Ampelologie: bald kennt jeder jemanden, der die Ampel nicht versteht

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 182

Armin Thurnher
am 14.09.2020

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Heute ist wieder Virologe Robert Zangerle von der Uni Innsbruck am Wort.

Er taucht in die Abgründe der Ampel ein und stellt ein paar unangenehme Fragen.

»Hier in der Seuchenkolumne habe ich schon vor zwei Monaten zur Ampel Stellung bezogen. Die Argumente gegen die Sinnhaftigkeit von Bezirksgrenzen für eine effektive Prävention hallen gerade in ohrenbetäubendem Echo wider. Zudem habe ich mir gestattet, hier „rechtzeitig“ Vorschläge zu machen, welche Daten in der Ampel festzustellen helfen, was „im Griff haben“ und „es ist unter Kontrolle“ bedeuten könnte. Wohl ahnend, dass es anders kommen könnte. So kam es denn auch. Mit der Corona-Ampel hat sich Österreich verhoben, so der allgemeine Tenor. Schauen wir uns die Unterlagen für die Entscheidungen der Corona Kommission an, durchaus mit dem Vorsatz, auf Dahinsiechende nicht hinzutreten.

Die Ampel in der jetzigen Form ist eine glatte Fehlkonstruktion. Statt die vier Indikatoren

  • „Übertragbarkeit (Fälle)“ –neuerdings 7 Tage Inzidenz (roh und adjustiert)

  • „Quellensuche (Cluster)“

  • „Ressourcen (im Gesundheitswesen)“

  • „Tests“

jeweils als eigene Ampel auszulegen, ist die Corona-Kommission hergegangen und erklärt zwei übergeordnete Ziele als Ampeln, in welche die Indikatoren einbezogen werden sollen.

Diese zwei Ziele sind: 1) das Verbreitungsrisiko als Gefährdung der öffentlichen Gesundheit, mit dem Ziel der Prävention der SARS-CoV2 Übertragung. 2) das Systemrisiko oder die Belastung des Gesundheitsversorgungssystems mit dem Ziel, von ausreichender Versorgungskapazitäten (insbesondere Betten auf Intensivstationen) sicherzustellen.

Das erste Element der Fehlkonstruktion ist die doppelte Listung der Ressourcen im Gesundheitssystem sowohl als Indikator als auch als übergeordnetes Ziel (Systemrisiko). Dieser Unlogik folgt sogleich eine selbstgebastelte „Ordnungslogik“ (Seite 4 unten) in drei Stufen :

Erste Stufe: Bestimmung der rohen 7-Tagesinzidenz; dies ermöglicht eine grobe Risikoeinschätzung im Hinblick auf die Signalwerte bundesweit, auf Bundeslandebene und auf Bezirksebene.

Zweite Stufe: Bestimmung der risikoadjustierten (normierten) 7-Tagesinzidenz; dies ermöglicht eine angepasste Einschätzung des Risikos anhand fallbasierter Merkmale, die mittels derselben Signalwerte eingestuft werden können.

Dritte Stufe: Bestimmung der Ressourcenauslastung auf Intensivstationen nach festgelegten Auslastungsgrenzwerten. Die auf der 2. Stufe erfolgte Risikoeinschätzung (Farbgebung) wird in der Regel von einer höheren Systemrisikoeinschätzung (Auslastung Intensivstation) überstimmt.

Was ist der Unterschied zwischen der ersten und zweiten Stufe? Die Bewertungen der ersten Stufe („rohe 7-Tagesinzidenz“) kennen wir von den Reisewarnungen: Deutschland (50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner innert 7 Tagen) oder die Schweiz (60 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner innert 14 Tagen, deshalb jetzt Wien). Österreich ist aber gelassener, definiert das lockerer und berücksichtigt auch keinen Rückgang oder keine Steigerung an Fällen gegenüber der Vorperiode, hier die Tabelle aus dem Manual

