Alles steuerte auf Beethoven zu. Eine Sonntagsgeschichte

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 195

Armin Thurnher
am 27.09.2020

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Herbstsonntag im Waldviertel. Der Himmel, klar und kalt, bewölkt sich wieder. Im Radio sagen sie den Tag des Hörens an. Was macht man da? Ich hatte daran gedacht, wieder einmal ein Kochrezept zu veröffentlichen, ich hätte sogar ein Foto parat. Meine Himbeermarmelade war recht erfolgreich. Aber das verschiebe ich besser auf einen Werktag, wenn man die Zutaten einkaufen kann.

Was also an diesem Sonntag mit zweifelhafter Sonne? Diesem Hörtag? Ich könnte über Beethoven schreiben. Ich sollte, ich müsste. Meine Beethoven-Kenntnisse sind limitiert, aber dieses Beethovenjahr ist es auch. Die Seuchenkolumne gibt mir die Möglichkeit, mich anekdotisch subjektiv mit allem auseinanderzusetzen. Warum nicht auch mit Beethoven.

Das erste Mal Beethoven auf dem Klavier spielen. Ja gewiss, in den leichten Klavierstücken kam eine Romanze da, ein Bagatellchen dort vor. Aber das unterschied sich für den Knaben nicht von Czerny oder was da sonst noch stand. Die Eltern freuten sich, wenn der Nachwuchs etwas bekannt Klingendes wiedergeben konnte, eine einfache Version der Champagnerarie aus Don Giovanni oder ein Volkslied, dessen Text man kannte. „Süßer die Glocken nie klingen…“

Da war Beethoven noch weit …

Mein Klavierlehrer Josef Loidl köderte mich mit Mozart, aber alles steuerte auf Beethoven zu. Es geht in der Musik wie in allem um Namen. Namen sind heilig, das Namengebenkönnen unterscheidet unsere Sprache von jener der Tiere (weil wir gestern von Walter Benjamin sprachen). Beethovens Name war Ernst. Vom aufbegehrenden, vom Revolutionär, vom Liebhaber, vom Schrull und vom Sonderling Beethoven ahnten wir wenig.

Beethoven war schwer. Schwer zu spielen, aber vor allem schwer an Bedeutung. Der Humor und Witz in seiner Musik, der einem gerade in den leichteren Sonaten begegnet, wurde uns nicht mit gebührendem Ernst präsentiert. Der war halt auch da.

Beethoven war heilig. All das, was er ist und nicht ist, wofür man ein paar Jahre später die bürgerliche Kultur zu verachten begann, diese unbegründete Verehrung, dieses Auf-den-Sockel-Stellen aus Prinzip, dieses Vereinnahmen ohne Kenntnis, das war Beethoven auch. Er konnte nichts dafür. Irgendwie geht das auf neue Weise schon wieder los, aber davon reden wir vielleicht ein andermal.

Beethoven war ein Schlüssel zur schweren, ernsten, heiligen Kultur. Man musste gewisse Kenntnisse haben, um für anderes teilnahmeberechtigt zu sein. Man sollte seine Symphonien kennen und erkennen, um Recht sprechen oder Medizin studieren zu können. Glaubte ich im Ernst, realitätsfern, wie ich war. Der ältere Bruder eines Freundes zupfte uns Themen auf der Gitarre vor, wir mussten sie identifizieren. 8. Symphonie, zweiter Satz, das Uhrwerk war leicht zu erkennen. Vieles lief auf Hits und „schöne Stellen“ hinaus, wofür ich mich später genierte, als ich las, wie sich Adorno darüber mokierte. Bei der Thomas-Mann-Lektüre war man damit auf der Höhe, das war mehr, als man vom Deutschprofessor behaupten konnte.

Beethoven war Kosmos, Kanon, Maß. Neun Symphonien und 32 Klaviersonaten. Um die Kammermusik kümmerten wir uns weniger, abgesehen von Violinromanzen, die sich gut vorspielen ließen, aber da war der Klavierpart eine Transkription.

Mit Mozart glitt man hinein in die Musik, vor Beethoven hielt man inne. Mit dem ersten Geld, das ich als Hilfsskilehrer verdiente, 600 Schilling, kaufte ich mir die Gesamtaufnahme der Sonaten mit Wilhelm Kempff, die mich aus der Auslage der längst verwichenen Elektrohandlung Stemberger monatelang angeschaut hatte. Ich verstümmelte und zerkratzte das Vinyl mit dem Plattenspieler meiner Eltern, weil ich immer wieder Passagen anhörte. Den Bakelittonarm musste man mit der Hand heben. Der progressive, blasse Musiklehrer (Rollkragen Pullover, Komponist) beharrte auf Gulda. Ich hatte Kempff, was sich später und noch immer als gute Wahl erwies, ohne Guldas Interpretation schmälern zu wollen. Kempff spielte klassisch-romantisch, mit großen Bögen, phantastisch transparentem Pedal, im Zweifelsfall kantabel statt perfekt und doch mit oft erstaunlicher Attacke. Er stand zwischen Edwin Fischer und Alfred Brendel, von dem wusste ich noch gar nichts.

Die Symphonien hatte man von Karajan, der Neunerpack gehörte in einen ordentlichen Haushalt. Ich besitze beide Kartons noch immer, spiele Karajan nie, Kempff selten.

Knabenzeitvertreib im Bregenz der 1960er Jahre: Wir spielten einander zu dritt Beethoven vor, zwei Loidlschüler, einer eines anderen Lehrers, und überlegten, wer wohl warum welche Sonate zugemessen bekam. Loidl hatte merkwürdige Ansichten. Als ich die Pathétique zu spielen verlangte, behauptete er, das verderbe die Technik. Und verordnete mir zuerst das Allegretto von op. 14/1. Meine bescheidene Pforte zu Beethoven. Er war Melancholiker, was man an dieser Wahl erkennt. Technisch anspruchslos, lehrt einen dieses Allegretto viel über Phrasierung Dynamik und Ausdruck von Leid. Loidl war ein kluger Mann. Die schnelleren Sätze machten mir weniger Schwierigkeiten. „Das Allegretto, das Brahms ob seiner verhangenen zwielichtigen Stimmung sehr geliebt haben muss, ist ein besonderes Kleinod“, schreibt Kempff in den Anmerkungen zu seiner Aufnahme.

Später, ich bekenne es ungern, habe ich das Thema des Allegretto dazu verwendet, um mit einer Combo – Klavier, Gitarre, Schlagzeug – darüber zu improvisieren. Das einfache Akkordgerüst machte es möglich. Wir begleiteten ein Theaterstück in einem Studentenheim und allegrettierten in einer Probenpause vor uns hin. Ein von uns unbemerkter Zuhörer applaudierte. Ich erkannte ihn gleich, obwohl er mittlerweile schulterlanges Haar und Bart trug. Es war der ältere Bruder mit der Gitarre. Gar nicht schlecht, sagte er, was ist das? Da konnte einmal ich ihm ein Thema vorspielen.

Weiterhin: keep distance, wash hands, stay human!

Ihr Armin Thurnher

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