Wie ich 50 Jahre Profil erlebte. Szenen einer kritischen Freundschaft

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 191

Armin Thurnher
am 23.09.2020

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Fast hätte ich ein Seinesgleichen zum Jubiläum geschrieben, aber dann nahm ich Abstand. Erstens kam mir in den Sinn, was mein Großvater äußerte, wenn er keine Lust hatte, zum Begräbnis eines Freundes oder Alterskollegen zu gehen. „Der goht mir ou nümma“ (der geht mir auch nicht mehr), knurrte er dann und schaute beim Fenster hinaus in die fallenden Schneeflocken. Ich dachte an das, was das Profil zu den diversen Jubiläen des Falter zu sagen hatte, und meine Lust, es zu feiern, sank wie die Quecksilbersäule des Thermometers im Herbst.

Kürzlich wurde mir hinterbracht, meine „Seinesgleichen“-Kommentare seien zu selbstreflexiv. Dergleichen pflegte ich immer entweder mit dem Adorno-Satz „Sich verleugnende Subjektivität schlägt um in Objektivismus“ abzuwehren, oder mit der Bemerkung von Franz Schuh, alles nicht-autobiografische Schreiben sei Verrat.

Wie könnte ich über Profil reden, wenn nicht autobiografisch? Ich war bei seiner Gründung nicht dabei, aber ich kann von der frühen Wirkung des Magazins berichten. 1972 arbeitete ich als Student bei Shell als Kostenrechner, um dazuzuverdienen. In einem Büro mit neun Mitarbeitern (keine Frau) hatte ich einen schulbankähnlichen Arbeitsplatz und addierte mit dem Bleistift händisch Zahlenkolonnen. Computer gab es noch nicht. Die Mittagspause dauerte 40 Minuten, von 12:05 bis 12:45. Das Büro, angeführt von Bürochef Wiesinger, machte sich auf in die Kantine, wo ein dreigängiges Menü in siebzehn Minuten hinunterzuschlingen war. Ich verbrannte mir mit der Suppe die Kehle, um elf Minuten Freizeit herauszuschinden. Zwei Minuten waren Wegzeit. Normalerweise wurde mit kurzen Zwischenrufen Zeitung gelesen. Zeitung hieß Kurier. Montags aber diskutierte das Büro Peter Michael Lingens. Ich stellte mir vor, dass das in ganz Österreich so war: sämtliche Büros redeten über einen Leitartikels. Ich war beeindruckt und zugleich skeptisch.

Das Profil deckte Skandale auf, wie etwa den AKH-Skandal. Als wir fünf Jahre später den Falter gründeten und Probleme hatten, zu einem Telefonanschluss zu kommen, fragte uns ein Siemens-Techniker, den wir um Rat baten, ob wir nicht Profil läsen. Warum, fragten wir? Na, da sei doch erklärt, wie man zu etwas komme. Die Skandalberichterstattung diente zur Aufklärung der Bevölkerung, wie man Korruption handhabt, um zu etwas zu kommen.

Sigrid Löffler schrieb den ersten Artikel über den Falter, der in einer Mainstream-Publikation erschien. Natürlich im Profil. Er trug den Titel „Wiener Village Voice“ und machte uns ordentlich stolz. Wenig später zogen wir in die Marc-Aurel-Straße, wo wir als Profil-Nachbarn direkt an den Vorgängen und Konflikten teilnehmen durften und mit Kollegen in den Cafés alles diskutierten. Aufdecker Alfred Worm saß morgens im Espresso im Salzgries und wartete, bis das Profil aufsperrte. Er hatte keinen Schlüssel, was ihn maßlos verdross. Einmal stand er vor dem Bus, den die Falter-Truppe für einen Skiausflug bestieg, und weinte beinahe. „So etwas haben wir früher auch gemacht“, sagte er, und meinte das Profil. „Das gibt’s bei uns schon lange nicht mehr. Alles kaputt.“

Worm war Profil-intern zum Teil verhasst, wegen Machismo und Arroganz. Freitag Nachmittag verkündete er gern, er begebe sich jetzt hinaus, um sich zu paaren (er formulierte es anders). Wenn Chefredakteur oder Herausgeber wissen wollte, welche Story er gerade im Rohr habe, beschied er ihnen, sie sollten montags das Heft lesen. Später ließ man ihn leichten Herzens zu den Fellners gehen. Ein schwerer Fehler.

Als das Profil streikte, weil die Redaktion die Doppelrolle Peter Rabls als Herausgeber und Vorstand in einer übergeordneten Gesellschaft nicht akzeptieren wollte, schien die Sache beinahe beigelegt. In einem Gespräch mit Worm ergab sich ein Falter-Interview, das wir mit prominenten Dissidenten führten (Worm, Löffler, Horst Christoph, Helmut Voska) und auf mehreren Seiten brachten. Es machte einigen Wirbel.

All das stand unter den Vorzeichen, dass die Eigentümer von Raiffeisen der Gefahr nicht adäquat begegneten, die Profil von den Brüdern Fellner und ihrer Illustrierten News drohte. Hubertus Czernin, großartiger Journalist, Aufdecker der Waldheim-Affäre und später der Raubkunst-Verschleppungen, war als Herausgeber fehlbesetzt. Statt frontal die Fellners zu attackieren, traf er die Entscheidung, mit einem Programmheft dem Falter Konkurrenz zu machen, engagierte uns Personal ab und machte sogar mir das Angebot, Kulturchef und stellvertretender Chefredakteur zu werden. So etwas würde mir niemand mehr anbieten, sagte er frustriert, als ich ablehnte. Er hatte Recht, was Österreich betraf, aber ich wusste, eines Tages würde der Falter den Erfolg haben, den er heute hat. Czernin trug es mir nicht nach; er engagierte mich als Autor. Als er flog (als Vorwand diente den Herausgebern ein Cover, das in einer Fotomontage einen nackten Vranitzky zeigte, mit dem Text „Des Kanzlers neue Kleider“), war auch dieses Kapitel für mich beendet.

Dass viele andere Medien rund um das Profil Erfolg hatten, nahm ihm seine einzigartige Stellung. Dass es durch Aufdeckung der großen Skandale AKH, Waldheim, Groer und vieler anderer zeitgeschichtlichen Glanz hat, macht ihm niemand mehr streitig. Es ist noch immer ein gutes Magazin. Es war einmal das einzige. Die Kommentare von Peter Michael Lingens erscheinen heute im Falter. Um einen Spruch der Tante Jolesch abzuwandeln: Gott möge uns behüten vor allem, was noch immer gut ist. Andererseits: ein gutes Magazin ist ein gutes Magazin, und es ist im steigenden Ozean von Schlamm noch immer eine der wenigen herausragenden Inseln der Vernunft. Mit seinen Mitarbeiterinnen kann man streiten, seine Mitarbeiter kann man necken und umgekehrt. Alles Gute zum 50er!

Weiterhin: keep distance, wash hands, stay human!

Ihr Armin Thurnher

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