welchen wir mit den Kollegen aus Basel natürlich bestens vertreten sind, können solche Analysen natürlich ergänzen. Die Knochenarbeit des Contact Tracings und der Datenverarbeitung können sie jedoch nicht ersetzen. Zudem mutiert SARS-CoV-2 etwas zu langsam, um Übertragungsketten präzise nachverfolgen zu können.“

Für die geringe Rate an Todesfällen bleibt also nur die Erklärung durch die Altersstruktur der mit SARS-CoV-2 Infizierten. Und in der Tat: Die neuen Fälle sind heute im Durchschnitt deutlich jünger als zu Beginn der Pandemie. Während die positiv Getesteten im Frühjahr um die 50 Jahre alt waren, liegt das Durchschnittsalter jetzt bei 37,9 Jahren und lag Ende August bei 31,5 Jahren. In der Woche bis zum 23. August (KW 34) betrug der Anteil der 15-24 Jährigen unter allen positiv Getesteten 39,5% und sank in der KW 39 (bis 27. September) auf 19,7%, während der Anteil der über 64 jährigen von 3,7 auf 9,5% gestiegen ist. Die Häufigkeiten einer Infektion mit SARS-CoV-2 pro 100 000 Einwohnern in ganz Österreich und Wien in den jeweiligen Altersgruppen finden sie in der untenstehenden Tabelle, die zeigt, dass innerhalb weniger Wochen sich immer mehr Ältere infizieren und die Ältesten besonders schwierig zu schützen sind. Der Rückgang in Kalenderwoche 39 betraf mehr die Jüngeren.

Quelle: AGES

Der Vorsatz, Ältere, insgesamt die Vulnerablen, zu schützen mag gut gemeint sein, aber er verkommt meist zur reinen Floskel ohne Substanz. Sehr nüchtern gesehen hat Österreich die ältere Bevölkerung bisher gut vor den Folgen von Covid-19 geschützt. Die Rate der gesamten Todesfälle auf die Einwohnerzahl ist vergleichsweise sehr niedrig (optimaler Zeitpunkt des Lockdown, siehe). In Österreich sind 0,3 Prozent der Heimbewohner an Covid-19 verstorben, in Deutschland 0,4 Prozent, in Schweden  zwei und in Belgien 3,7 Prozent. Das Besuchsverbot als zusätzliche Schutzmaßnahme war wie der Lockdown ein hoher Preis, den es jetzt unbedingt zu vermeiden gälte. So viel Zeit (Aufwand für Personal) und Geld (Schutzausrüstung) muss vorhanden sein! Es ist nicht einzusehen, wieso Heimbewohner nicht mit FFP2 Masken und einem extra Fläschchen Desinfektionsmittel für Besuche ausgestattet werden können.

Wenn alle sich schützen und geschützt werden, sind auch die Älteren am besten geschützt  , keine Gesellschaft hat das anders hinbekommen. Positionen, die sich besonders hervortun, sie würden „Vulnerable schützen“, vertreten direkt oder indirekt eine Strategie zur „Herdenimmunität“. Wie will man „kontrolliert durchseuchen“, wenn in einer Pandemie vollständige Abschottung nahezu unmöglich ist?

Eine gezielte Durchseuchung müsste deshalb mit sehr rigorosen Maßnahmen, ja fast Zwang einhergehen, die mit den demokratischen Strukturen unserer Gesellschaften nicht vereinbar wären. Zudem ist es falsch (auch wissenschaftlich) zu glauben, dass Menschen in einer solchen Strategie entweder kein oder ein großes Risiko haben. Eine Durchseuchungsstrategie würde viele Menschenleben kosten und zu vielen schweren Erkrankungen führen. Das wussten schon unsere Vorfahren: Sie haben sich während Pandemien nie bewusst einer Infektion ausgesetzt, die potentiell schwer verläuft. Auch heute wären viele Menschen – selbst bei viel harmloseren Krankheiten – nicht bereit, sich anstecken zu lassen. Das gilt es zu respektieren.

Es scheint mir, dass es einen weitgehenden Konsens unter Wirtschaftswissenschaftlern und in Teilen von Wirtschaftsvertretern gibt, dass der Wirtschaft besser geholfen wird, wenn die Fallzahlen möglichst niedrig gehalten werden. Die Verunsicherung der Bevölkerung bei hohen Fallzahlen ist lähmend – auch für die Gesellschaft. Dazu ist noch nicht klar, wie lange und wie gut eine Infektion mit SARS-CoV-2 tatsächlich vor zukünftigen Infektionen schützt. Es ist also zentral, dass wir die Transmissionsraten möglichst tief halten müssen, und zwar mit Abstand halten, Händehygiene und Masken tragen sowie mit Testen, Rückverfolgen, Isolieren und Quarantäne (TRIQ. Das war hier oft Thema: hier , hier,  hier und hier. Bei den jetzigen hohen Zahlen ist TRIQ allerdings mehr als am Anschlag, und es war schon sehr lange klar, dass es galt einen solchen Anstieg, wie wir ihn jetzt beobachten, unbedingt zu vermeiden . Die Aussage, die Stadt habe „mit so einem enormen Anstieg der Zahlen im Herbst einfach nicht gerechnet“  , diese Aussage war schon reichlich befremdend. Offenbar braucht es Reisewarnungen um endlich das zu tun, was wir aus dem Anfang des Jahres Versäumten offensichtlich nicht lernen wollten .

Nett lugg loh, sagt man in Vorarlberg. Wer nicht lockerlässt, gwinnt.«

Weiterhin: keep distance, wash hands, stay human!

Ihr Armin Thurnher

Abonnieren Sie Armin Thurnhers Seuchenkolumne:

Weitere Ausgaben:
Alle Ausgaben der Seuchenkolumne finden Sie in der Übersicht.

12 Wochen FALTER um 2,50 € pro Ausgabe
Kritischer und unabhängiger Journalismus kostet Geld. Unterstützen Sie uns mit einem Abonnement!