Diese Gelassenheit äußerte sich seit vielen Wochen nicht nur in der Beschwichtigungsparole „alles unter Kontrolle“, sondern vor allem mit dem Imponiergehabe, in Österreich schon im September die größten Veranstaltungen in Europa zuzulassen. Berlin sieht das anders https://www.berlin.de/corona/lagebericht/

Richtig irritierend und vor allem kompliziert wird es, wenn wir die Adjustierung für den 2. Schritt („risikoadjustierte und normierte 7 Tagesinzidenz“) anschauen. Im Manual steht: „Zentrales Element der Risikoeinschätzung ist die Risikoadjustierung der kumulativen 7-Tagesinzidenz. Dabei kommt es zur Berücksichtigung von fallspezifischen Merkmalen, die mit dem Systemrisiko, wie auch mit dem Verbreitungsrisiko assoziiert sind.“ Soll „Risikoeinschätzung“ eine eigene über-übergeordnete Größe sein? Was passiert da? Jeder Fall wird entlang von vier Adjustierungsschritte sowieso mit einem Korrekturfaktor bewertet.

1) Bei der Altersadjustierung erfolgt eine Gewichtung auf Basis der alters-abhängigen Hospitalisierungs-Wahrscheinlichkeit in österreichischen Intensivstationen. Dementsprechend wird die Zahl der unter 20-jährigen Covid-19 Positiven durch 5 dividiert und die Zahl der über 65-jährigen mit 2,5 multipliziert.

2) bei der Adjustierung nach Quellen-Kategorisierung (Transmissions-basierte Adjustierung) wird ein Fall mit ungeklärter Quelle höher gewichtet, geringste Gewichtung des Falles mit Reiseassoziation.

3) Adjustierung nach Symptomatik: wenn zum Zeitpunkt der Labordiagnose bei Umgebungsuntersuchung ohne Symptome dann wird geringer gewichtet

(dividiert durch 2) und

4) Adjustierung nach Testgeschehen, hier als Ausgangswert einfach der Durchschnitt der Testungen bis Kalenderwoche 32 heran gezogen (= 600/100 000 Einwohner).

Wenn Sie jetzt nach Studium der Daten zum Schluss kommen, das sei deshalb so kompliziert, weil eben höchst professionell von Experten gestaltet, möchte ich daran erinnern, dass eine Ampel immer bloß ein sozialpolitisches Konstrukt bleibt und allein deshalb auch Anforderungen der Verständlichkeit erfüllen muss. So bleibt die „Ampel“ aufgrund der freihändig („in-house“) vergebenen Korrekturfaktoren intransparent und ist auch nicht validiert (zugegeben, diesen Anspruch kann keine Ampel der Welt derzeit erfüllen). Ich hege den Verdacht, dass sich hier Katastrophenmanager ausgetobt haben und der Epidemiologie wenig Raum ließen, mitzureden. Das ist überflüssig wie ein Kropf und lässt an einen kläglich gescheiterten Versuch denken, die Weltmaschine von Franz Gsellmann nachzubauen. Sie glauben es nicht? Schauen sie selber nach!

Weitere Fragen. Dass unter 20-Jährige in diesen Berechnungen kaum zählen, weil ihr Risiko auf der Intensivstation zu landen sehr klein ist, dient welchem Ziel? Derzeit gehen die Infektionen in fast allen Ländern hauptsächlich bei den 20- bis 30-Jährigen in die Höhe. Wer aber im Ernst behaupten will, in Österreich werde kein Überspringen auf ältere Bevölkerungs­gruppen stattfinden, sollte extrem starke Argumente haben.

Möglichst viele Fälle sollten einer geklärten Quelle zugeordnet werden können, dieser Anteil sollte über 80 Prozent liegen. Um das zu erfahren, müssen Sie aber zuerst in das Dickicht der Daten der Corona-Ampel eintauchen, wo Sie dann mit Verwunderung feststellen, dass dieser Anteil bei den beiden Hot Spots, Innsbruck und Wien, jeweils nur knapp über 50% liegt. Dort liegen also schon unkontrollierte Verbreitung vor oder am Anschlag arbeitende Gesundheitsämter. Diesen Eindruck vermittelt auch Josef Votzi mit seiner Krankengeschichte im Trend.

