„Wer Charakter hat, hat kein Schicksal“. Zu Walter Benjamin

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 194

Armin Thurnher
am 26.09.2020

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Vorsicht, dieser Text ist strikt anekdotisch. Jeden Tag erfreute mich diese Woche der evangelische Theologe und ehemalige Bischof Michael Bünker auf Ö1 in der Früh mit einer Hommage an Walter Benjamin zu dessen heutigem 80. Todestag. Für uns Studenten war Benjamin wie der Einbruch einer unbekannten Welt. Im leicht zum uniformen Stumpfsinn tendierenden Kosmos der K-Gruppen nach 1968 suchte ich nach Denkern, die ein linkes Weltbild nicht verließen, aber doch dem neuen Dogmatismus nicht entsprachen. Benjamin kam wie ein warmer Regen in die Dürre.

Das „K“ in K-Gruppen stand für kommunistisch, meist in der maoistisch-stalinistischen Variante oder als Reaktion darauf in der trotzkistisch-antistalinistischen. Man kann die Zweiteilung bis in die Lebensläufe hinein verfolgen: Maoistisch waren Konrad-Paul Liessmann und Robert Schindel, trotzkistisch Robert Menasse und Peter Pilz. Man sieht, dass sich aus der besten Verfolgung nicht viel ableiten lässt. Ich war weder noch. Erinnere mich nur, dass ich mit Leander Kaiser, dem Maler, noch auf der Straße ging und wir uns unterhielten, was die Versuche Kaderparteien zu gründen, aus der Studentenbewegung machen würden. Sie verraten sie, sagte ich, und Kaiser nickte. Am nächste Tag war er bei der Gründungen einer maoistischen Organisation führend dabei. Auch er kam wieder heraus.

Wie ich so über die alten Zeiten nachdenke, steigt mir noch ein Bildchen auf. Im Café Schwarzspanier saßen nächtens Schindel und Kaiser an einem Tisch und begrüßten mich, sichtlich in bester Laune, mit den Worten: „Thurnher, menschlich bist du in Ordnung, aber politisch bist du ein Sumpf.“

Ich kam nicht ganz trockenen Fußes und Auges über den Sumpf hinweg. Dabei half mir Walter Benjamin. Da war einer mit einer eigenen Sprache, mit einer eigenen Editionsgeschichte, die wie Werk und Person erst langsam aus dem Nebel der Zeitgeschichte auftauchte. Wir lasen Frankfurter Schule, Adorno vor allem (in den USA hatte ich schon Herbert Marcuse gelesen), dann mit wachsender Begeisterung Bloch, der uns mit seinem utopischen Expressionismus betörte, der marxistisch-theologisch raunte, was wir nicht ganz kapierten, aber sehr mochten.

Paul Klee: Angelus Novus (1920), Bild im Besitz Benjamins. Sein lebensprägender „Engel der Geschichte“

Benjamins tragischer und rätselhafter Selbstmord auf der Flucht vor den Nazis beschäftigte uns. Er war herzkrank, ohnehin suizidgefährdet und nahm sich das Leben, als seine Gruppe an der spanischen Grenze abgewiesen wurde. Tragisch war sein Tod auch, weil der Gruppe am nächsten Tag die Weiterreise gestattet wurde. Weil Benjamin sich das Leben genommen hatte?

Benjamin, der Freund Bertolt Brechts und der Filmerin Asja Lacis, der dem Sozialismus, ja dem Stalinismus zuzuneigen schien, und Benjamin, der messianische Denker, dessen Freund Gershom Scholem ihn von Jerusalem aus für das Judentum zu retten versuchte. Mit Ernst Bloch war er nicht nur befreundet, sie experimentierten auch gemeinsam mit Drogen („Haschisch in Marseille“), was uns naturgemäß gefiel. Benjamins Konflikte mit Max Horkheimer und Theodor W. Adornos Institut für Sozialforschung, bei dem er publizierte, von dem er lebte, und das ebenfalls versuchte, ihn auf seine Bahn zu bringen. Sein Pariser Leben mit französischen Avantgardisten wie Michel Leiris und Georges Bataille, der Benjamins Manuskripte vor den Nazis in der Bibliothèque Nationale versteckte.

Benjamin, der geniale Stilist, der oft unverstanden blieb: bei Karl Kraus, der über den wunderbaren Essay, den ihm Benjamin widmete, etwas abschätzig urteilte, er verstehe ihn nicht, billige dem Autor aber gute Absichten zu. „Vielleicht ist es Psychoanalyse.“ Benjamin und die akademische Sphäre, die ihn ablehnte, ihn, einen der glänzendsten Gelehrten seiner Zeit. Benjamin, der Sohn aus reichem jüdischen Haus, der sich abnabelte, scheinbar unbekümmert darum, dass ihm Armut und materielle Unsicherheit blühten.

Das war einer nach meinem Geschmack. Ich kratzte alle Groschen zusammen, um mir die leuchtend blauen Leinenbände – Luxus, verglichen mit dem matten Plastikblau der günstigen Marx-Engels-DDR-Werkausgabe – mit den weißen Umschlägen im Fleckhaus-Design bei Suhrkamp zu kaufen, wo man in den Anmerkungen all jene Details erfahren konnte, die mangels einer vernünftigen Biografie unbekannt waren. Bis dato existierten Benjamins Schriften nur in der kargen zweibändigen, von Adorno edierten Ausgabe. Schlagworttaugliche kleinere Schriften (Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit) gab es als Taschenbuch.

Schnell entschloss ich mich, eine Dissertation über Benjamins rätselhafte Schrift „Ursprung des deutschen Trauerspiels“ zu verfassen, ich studierte ja Theaterwissenschaft. Ich spürte wohl, dass ich an dieser Habilitation über Allegorie und Melancholie scheitern musste.

Mein Freund Hans Hurch erwarb später, in den 1980er Jahren, in der Buchhandlung Brigitte Hermann die Erstausgabe des Trauerspielbuchs um 5000 Schilling, einen horrenden Betrag, den ich nicht aufzubringen vermochte (mittlerweile gibt es einen wohlfeilen Faksimile-Nachdruck, das Original kostet auf eBay 1000 Euro).

Wochenlang betrachtete ich das schwarz gebunden Buch mit dem Titel in Goldprägung, dessen Text in Fraktur gedruckt war. Immer wieder sah ich es an, aber ich brachte den Betrag nicht zusammen. Hans war schneller, er machte ein kleine Erbschaft und trug triumphierend das Buch die Grünangergasse hinunter, deren beide Enden wir bewohnten. Man könnte ein kleines Benjamin’sches Denkbild daraus machen. Wenn man könnte.

Weiterhin: keep distance, wash hands, stay human!

Ihr Armin Thurnher

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