Ein oder zwei Meter? Abstand nehmen von falschen Dichotomisierungen!

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 190

Armin Thurnher
am 22.09.2020

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Heute ist wieder der Virologe Robert Zangerle von der Uni Innsbruck am Wort.

Es geht um die Frage, wie die Sache mit dem Abstand entstand. Zangerle erklärt, wann die Tröpfcheninfektion  entdeckt wurde und wie man sie jetzt bewertet. Weiters: was ist gefährlicher, Flieger oder Bus? Lebensmittel oder Sex?

Abstand ist wichtig, um Infektionen zu vermeiden. Wie viel Abstand soll es genau sein? Einmal malt der Supermarkt Bodenmarkierungen in 1,5-Meter-Distanz auf, ein andermal wird gesagt, zwei Meter müssten eingehalten werden, dann hört man von Studien, wonach coronabeladene Tröpfchen mehrere Meter weit durch die Luft gereist sein sollen, obwohl ihnen längst die amtliche die 1-Meter Abstandsregel bekannt sein sollte.

Dieser Abstand geht auf die Empfehlung der WHO zurück und wird von einigen Ländern mitgetragen (z.B. von China, Dänemark, Frankreich), während andere Länder wiederum eigene Empfehlungen aufgestellt haben, wie Italien, Spanien und Deutschland mit 1, 5 Metern und England mit 2 Metern in ( neuerdings 1 Meter Plus, wobei Plus „mit Maske“ bedeutet), oder Kanada und die USA („6 feet“). In den letzten Monaten gerieten die Regeln für weitere Abstände gehörig unter Druck von wirtschaftlichen Interessensverbänden (nicht von Ökonomen!) . Aber auch gesellschaftlich artikulierte sich Unmut wegen unerwünschter sozialer Folgen. Zeit, einmal die wissenschaftlichen Quellen all dieser Empfehlungen auszugraben.

Carl Flügge (1847-1923), der mit den Tröpfchen

Foto © Wikipedia

Der deutsche Hygieniker Carl Flügge konnte als Erster zeigen (Über Luftinfektion. Zeitschrift für Hygiene und Infektions-Krankheiten 25 / 1897. S.179), dass Bakterien aus den Atemwegen in Form von Tröpfchen übertragen werden. Seine Publikation war gleichzeitig die Geburtsstunde der 1-2 Meter Abstandsregel und der chirurgischen Maske. Flügges Konzept hielt bis in die 30-er Jahre des vorigen Jahrhunderts, als zwischen großen und kleinen Tröpfchen unterschieden werden konnte. Große Tropfen fallen zu Boden, ehe sie verdunsten, kleine verdunsten, ehe sie zu Boden fallen, das sind die Aerosole. In den 1940-er Jahren wurden Methoden entwickelt, die Tröpfchen in der Luft sichtbar zu dokumentieren. 1948 wurde dann in einer Studie mit hämolytischen Streptokokken gezeigt, dass zwei Drittel der Probanden nur große Tröpfchen produzierten, von denen weniger als 10 Prozent weiter als 5 1/2 Fuß (1,9 Meter) reichten, ehe sie zum Boden fielen. Aus den restlichen Tröpfchen konnten noch in einer Entfernung von 9 ½ Fuß (2,9 Meter) Streptokokken gezüchtet werden. Trotz aller Einschränkungen im Studiendesign zementierte diese Studie die Abstandsregel von 1-2 Meter bis zum heutigen Tag ein.

Das klassische Konzept mit seiner Dichotomisierung in große und kleine Tröpfchen wird inzwischen generell und besonders bei Covid-19 als willkürlich und überholt angesehen. Tröpfchen kommen auf einer kontinuierlichen Größenskala vor. Nicht nur ihr Durchmesser, sondern eine ganze Reihe anderer Faktoren bestimmen darüber, welche Strecken sie zurücklegen können. Andererseits sind bei Covid-19 längst nicht alle Faktoren der Übertragung sicher bestimmt. Einen großen Einfluss haben Luftströme, so wurde eine starke Klimaanlage als Ursache für den Ausbruch in einem Restaurant im chinesischen Guangzhou verantwortlich gemacht. Zehn Menschen an drei Tischen steckten sich an, obwohl die Entfernungen zwischen ihnen und dem Infizierten zum Teil mehr als vier Meter betrugen.  Flugzeuge gelten als relativ sicher, vor allem weil die HEPA Filter Viren aussondern und zudem die Luftströmung von oben nach unten geht, weshalb Übertragungen im Flugzeug prinzipiell sehr selten sind, das gilt auch für SARS-CoV-2 . Epidemiologisch ist der Beweis, dass es sich jeweils um eine Übertragung im Flugzeug handelt, extrem schwierig. So wird die Ansteckung im Flugzeug zumindest bei einigen Patienten stark angezweifelt, die sich während eines Langstreckenfluges Anfang März nach Hanoi bei einem stark hustender Patienten infiziert haben sollen (alle ohne Maske). Mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit jedoch erfolgte die Infektion von zwei Crew-Mitgliedern während der Betreuung im Flug Boston-Hongkong von einem Paar in der Businessklasse (unikale, seltene Virusvariante, zu 100% übereinstimmendes Genom). Busse mit Klimaanlagen in denen ein Großteil der Luft ohne Filter rezirkuliert, haben über Aerosole ein substantielles Risiko für eine Ansteckung. Auf Umluft in Bussen muss verzichtet werden! Das Risiko von Übertragungen in Fitnesszentren und Boxhallen ist deutlich erhöht, weil Sportler dort schnell und stark atmen. Selbst größere Abstände beim sportlichen Tanzen über 50 Minuten führten schon ab 5 Personen auf einer Fläche von 60 m2 zu Übertragungen . In den USA wurden während einer zweieinhalbstündigen Chorprobe von einer einzigen Person mindestens 32 Personen infiziert, und wahrscheinlich 20 weitere .