Bei der Differenzierung nach Symptomen zweifle ich stark daran, dass alle asymptomatisch identifizierten Positiven vor ihrer Diagnose in verordneter Quarantäne waren. Bei der Zahl der Testungen wird der Substandard der wenigen Tests als neuer Standard herangezogen. Die Positvitätsrate zur Beurteilung ist quasi verschwunden (man findet sie zwar in den Daten, am Rand fast versteckt, aber wozu wird sie herangezogen?) und dass man endlich die Positivitätsrate der unterschiedlichen Altersgruppen analysieren würde, ist überhaupt kein Thema. Dabei wäre es interessant zu wissen, wie diese Rate in verschiedenen Altersstufen ausschaut, weil wir erst so beurteilen können, ob alle gleich gut getestet werden.

Amüsiert hat mich die Kritik mancher Medien, die der Ampel ankreiden, dass sie am Donnerstag auf die Daten bis Dienstag Mitternacht zurückgreift und Daten vom Mittwoch außer acht lässt, nicht begreifend, dass die wichtigsten Daten der zweiten Stufe bereits am Sonntag zuvor enden. Lernen sie New York Times!, möchte ich ihnen im Kreisky’schen Sinn zurufen.

Schockiert war ich von den Signalwerten zum Systemrisiko (Auslastung Intensivstationen). „Die Auslastung beträgt im Regelbetrieb unter 90%, der höchste jemals gemessene Wert im Epidemie Verlauf in der österreichischen Bevölkerung wurde in Tirol mit einer Auslastung von 35% gemessen.“ Wieso ist dann erst bei >33% Auslastung rot? Will man wieder die Situation von April in Tirol? Damals wurden die chirurgischen Eingriffe zurück gefahren, das gesamte Bundesland in Quarantäne, es gab also kaum Auto-, Sport oder Bergunfälle. Ist man also wieder bereit, die medizinische Versorgung massiv zu kürzen, damit etwas funktioniert?

Als ob das nicht schon ausreichen würde: der Nenner an diesem Anteil bleibt im Dunkeln, aber nach Rückrechnung  sind das 2545 Intensivbetten (28 Betten sind als 1,1 % Auslastung angegeben). Anfang April wurde die Kapazität zwischen 1040 und 1260 angegeben, jetzt (Sonntag) im Dashboard mit 675 Intensivbetten . Eine österreichweite Initiative zur standardisierten Erfassung von Kapazität von Intensivbetten wurde im Frühjahr abgelehnt, jetzt werden diese Daten von den Bundesländern übernommen.


Dieser Kommentar zur Ampel beschäftigte sich nur mit der Beurteilung der „Risikoeinschätzung“ durch die Ampel und nicht mit den „Maßnahmen“, die mit den unterschiedlichen Risiken verbunden sind. Für die Farbe Orange und Rot gibt es überdies noch gar keine definierten Maßnahmen, ausgenommen solche für den Schulbereich. Abweichend von der Einfärbung durch die Corona-Kommission hätte ich Innsbruck und Wien als orange eingestuft, das gesamte Bundesland Vorarlberg als gelb. Bludenz und Dornbirn isoliert zu sehen, hat wegen der Vernetzung Vorarlbergs durch Pendler und Freizeitaktive keinen Sinn. Den Bezirk Freistadt, das südöstlichen Niederösterreich und das nördliche Burgenland kann ich nicht beurteilen, da fehlt mir das Wissen lokaler Faktoren. Die Versäumnisse der letzten Wochen fallen der Corona-Kommission zusätzlich, auch unverschuldet, auf den Kopf.

Wichtig bleibt die Erkenntnis, dass man mit minimalem wirtschaftlichem und menschlichem Schaden nur durch eine Epidemie kommt, wenn man frühzeitig handelt. Und Vertrauen schafft.«

Weiterhin: keep distance, wash hands, stay human!

Ihr Armin Thurnher

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