An diesen Beispielen wird deutlich, dass Übertragungen oder gar „superspreading events“ sich in Innenräumen abspielen, und die Dauer der Exposition einen zentralen Faktor beim Erwerb einer Infektion mit SARS-CoV-2 darstellt. Im allgemeinen werden Expositionen erst ab 15 Minuten als substantiell gesehen, obwohl es keine Studien gibt, die dieses Risiko quantifizieren könnte. Man folgt dabei den Empfehlungen des European Centre for Disease Prevention and Control ECDC. Kontrollierte Studien zu Expositionsdauer und Größe des Abstands durchzuführen ist de facto kaum möglich, weil sich nicht nur die beiden Variablen gegenseitig beeinflussen, sondern auch Störgrößen aus der Umwelt (Ventilation, Luftfeuchtigkeit und anderes) unberücksichtigt lassen. Fleischfabriken sind ein Beispiel für das Zusammentreffen mehrerer Faktoren (wenig räumliche Distanz, schlechte Ventilation, durch Lärm bedingtes Schreien und mehr). Après Ski lasse ich überhaupt weg (wegen meiner Tiroler Befangenheit?).

Wir müssen uns also von der Dichotomisierung, ab wann ein Risiko gefährlich und bis wann nicht, verabschieden. Risiken spiegeln ein Spektrum wider, sie sind nicht binär, meint auch Julia Marcus, eine Epidemiologin der Harvard University . Sie plädiert gemeinsam mit Kolleginnen ujd Kollegen für einen Schlussstrich unter falsche Dichotomien https://osf.io/k2d84/, dazu zählt sie auch Tröpfchen versus Aerosole.

Der effektivste Zugang zur Einschätzung von Risiko für die Bevölkerung erfolgt am besten durch graduelle Abstufung („ampelmäßig“), sagen die Forscherin Nichola R. Jones und Kollegen im British Medical Journal. Sie verknüpfen in einem solchen Modell den Abstand mit der Anzahl der Menschen an einem Ort und die Zeit, die diese dort verbringen, und berücksichtigen die Luftzufuhr, und ob Masken getragen werden oder nicht.

Die riskantesten Situationen sind nach diesem Modell geschlossene Räume wie Kneipen oder Bars, in denen Menschen ohne Gesichtsbedeckung viel Zeit verbringen, eine Fußballübertragung lautstark kommentieren oder gegen ohrenbetäubende Musik anbrüllen. In solchen Situationen könnten mehr als zwei Meter Abstand oder andere Präventionsmaßnahmen nötig werden. Ein geringes Risiko bergen dagegen Örtlichkeiten wie Bushaltestellen oder Würstelstände, wo Menschen im Freien ruhig anstehen. Grafisch dargestellt, sieht das so aus:

Dem Gesundheitsminister zufolge seien „strukturierte Großveranstaltungen mit Sicherheitskonzepten und klaren Regelungen im Abgang und Zugangsbereich sowie der Schulbetrieb … derzeit nicht das Problem“. Nachdem ein größerer Cluster im Bezirk Kufstein identifiziert wurde, habe man vielmehr habe man den neuen Begriff des „Après-Soccer“ geprägt (statt dem eher angemessenen „Après-le-Football“ oder „Après-le Foot“). Epidemiologische Folgen von Großveranstaltungen werden von vielen Seiten ausgeblendet, so auch von Fans, obwohl Risikoverhalten systemisch mit dem VOR und dem DANACH von Großveranstaltungen verknüpft ist. Eine „Après-Culture“ wird außer Acht gelassen, obwohl ein beträchtliches Cluster mit 45 Fällen an der Musik- und Kunst-Privatuniversität der Stadt Wien identifiziert wurde. Auffällig, wie betont wird (etwas verdächtig), dass es „Zur Übertragung des Virus … wahrscheinlich davor und danach, aber nicht während der Aufführung gekommen“ sei, so der Krisenstab der Stadt Wien . Natürlich kann dem so sein. Mehrere Bekannte berichteten von den Salzburger Festspielen, das Sicherheitskonzept war hervorragend, aber als sie nachher in einem sehr bekannten Restaurant in der Nähe speisen oder in einem nahegelegenen Lokal was trinken wollten, zogen sie es vor, die Lokale „unverrichteter Dinge“ sofort wieder zu verlassen, weil der zugewiesene Tisch die 1-Meter Abstandsregel allzu sparsam interpretierte.

Unser Mitleid gilt manchen Epidemiologen, die, ob des Datenmangels über die Schutzfunktion von Masken (hier  und hier) es schaffen, allgemein hörbar zu jammern, sich aber offensichtlich genieren, das mindestens gleich große Leid, nämlich den Datenmangel zur Beurteilung eines Übertragungsrisiko bei von Expositionszeit und sicherem Abstand („Babyelefant“), öffentlich zu machen.

Crashkurs im Nachtrag: Gesichtsvisiere sind ausnahmslos nur in Kombination mit einer Maske zu verwenden. Das Hantieren mit und der Verzehr von Lebensmitteln ist unbedenklich (nach dem Einkaufen Hände waschen); alle Waschmittel machen bei jeder Waschtemperatur dem umhüllten Virus schnell Garaus. Sex außerhalb einer Partnerschaft: Maske!, oder „Corona Notgemeinschaft“ bilden. Apropos Notgemeinschaft: Für den Winter empfiehlt sich, je nach Umständen und Bedürfnissen, eine Corona Gemeinschaft mit einem (oder zwei) anderen Haushalten einzugehen.

Weiterhin: keep distance, wash hands, stay human!

Ihr Armin Thurnher

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